16.04.2015
Cinema Moralia – Folge 107

Der Auszug der Filme­ma­cher

Istanbul Festival 2015
Alle Filme oder keine! Ein Festival verliert seine Filme

Kollateralschaden: Ein Fall von staatlicher Zensur trifft das renommierte Filmfestival von Istanbul – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 107. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Wir konnten nicht anders handeln, und mussten uns mit den Filme­ma­chern soli­da­risch zeigen. Aber jetzt ist es wichtig, dass wir auch das Film­fes­tival unter­s­tützen.« Wieland Speck der Programm­leiter der Panorama-Sektion der Berlinale, blickt unglück­lich. Er ist zum ersten Mal beim Inter­na­tio­nalen Film­fes­tival von Istanbul, als Mitglied in der Jury des türki­schen Spiel­film­wett­be­werbs. »Es war eine sehr angenehme Jury, mit denen hätte ich mich rasend gern über Filme ausge­tauscht. Aber jetzt ist Politik angesagt.« Denn soeben hatte Speck gemeinsam mit seinen Jury­kol­legen bei einer Pres­se­kon­fe­renz vor rund 200 Jour­na­listen erklärt, die Jury werde in diesem Jahr keine Preise vergeben, genau wie die Jury des inter­na­tio­nalen Wett­be­werbs. Schon am Tag zuvor war der dritte Wett­be­werb in dem Doku­men­tar­filme konkur­rierten, de facto abge­bro­chen worden, weil sämtliche Filme­ma­cher ihre Werke aus dem Festival zurück­ge­zogen hatten.

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Der Grund für all dies ist ein Fall von Zensur, wie er auch in der staat­liche Gängelei und poli­ti­sche Eingriffe gewohnten Kultur­szene der Türkei nicht gerade beispiellos, aber doch eher selten ist. Am Sonntag teilte das Kultur­mi­nis­te­rium in Ankara dem Festival mit, einer der Beiträge des Doku­men­tar­film­wett­be­werbs, der Film Bakur, der von zwei kurdi­schen Filme­ma­cher gedreht wurde und eine Art Innen­an­sicht der verbo­tenen kurdi­schen Arbei­ter­partei und Terror­or­ga­ni­sa­tion PKK bieten soll, dürfe nicht gezeigt werden, denn – so die offi­zi­elle Begrün­dung – dem Filme fehle die Freigabe der Behörde. Offen­sicht­lich ein Fall von Willkür: »In der Vergan­gen­heit liefen bei uns immer wieder Filme, die noch nicht frei­ge­geben waren«, sagt Azize Tan, die seit 2007 Direk­torin des wich­tigsten und renom­mier­testen türki­schen Film­fes­ti­vals ist. »Aber wenn wir den Film doch gezeigt hätten, drohen uns hohe Geld­strafen oder ein Poli­zei­ein­satz. Das können und wollen wir uns nicht leisten.«
Aus Protest gegen diese Maßnahme der Regierung haben diverse türkische Produ­zenten und Regis­seure ihre Filme aus dem Festival zurück­ge­zogen. Einzelne haben auch ihre Teilnahme ganz abgesagt – aber die meisten bleiben: »Das Festival leidet jetzt unter dem Geschehen. Wir müssen aufpassen, dass wir diese Kolla­te­ral­schäden in Grenzen halten. Denn das Festival war für meine Gene­ra­tion ein ungemein wichtiger Ort; hier haben wir unsere cinephile Erziehung erhalten«, sagte etwa der türkische Regisseur Zeki Demir­kubuz (geb 1964), der Präsident der natio­nalen Jury.

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»Wir mussten etwas tun«, vertei­digt Emin Alper, der 2012 mit seinem Debüt Beyond the Hills im Berlinale-Forum den Caligari-Preis gewonnen hatte, seine Unter­schrift unter eine Reso­lu­tion in der über achtzig türkische Film­schaf­fende gegen das Kultur­mi­nis­te­rium protes­tieren, der sie »Zensur« vorwerfen.

Direk­torin Tan bleibt gelassen und unter­s­tützt das Anliegen der Regis­seure: »Ich hätte mir gewünscht, man hätte die Filme nur aus dem Wett­be­werb zurück­ge­zogen und nicht gleich ganz aus dem Festival. Aber ich kann die Wut verstehen. Es muss sich bei uns etwas ändern – die Gesetze sind anachro­nis­tisch. Jetzt muss die türkische Filmszene an einem Strang ziehen.« Den Film würde sie wieder zeigen: »Ich verstehe das Minis­te­rium nicht. Der Film ist keine Propa­ganda – und immerhin führt die Regierung gerade Verhand­lungen mit der PKK.«
Tan fordert nun aber auch Soli­da­rität mit dem Festival. »Wir haben die Regis­seure immer beschützt. Jetzt brauchen wir Hilfe.«
Die Ereig­nisse der letzten Tage und ihre poli­ti­schen wie ökono­mi­schen Folgen stellen zwar nicht gleich die Existenz des Festivals infrage, sie kommen aber zu einem ungüns­tigen Zeitpunkt: In den letzten Jahren wurden – nicht zuletzt als Folge des durch die neoli­be­rale Regierung ausgelösten Immo­bi­li­en­boom – viele der alten Kinos im Herz des Istan­buler Beyoglu-Viertels geschlossen. Weil die Kinos weniger und die Säle kleiner werden, schrumpfen auch die Einnahmen und damit Möglich­keiten des Festivals.

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Darum sehen nicht alle in Istanbul die Dinge so wie ein Großteil der Filme­ma­cher. »Ich finde es sehr falsch, dass die Filme­ma­cher von 'Boykott' sprechen.« sagt der Film­kri­tiker Engin Ertan. »Denn das Festival sollte nicht boykot­tiert werden.«
Und sein Kollege Fatih Özguven, der an der Univer­sität von Istanbul Kultur­wis­sen­schaften lehrt, vermutet, dass die Filmszene gerade in die von der Regierung gebaute Falle tappt: »Jetzt sind es in den Augen der Öffent­lich­keit wieder die Kurden, die Ärger machen.« Das sei genau das Ziel der isla­mis­ti­schen AKP-Regierung. Vor den Parla­ments­wahlen im Juli wolle man die starke Kurden­partei schwächen. »Man hätte das Festival besser als Plattform genutzt, um die wahren Verhält­nisse darzu­legen, die Schul­digen zu benennen«, so Özguven, »aber dieser Aktio­nismus ist ein Wesenszug, der für unsere Gesell­schaft sehr typisch ist. Man will das 'stärkste' Statement abgeben und verliert deswegen jedes Maß. Hinzu kommt dass im Zeitalter von Twitter alle etwas übereilt reagieren. Und irgend­wann ist dann das Festival kaputt, und die jetzigen Protes­tierer sind die ersten, die darüber jammern werden.«

(to be continued)