08.05.2009
24. Dokumentarfilmfestival München 2009

Das Dok-Fest ist eröffnet

Agnes V.
Agnès Varda genießt den Ausblick

Realität, Erin­ne­rungen, 2×Japan und der Rest der Welt...

Ein Streifzug durch das Programm

Während das Angebot an Doku­men­tar­filmen im normalen Kino­pro­gramm konti­nu­ier­lich steigt, ist das Programm des Dok-Fests in dieses Jahr deutlich geschrumpft. Ganze Sektionen – Neue Filme aus Bayern und die Retro­spek­tive – sind dem Rotstift zum Opfer gefallen. Die Auswahl ist trotzdem nicht leichter geworden. Und die Aufgabe einen Vorab­ar­tikel mit den passenden Empfeh­lungen zu geben auch nicht – wie sie am späten Erscheinen dieses Artikels bemerken. Noch immer gibt es mehr inter­es­sante »Filme« zu sehen als man in der einen Woche Dok-Fest schauen kann.

Wobei richtige Filme knapp werden. DigiBeta dominiert im Doku­men­tar­film­be­reich immer mehr. Selbst im Wett­be­werb laufen nur noch fünf klas­si­sche Filme neben 13 Video­pro­jek­tionen. Konnte man vor ein paar Jahren beim Durch­forsten des Programms noch die Faust­formel anwenden »Was dem Produ­zenten kein Film­ma­te­rial wert ist, ist meist auch nicht die Zeit des Zuschauers wert.« gilt dies heut­zu­tage nicht mehr. Auch renom­mierte Doku­men­tar­filmer und -filme­rinnen wie Kim Longi­notto liefern nur noch DigiBeta ab. Die Vertre­terin des cinéma vérité ist ein alter Stammgast auf dem Dok-Fest und in der Vergan­gen­heit u.a. mit Divorce Iranian Style über ein Fami­li­en­ge­richt in Teheran und Gaea Girls über japa­ni­sche Mädchen, die Wrest­le­rinnen werden wollen, begeis­tert. In Rough Aunties beob­achtet sie diesmal ein Hilfs­pro­jekt für miss­han­delte Kinder in Durban, Südafrika (Do. 18:00 Film­mu­seum, So. 20:30 Atelier).

Manches inter­es­sante Werk kann nur Dank der neuen Technik entstehen, wie Burma VJ besonders eindrucks­voll beweist (Fr. 19:30 Atelier, So. 11:30 Arri). Das Tagebuch eines burme­si­schen Video­jour­na­listen doku­men­tiert die Massen­pro­teste gegen die burme­si­sche Junta im Sommer 2007 und gleich­zeitig die Arbeit der Unter­grund-Jour­na­listen. Ihr Video­ma­te­rial wird an der Zensur vorbei ins Ausland geschmug­gelt und macht die Gescheh­nisse in Rangun so im Westen erst zum Ereignis, das zur Primetime über die Fernseher flimmert.

Trotzdem, optisch und von ihrer sinn­li­chen Qualität ist die klas­si­sche Film­pro­jek­tion DigiBeta deutlich überlegen. Wenn es um Kunst, Land­schaft oder Farben geht, sollte man weiter auf klas­si­schen 35mm-Film Wert legen, etwa bei Silent Color Silent Voice (Fr. 22:00 Film­mu­seum, So. 14:30 Atelier). Das Porträt eines Paares, sie Weberin, er Sänger, das auf der ländlich-beschau­li­chen japa­ni­schen Insel Iriomote im Einklang mit der Natur lebt, verspricht ein fest für Augen und Ohr zu werden.

Als Kontrast und perfekte Ergänzung dazu bietet sich Japan: A Story of Love and Hate an (Fr. 22:00 Atelier, Mo. 20:00 Arri). Wieder wird ein japa­ni­sches Pärchen porträ­tiert, diesmal auf DigiBeta – und doch eine Welt, wie sie unter­schied­li­cher kaum sein kann. Iriomote aus Silent Color Silent Voice liegt ganz im Süden von Japan, soweit weg von Tokio, wie man in Japan nur sein kann. Japan: A Story of Love and Hate führt dagegen mitten im Moloch der modernen Großstadt. Dort leben Naoki und Yoshie als Teil­zeit­ar­beiter und Hunger­löhner in einem winzigen Apartment auf der Schat­ten­seite der japa­ni­schen Gesell­schaft.

