16.04.2020
Cinema Moralia – Folge 214

Der Aufschub

El sueño de la razón produce monstruos»
Der Schlaf der Vernunft bringt Ungeheuer hervor
(Zeichnung: Francisco de Goya)

Dämonen im Corona-»Drôle de Guerre«: Aber Vorsicht vor falschen Hoffnungen – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 214. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Heute aber finden wir uns einer angeblich jungen Gene­ra­tion gegenüber, die in jeder ihrer Regungen uner­träg­lich viel erwach­sener ist, als je die Eltern es waren; die entsagt hat, schon ehe es zum Konflikt überhaupt kam, und daraus ihre Macht zieht, verbissen autoritär und uner­schüt­ter­lich.«
Adorno, »Minima Moralia«

Das derzeit übliche Gerede, das leider auch vor allem von den üblichen Verdäch­tigen voran­ge­trieben und prote­giert wird, das Gerede, nach dem »der Tag danach«, das Leben »nach Corona« kein Zurück zum Alten sein werde, ist keine gute Nachricht. Jeden­falls bestimmt nicht für das Kino.

Noch froh­lo­cken zu viele, wie es bei anderer Gele­gen­heit schon mal hieß, »mit klamm­heim­li­cher Freude«, dass es jetzt mit »dem Kapi­ta­lismus« zuende gehe, dass »das Klima« besser werde, und die Menschen geläutert, und überhaupt alles sich wenden werde. Sie haben ein schlechtes Gedächtnis.
Wer es kaum erwarten kann, dass diese »neue Norma­lität« die alte ablöst, und deshalb den merk­wür­digen Zwischen­zu­stand, in dem wir uns befinden, gern noch verlän­gert haben möchte, damit auch sicher das böse Alte tot sei, den möchte man warnen. Das Neue könnte schreck­lich sein.

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Worauf wir leider im Augen­blick hoffen müssen, ist, dass es mit Kino und Film­för­de­rung und dem ganzen Schla­massel, das bei uns Film­kultur genannt wird, wenigs­tens so weiter­geht, wie es bisher gegangen ist. Auch das Kino gehört zu jenen Risi­ko­gruppen, von denen jetzt gern die Rede ist.

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An die unheim­li­chen Home-Offices denkend, in denen sich jetzt viele »Medi­en­schaf­fende« mit tech­ni­schen Problemen herum­schlagen, ihre zu wenige Arbeit erledigen und im Übrigen den Früh­lings­an­fang genießen, frage ich mich, was das wirklich für ein anderer Zustand ist? Kann man sich darüber freuen? Mir scheint das derzeit viel gelobte, weil Arbeit­ge­ber­kosten sparende Home-Office und die erzwun­gene Auszeit ganz und gar nicht einem Sabba­tical erwach­sener Menschen, der souver­änen Entschei­dung zur mentalen Pausen­taste zu entspre­chen, als eher einer abhän­gigen, quasi-embryo­nalen Unreife – die dementspre­chend auch von Mutti im Kanz­leramt verordnet und irgend­wann wieder aufge­hoben wird. Wie Stuben­ar­rest halt.

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Von Sabba­tical und Pausen­taste kann sowieso die Rede nicht sein. Corona frisst uns auf. Vor allem unseren Geist. Es besetzt alles. Kein Gespräch, kein Gedanke, kein Text, auch dieser nicht, schon gar keine Radio- oder Fern­seh­sen­dung, die Corona-frei ist.
Das ist wahr­schein­lich auch gut so, muss womöglich so sein, schon um das alles zu bewäl­tigen und zu verar­beiten. Denn diese Pandemie – mehr Zustand, als Ereignis glaube ich –, egal wie man sie nun bewertet, und welche Reak­tionen man richtig und falsch findet, diese Pandemie hält uns gefangen. Wir sind von Corona besessen, wie von einem Dämon, der sich nicht abschüt­teln lässt.
So werden wir alle zu Medi­en­jun­kies, und die mental Früh­pen­sio­nierten in den Sendern froh­lo­cken über Dinge wie die »Wieder­kehr des Linearen«, wie sie die Tatsache nennen, dass die Tages­schau wieder öfter in Echtzeit gesehen wird, und von viel mehr Leuten als in den letzten Jahren.

