30.04.2015
Kinos in München – Rio Filmpalast

Cannes zu München

Rio-Filmpalast
Der Rio Filmpalast in einem typischen Münchner Wohnhaus der 60er Jahre


Mit freund­li­cher Unter­s­tüt­zung durch das Kultur­re­ferat München

Filme werden fürs Kino gemacht, hieß es mal in einer Kampagne. Weil dies im Zeitalter von DVD und VoD mehr denn je keine Selbst­ver­s­tänd­lich­keit mehr ist, stellen wir hier besondere Kinos in München vor, die unbedingt einen Besuch wert sind.

Ein Besuch im Rio Filmpalast am Rosenheimer Platz

Von Dunja Bialas & Natascha Gerold

Es ist das einzige Kino in Haid­hausen: der Rio-Film­pa­last am Rosen­heimer Platz. Es reiht sich ein in eine Geschäfts­zeile mit Sparkasse, Apotheke, Metzgerei und Bäckerei und zeigt sich so seit 1960 als unent­behr­li­ches Angebot für die Münch­ne­rinnen und Münchner. Mit anderen Worten: Film ist in Haid­hausen genauso wichtig wie das Geld, die Breze und der Leberkäs.

Von der Molkerei zum Kino

Kein Wunder, denn das Rio wird seit Beginn seines Bestehens von einer Familie geführt, die schon immer mit den lebens­wich­tigen Grund­nah­rungs­mit­teln zu tun hat: der Großvater, der die Idee hatte, in München ein Kino zu betreiben, war ursprüng­lich Molker und Käser gewesen. Da in den 50er Jahren die großen Molke­reien die kleinen schluckten, sattelte er um, verließ seinen Hof und ging nach Aulendorf bei Ravens­burg, wo er ein Foto­ge­schäft übernahm, Sohn und Tochter stiegen mit ein. Den neuen Medien zugewandt, erfuhr er von einem Kino, das in Nürnberg über­nommen werden konnte, und schickte seine andere Tochter dorthin: »Da gehst du hin und machst jetzt Kino!«

Elisabeth Kuonen-Reich, die Enkelin dieses resoluten Groß­va­ters, lacht, während sie uns erzählt, wie ihre Familie zum Kino kam. Sie ist heute Betrei­berin des Rio Film­pa­last, den sie wiederum 1998 von ihren Eltern über­nommen hat. Wie sie viel­leicht heute eine Molkerei betreiben würde, hätte ihr Großvater damals nicht den entschei­denden Schritt gemacht, folgt sie damit der Fami­li­en­tra­di­tion, die jedoch eine ganz und gar matriachale Linie ist. Denn auch wenn der Großvater der Familie vorgab, was zu tun sei, wurde der spätere Kinoweg von der mütter­li­chen Seite beschritten, und die Männer folgten.

Der Vater von Elisabeth Kuonen-Reich war Last­wa­gen­fahrer für ein Ziegel­werk gewesen, wollte aber »in die große weite Welt hinaus«, wie die Tochter erzählt, und inter­es­sierte sich folglich für das Kino in Nürnberg, das immerhin mit den Filmen den Horizont auf die ganze Welt öffnete. Er machte den Vorführ­schein, den damals alle Vorführer brauchten, denn sie hantierten noch mit dem überaus leicht entzünd­li­chen Nitro­film­ma­te­rial. Kino­ma­chen war damals noch eine gefähr­liche Ange­le­gen­heit und ein großes Abenteuer.

Drei Jahre führten die Reichs das Kino in Nürnberg, als wiederum der Großvater von einem geplanten neuem Kino in München erfuhr, dem Wunsch­pro­jekt eines Haus­be­sit­zers: Er stieß auf eine Zeitungs­an­nonce, in der jemand einen Partner suchte, um mit ihm ein Kino am Rosen­heimer Platz zu bauen. Dies zu einem Zeitpunkt, als bereits das große Kinosterben einge­setzt hatte. Das Fernsehen sendete seine ersten Straßen­feger, und neue Frei­zeit­be­schäf­ti­gungen, die mit neuem Wohlstand kamen, brachten die Menschen nicht mehr so zahlreich in die Kinosäle, wie es noch in den frühen Fünf­zi­ger­jahren gewesen war. Vierzehn Kinos gab es einmal in Haid­hausen, und es schloss eins nach dem anderen, bis nur noch das »Oli«, wie die Ostbahnhof-Licht­spiele genannt wurden, übrig geblieben war, das vergeb­lich gegen die Kino-Neueröff­nung am Rosen­heimer Platz kämpfte und noch vier weitere Jahre die größte Konkur­renz für das neue Kino mit den drei Buch­staben sein sollte.