In FILM IST. a girl & a gun wird die sinnliche Qualität klas­si­schen Film­ma­te­rials sogar thema­ti­siert. Aus Film­schnip­seln aus der Anfangs­zeit des Kinos wird ein Farben- und Bilder­rausch kompo­niert, der sich vage am grie­chi­schen Mythos zur Entste­hung der Welt orien­tiert. Zwar sind manche Asso­zia­tionen – etwa zwischen Kanonen und dem männ­li­chen Sexu­al­organ – arg abge­dro­schen, andere Bilder gefallen dafür umso besser. Außerdem werden so endlich einmal Pornos aus der Frühzeit des Kinos zu Gesicht, die sonst aus den dunkelsten ecken der Archive ans Licht geholt.

Eine ganz anders­ar­tige, aber mindes­tens genauso inter­es­sante Collage verspricht Les plages d'Agnès (So. 11:00, Pina­ko­thek der Moderne, Mi. 19:30 Film­mu­seum). Nach Jacquot de Nantes über das Leben ihres Mannes Jacques Demi und vielen Filme über da Sammeln wie Les glaneurs et la glaneuse hat Agnès Varda Schnipsel und Erin­ne­rungen aus ihrem Leben und ihren Filmen, von Orten und Menschen, die ihr viel bedeuten, zu einem ganz persön­li­chen Film über ihr eigenes Leben zusam­men­ge­stellt,

Andere Filme beschäf­tigen sich mit der Gegenwart und öffnen doch den Blick in ganz andere Welten, beispiels­weise das Leben nige­ri­scher Zwie­bel­bauern (Pour le meilleur et pour l'oignon, Sa. 15:00 + Di. 17:00 Gasteig), indischer Leichen­ver­brenner-Kinder (Children of the Pyre, Fr. 20:00 Arri, Di. 17;00 Atelier), der Mara-Banden aus latein­ame­ri­ka­ni­schen Slums (La vida loca, Fr. 17:30 Arri, So. 16:30 Atelier) oder erzählen einem alles über Plastik und seine (nicht­vor­han­dene) Entsor­gung (Addicted to Plastic, Mo. 19:00 + Mi. 17:00 Atelier). Die beste Strategie bei der persön­li­chen Programm­zu­sam­men­stel­lung ist hier wohl: Eine Film auswählen, über dessen Thema man bislang noch möglichst wenig gehört hat, sich über­ra­schen lassen und den eigenen Horizont erweitern.

Für alle, die dabei zu tragische, zu problem­be­la­dene oder zu depri­mie­rende Filme erwischen hier noch drei Tipps zu Filmen, die – nach der Inhalts­an­gabe im Katalog – Aufmun­te­rung verspre­chen, auch wenn sie ernst­hafte Themen behandeln:
Hans-Erich Viet, der in Milch und Honig aus Rotfront Deutschs­täm­mige in Kirgisien oder Die Ostfriesen beob­achtet hat, geht nun in Deutsch­land nervt! (Sa. 17:00 Film­mu­seum,. Mo. 17:00 Atelier) der Frage nach, wie die deutsche Seele im In- uns Ausland tickt. The Yes Men Fix the World (Fr. 22:00 + Di. 22:00 Arri) zeigt die Yes-Men bei der Arbeit, eine Gruppe von Akti­visten, die sich in Wirt­schafts­foren einschmug­geln und die dort herr­schende Denkweise durch Über­trei­bung und sati­ri­sche Vorschläge entlarven und ad absurdum führen. Schließ­lich beschäf­tigt sich Coco Schrijber in Bloody Mondays & Straw­berry Pies (Mo.22:00 Film­mu­seum, Mi. 19:30 Atelier) mit der Lange­weile. Das wird bestimmt nicht lang­weilig.

Claus Schotten

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