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Ist es also eine gute Nachricht, dass das alte Fernsehen zurück­kommt? Und dass wir dafür eine Pandemie brauchen? Und hat der Befund, dass im Moment einer globalen Kata­strophe mehr Leute vor der Glotze hängen – wohl­ge­merkt: bei gleich­zeitig komplettem Lockdown der Öffent­lich­keit, der Kinos, der Fußball­sta­dien und Public-Viewing-Bars und aller Gastro­nomie – irgend­etwas mit diesem Fernsehen zu tun? Mit seiner Qualität zwischen dem guten »Unter Leuten«, dem weniger guten »Unsere wunder­baren Jahre« und dem völlig verun­glückten »Der Über­läufer«?
Ich glaube nicht.

Und das ist die gute Nachricht: Wer mit solchem Fernsehen das Ende der Welt überleben muss, und sich vom klebenden Sessel löst, und den Weg zur Tür schafft, der braucht danach das Kino.

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Aber welches Kino wird man dann vorfinden? Jeder Tag ist hier entschei­dend. Jeder Tag, den der soziale wie wirt­schaft­liche Lockdown länger dauert, schadet dem Kino. Nicht nur weil dieses sowieso nicht zum Ersten gehört, was dann wieder aufge­schlossen werden wird.
Sondern weil Kino in unserer generell film­feind­li­chen deutschen Kultur nicht Lebens­mittel ist, sondern Luxusgut. Nicht system­re­le­vant, sondern nicht notwendig.

Fälsch­li­cher­weise, denn die im Shutdown zerstörten Gemüter und depra­vierten Seelen sind zu flicken, auch die Herzen und Hirne brauchen Balsam und Adrenalin. Aber in Deutsch­land denkt man den Mensch lieber körper­lich und von der Arbeits­fähig­keit her (– so wie ein besseres Klima gern mit dem »Zurück zur Natur!« verbunden wird, nicht mit dem »Vorsprung durch Technik«). Da hat das Kino nichts zu suchen.

Also brauchen wir Geld, um das Kino zu erhalten. Viel Geld. Und jetzt kann man sich wappnen für die harten Vertei­lungs­dis­kus­sionen, die uns dann bevor­stehen werden.

Jede Woche, die der Shutdown andauert, kostet in Deutsch­land (je nach Angaben) zwischen 42 und 70 Milli­arden Euro.
Dieses Geld wird der Kultur fehlen. Dem Kino.

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In schlechten Momenten kommt man auf melan­cho­li­sche Gedanken: »Der Traum der Vernunft gebiert Ungheuer«. So wird der berühmte Stich aus Goyas Capricho »El sueño de la razón produce monstruos« im roman­ti­schen Deutsch­land gern übersetzt. Hispa­nisten wissen, dass die Pointe darin liegt, dass »sueño« als »Traum« wie »Schlaf« über­setzbar und die Zeile also in beide Rich­tungen lesbar ist.

Darum Vorsicht vor falschen Hoff­nungen: Die vermeint­li­chen Chancen der Pandemie könnten auch den Untergang besiegeln, die sozialen und kultu­rellen Opfer der Post-Corona-Zeit also die Opfer der Seuche über­treffen.

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Martia­li­sche Rhetorik scheint unan­ge­bracht. Aber wenn es tatsäch­lich ein Krieg sein sollte, in dem wir uns gerade, wie der fran­zö­si­sche Präsident sagte, befinden, dann ist es wohl am ehesten eine »Drôle de Guerre«, wie er vor genau 80 Jahren zwischen Nazi­deutsch­land und der fran­zö­si­schen Dritten Republik herrschte, ein seltsamer Krieg, der vor allem im so planlosen, wie ange­spannten Herum­sitzen bestand.

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»Rasenbank« heißt ein kleiner Text von Adorno, in dem er auf das Gene­ra­tio­nen­ver­hältnis rekur­riert. Die Lektüre lohnt auch im Hinblick auf die derzei­tige Benennung von Risi­ko­gruppen.
»In der antago­nis­ti­schen Gesell­schaft ist auch das Gene­ra­ti­ons­ver­hältnis eines von Konkur­renz, hinter der die nackte Gewalt steht«, heißt es da. »Die Gewalt, die ihnen [den Alten] angetan wird, macht die Gewalt vergessen, die sie übten.«

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In die Praxis über­tragen erlebt man das gerade auch während des Ausnah­me­zu­stands aller­orten. Noch vor Beginn von Corona gefiel sich das jetzt wieder gern als »system­re­le­vant« gelobte ZDF in der Rolle des Henkers und Kino­ab­wick­lers.