Trotz dieser ersten Krisen­zeit des Kinos verkauften die Großel­tern, diesmal der väter­li­chen Seite, ihren Bauernhof und ermög­lichten Bruno und Angelika Reich, sich als Partner des Münchner Bauherrs eine Kino­exis­tenz aufzu­bauen. »Ich stehe in der Aufgabe, hier auch noch das Fami­li­en­erbe weiter zu tragen!«, sagt Elisabeth Kuonen-Reich und lacht dabei. Großvater und Vater zahlten dann bald den Partner aus, der sich als regel­rechter Groß­stadthai offen­barte, und die Familie Reich – Großvater, Tochter und Schwie­ger­sohn gemeinsam – eröffnete das neu gebaute Kino am Rosen­heimer Platz, den »Rio Palast«.

Noch heute prangt dieser ganz frühe Name in Origi­nal­leucht­schrift über dem Kino­ein­gang. Später brachte Bruno Reich, um allen, die auf der großen Rosen­heimer Straße in Richtung Stadt fuhren, vom Kino zu erzählen, noch einen Hinweis auf dem Dach des sechs­stö­ckigen Gebäudes an. Das kleine Schild mit dem Wort »Kino«, das früher noch leuchtete, ist noch heute ein Kleinod im Stadtbild Münchens.

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Thront hoch über der Stadt: das Kino-Schild

Wir Kino­kinder

Die Familie zog im Haus des Kinos ein. Ihr erstes Kind, Elisabeth, kam kaum ein Jahr nach der Kinoeröff­nung zur Welt, drei weitere Töchter folgten, und alle wurden im Kino groß. Man war jeden Tag im Kino, es war ganz normal, dass man mithalf, Eis verkaufte oder Karten abriss, »das war gar keine Frage«, erinnert sich die Älteste der Schwes­tern, die den Fami­li­en­be­trieb übernahm, ganz wie früher auf dem Land der Hof vom ältesten Sohn über­nommen wurde.

»Wir waren einfach Kino­kinder.« Dem Kino haftete früher noch der Schau­stel­ler­ge­ruch an, und sie wurden als Kino­kinder immer ein wenig schräg von ihren Klas­sen­ka­me­raden angeguckt. Noch dazu war Haid­hausen ein Glas­scher­ben­viertel, mit Arbeitern vom Ostbahnhof und dem Pfanni-Gelände. Die vier Kino­kinder waren also keine Töchter aus gutem Hause, und auch aus keiner feinen Gegend, erinnert sich Elisabeth Kuonen-Reich, die sehr elegant gekleidet in dem frisch heraus­ge­putzten Rio-Filmcafé sitzt. Heute verbindet man mit dem Viertel Haid­hausen generell eher teure Mieten, Bio-Läden und Bildungs­bür­gertum. Keine Frage: die Zeiten haben sich geändert. Und wenn in diesem Augen­blick ein Stammgast des Cafés vorbei­kommt und auf dem Platz vor dem Kino ein Wein­schorle trinken möchte, weiß man, dass irgendwie doch vieles noch beim Alten geblieben ist. Das Café war früher einmal eine »Würsch­tel­bude«, erzählt Elisabeth Kuonen-Reich weiter, »hier kam man zum Bier­trinken her«, und es roch immer stark nach Schaschlick. In den 70ern wurde dann aus der Würsch­tel­bude ein Café, und Elisabeth Kuonen-Reich, die Hotel­fach­frau gelernt hatte, hatte die Idee, das Café zum Kino dazu­zu­nehmen, als sich die Gele­gen­heit bot. Das war 1995. Seitdem haben sie es und damit zusätz­liche Arbeit, mit eigenem Wirt­schafts­be­trieb. Leben kann man nicht davon, aber es ist für das Kino wichtig.

Das Gastgeber-Kino

Elisabeth Kuonen-Reich spricht, wenn sie von den Kino­be­su­chern erzählt, immer respekt­voll von ihren »Gästen«. Das fällt auf und ist für Kino­be­treiber, die gerne mal wie Taxi­fahrer herum­gran­teln, außer­ge­wöhn­lich. Das kann vom Hotelfach kommen, mehr aber zeigt es die Haltung, mit der man im Rio Fimpalast empfangen wird: der Aufent­halt wird einem so angenehm wie möglich gestaltet. So hält Elisabeth Kuonen-Reich das Café vor allem für ihre Kinogäste, die hier vor oder nach dem Film etwas trinken oder einen selbst­ge­ba­ckenen Kuchen essen können. Selbst­ge­ba­cken von der Mutter der Assis­tentin der Geschäfts­lei­tung, Heidi Aron, die gerade die Kasse für den Tag vorbe­reitet.

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Nur Barzah­lung möglich

Das Rio zu machen hieß in der Anfangs­zeit, einen Saal mit 700 Plätzen zu bespielen, denn so groß war gebaut worden, große Kinos waren üblich. Damals gab es auch noch eine Platz­an­wei­serin, die den Besuchern im Dunkeln den Weg durch den großen Saal wies.