Ein in der Form noch fast allzu höflich gehal­tener offener Brief von 13 Verbänden an den »Sehr geehrten Herrn Dr. Bellut«, den Inten­danten des ZDF, beklagt, dass 3sat aus heiterem Himmel die seit 1999 bestehende Medi­en­part­ner­schaft mit den Inter­na­tio­nalen Kurz­film­tagen Ober­hausen aufgekün­digt hat.
Zur Begrün­dung heißt es im Kündi­gungs­brief: »Da wir in diesem Genre«, gemeint ist kein Genre sondern die Gattung Kurzfilm, »schon seit geraumer Zeit nicht mehr produk­tio­nell tätig sind, jenseits der Ober­hausen-Filme keinerlei Ankäufe in diesem Segment tätigen, und auch nicht mehr über die entspre­chenden Sende­flächen verfügen, sehen wir uns leider zu diesem Schritt veran­lasst.«

Begrün­dungs­pflichtig wäre aber zunächst einmal, warum ein öffent­lich-recht­li­cher Sender ganze Filmtypen links liegen lässt?

Gegen­stand der Medi­en­part­ner­schaft waren der Ankauf von Kurz­filmen für das 3sat-Programm sowie der 3sat-Förder­preis im Deutschen Wett­be­werb der Kurz­film­tage, der zusätz­lich mit einer Ankaufs­op­tion versehen war. Die Kurz­film­sen­dung mit Filmen aus den Programmen der Kurz­film­tage stellte schon seit geraumer Zeit den letzten Sende­platz für Kurzfilme bei 3sat überhaupt dar. Da 3sat zugleich auch seinen seit über 20 Jahren verlie­henen Förder­preis aufgibt, wird mit dieser Entschei­dung der Kurzfilm bei 3sat restlos abge­wi­ckelt.

Damit verletzt das ZDF seinen Programm­auf­trag, zu dem die Förderung von neuen filmi­schen Hand­schriften und die Ansprache eines jüngeren Publikums gehören.

Unter­zeichnet wurde der Brief an Bellut von der Arbeits­ge­mein­schaft Anima­ti­ons­film, Arbeits­ge­mein­schaft Doku­men­tar­film, Arbeits­ge­mein­schaft Kurzfilm, Bundes­ver­band kommunale Film­ar­beit (BkF), Bundes­ver­band Regie (BVR), Crew United, DOKOMOTIVE Film­kol­lektiv, Haupt­ver­band Cine­philie (HvC), LaDOC – Doku­men­tar­film-Frauen-Netzwerk Köln, Produ­zen­ten­ver­band, Pro Short, Verband der deutschen Film­kritik (VDFK), Verbund der deutschen Film­hoch­schul­stu­die­renden (VDDFS).

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Zum ersten Mal seit der Absage durch die »Drôle de Guerre« könnte auch das Festival von Cannes in diesem Jahr nicht statt­finden.
Aber anders als etwa das ZDF hält man dort am Kultur­auf­trag fest. Und es scheint mir, dass man es auch Cannes wie Venedig hoch anrechnen muss, dass man bei beiden Festivals früh klar gemacht hat: Gestreamt wird nicht. Festivals gehören an einen Ort und ins Kino, nicht ins Nirwana des Cyber­space.

Gestern gab man in Cannes bekannt, dass die ursprüng­lich ange­dachte Verlegung in den Zeitraum Juni/Juli nun »keine Option mehr« ist.

Und nach der Ankü­di­gung von Präsident Macron, die ein Mitsommar-Cannes unmöglich machen, wurden die Nebensek­tionen von Cannes – Quinzaine, Semaine, Acid – sofort definitiv gecancelt. Dommage!

Wie soll Cannes 2020 aussehen, ohne diese Nebensek­tionen, die immer sehr gute Filme zeigten, im Fall der Quinzaine dem Wett­be­werb immer mal wieder ernst­hafte Konkur­renz machen konnte, und die bei der begrenzten Anzahl Filme im Gesamt­fes­tival (nur maximal 120 gegenüber 360-400 zuletzt bei der Berlinale) eine viel zentra­lere Rolle spielen, als etwa in Berlin das Forum?

Und dennoch! Zugleich mit der Fest­stel­lung, es sei klarer­weise schwierig, das Festival in seiner ursprüng­li­chen Form zu veran­stalten, hält man daran fest, dass Cannes als »eine wesent­liche Säule der Film­in­dus­trie alle Möglich­keiten erkunden muss, um Cannes 2020 wirklich werden zu lassen, auf die eine oder die andere Weise.«

Und weiter: »Wenn die Gesund­heits­krise vorbei ist, müssen wir die Bedeutung des Kinos unter Beweis stellen, und die Rolle, die seine Arbeit, seine Künstler, Profis, Film-Theater und sein Publikum in unserem Leben spielen.«

Es ist klar: Kino ist system­re­le­vant. Wenn wir es wollen. Wenn wir dafür kämpfen.

(to be continued)