Das Programm, mit dem die Reichs begannen, war für die damalige Zeit außer­ge­wöhn­lich. Jeden Sonntag wurden Filme für die türki­schen Gast­ar­beiter gezeigt, die in Scharen aus der ganzen Stadt kamen und den Saal auch mal über­be­legten. Noch heute kommen Türkinnen und Türken zu Elisabeth Kuonen-Reich und fragen nach dem Vater, der oft den Saal­ein­lass machte. Die Gast­freund­schaft, mit der die Reichs die türki­schen Gast­ar­beiter mit Filmen empfingen, setzte sich in echten Freund­schaften fort. Elisabeth Kuonen-Reich erinnert sich, wie sie in der Türkei zu einem Gegen­be­such bei einer Familie fuhren und ihnen dort »der rote Teppich« ausgelegt wurde.

Heute rollt das Rio den roten Teppich aus: Bei seinen zahl­rei­chen Veran­stal­tungen für das Filmfest oder Doku­men­tar­film­fes­tival München, die im Rio zu Gast sind, bei Film­pre­mieren, während der Film­kunst­wo­chen und für den Besuch von Regis­seuren wie Caroline Link, Edgar Reitz, Dominik Graf, Marcus H. Rosen­müller oder Wolf Gaudlitz. Dann verwan­delt sich der Rosen­heimer Platz auch schon mal in ein Cannes zu München.

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Eröffnung der Film­kunst­wo­chen

Filmkunst für alle

Früher wäre dies undenkbar gewesen. Das Rio war als Vorstadt­kino bis zum histo­ri­schen Kartell­ur­teil, das unter der Feder­füh­rung von Cinema-Betreiber Dieter Buchwald zusammen mit den Wilhelms vom Studio Solln erstritten wurde, von Premieren ausge­schlossen. Erst­auf­füh­rungen wurden nur Kinos in der Innen­stadt zuge­spro­chen, die sich wie Monarchen an den gut laufenden Filmen erfreuten, die »Vorstadt«-Kinos bekamen die neuen Filme oft erst sechs oder acht Wochen nach Start. Diese unge­rechte Regelung hielt sich immerhin bis 1992.

Es wurde zunehmend schwierig, den großen Saal zu bespielen. 1977 wurde umgebaut. Die Loge, die es gab, wich einem zweiten Kinosaal, der sich über den großen Kinosaal darü­ber­legt, ohne jedoch einer dieser kleinen Schuh­schach­teln zu werden, wie sie in den 80er Jahren für die Vorläufer der Multi­plexe Mode wurden. Heute umfasst der große Saal nach einem zweiten Umbau 357 Sitz­plätze, in den kleinen passen 108 Leute, bei einer sechs Meter breiten Leinwand. Das ist komfor­tabel.

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Die Arthouse-Popcorn-Maschine

Das Rio-Programm besteht heute vor allem aus Filmen, die zwar von hoher Qualität, aber nicht zu anspruchs­voll sind, mit einem abwechs­lungs­rei­chen Programm. Bisweilen laufen im Rio über zehn verschie­dene Filme in den beiden Sälen, ein breites Spektrum an deutschen oder europäi­schen Filmen in der Synchron­fas­sung, Kinder­filme, Doku­men­tar­filme, Matineen und eine Spät­vor­stel­lung Samstag Nacht inklusive.

Gezeigt wird Filmkunst, die auch die gerne sehen wollen, die nicht ausge­spro­chene Cineasten sind. Also kein reines Arthouse, sondern gerne Crossover, mit populären Elementen.
Damit trifft das Rio den Nerv des Münchner Publikums, das aufgrund der guten Lage direkt an der S-Bahn-Station aus der ganzen Stadt angereist kommt und dem Rio auch deshalb den Vorzug gibt, da es die familiäre Atmo­sphäre schätzt. Die Alters­struktur hat sich leicht nach oben verschoben. Früher waren die Besucher zwischen 30 und 60, »heute ist unser Publikum zwischen 30 und 90«, sagt Elisabeth Kuonen-Reich augen­zwin­kernd. Die Best Agers und nicht mehr ganz Party-Wütigen schätzen es, hier tiefen­ent­spannt Filme zu gucken, sich vorher im Rio-Café zu treffen und nach dem Film die Bars von Haid­hausen zu entdecken: Wir empfehlen das Nomiya.

Literatur zur Geschichte der Münchner Kinos:

  • »Für ein Zehnerl ins Paradies – Münchner Kino­ge­schichte 1896 bis 1945«, hg. von Monika Lerch-Stumpf mit HFF München, Dölling und Galitz Verlag, 247 Seiten, 59 Euro
  • »Neue Paradiese für Kinosüch­tige – Münchner Kino­ge­schichte 1945 bis 2007«, hg. von Monika Lerch-Stumpf mit HFF München, Dölling und Galitz Verlag, 368 Seiten, 42 Euro