Vitalina Varela

Portugal 2019 · 124 min.
Regie: Pedro Costa
Drehbuch: ,
Kamera: Leonardo Simões
Schnitt: João Dias, Vítor Carvalho
Eindrucksvoll: Vitalina Varela schält sich aus dem Dunkel heraus
(Foto: Grandfilm)

Wiedergänger aus dem Zwischenreich von Tod und Leben

Pedro Costa erzählt in seiner neuen Geistergeschichte vom unsichtbaren Leben der kapverdischen Migranten-Frauen

Es ist völlig dunkel in dem engen Zimmer. Vitalina hat ihr weißes Kopftuch der Trauer gegen das schwarze des Alltags getauscht, hat das Zimmer gekehrt, die Arbeits­kol­legen ihres verstor­benen Mannes abge­wim­melt. Jetzt ist sie allein in der Dunkel­heit. Skulp­tural hebt sie sich vor der schwarzen Wand ab, spärlich einfal­lendes Licht model­liert ihre Wangen, die Nase, den Mund. Dann beginnt sie zu sprechen, richtet sich an den Toten, voller Trauer, Wehmut, aber auch Zorn. Vitalina ist von den Kapverden nach Lissabon gekommen, hat die Beer­di­gung verpasst von dem, der sie verlassen hat. Ein Hoch­zeits­foto, das sie im Zimmer aufstellt, zeigt nur sie, die Braut. Als sie gehei­ratet haben, war Joaquim schon in Portugal, sie führten eine Fernehe, wie sie für so viele kapver­di­sche Migranten typisch ist, die seit Anfang der 1970er das Land verließen.

Ein Dialog der Schatten beginnt, zwischen Vitalina und dem Toten. Briefe und Fotos Unbe­kannter, die Behausung mit dem undichten Dach und den herab­fal­lenden Ziegeln sind stumme Botschaften seines erlo­schenen Lebens.

Pedro Costas mit dem Goldenen Leoparden ausge­zeich­neter Film ist düster, nacht­schwarz, melan­cho­lisch, zugleich bitter und zornig. Eindrück­lich spielt Vitalina Varela im Rückblick auf ihre eigene, wahre Lebens­ge­schichte, von der sie schon in Horse Money (2014) berich­tete: Dass sie im Juni 2013 auf den Kapverden vom Sterben ihres Mannes, der in Lissabon lebt, erfährt. Dass sie ein Visum beantragt, sie dann, als sie endlich reisen kann, im Flugzeug hohes Fieber bekommt. Als sie ankommt, ist ihr Mann schon seit drei Tagen beerdigt, Vitalina kommt zu spät. Mit flüs­ternder Stimme erzählt sie ihre Geschichte in Horse Money, und mit eben diesem Flüstern kehrt sie nun zurück in den Film, der ihren Namen trägt.

Seit No Quarto da Vanda (2000) erzählt Costa die Geschichten der Menschen, denen er begegnet, und diese spielen dann sich selbst, werden zu leib­haf­tigen Erin­ne­rungen an das eigene Leben. Nicht von ungefähr erscheinen sie wie Zombies, beschwören durch ihre Erin­ne­rungen Geister, verkör­pern auch die Essenz des Kinos: als Schat­ten­spiele einer vergan­genen, von der Kamera doku­men­tierten »Action«.

Noch in Ossos (1997), dem ersten Film seiner berühmten Fontainhas-Trilogie, kam Costa mit fertigem Drehbuch und großem Filmteam in das inzwi­schen abge­ris­sene Armen­viertel von Lissabon. Zusammen mit seiner Darstel­lerin Vanda Duarte entwi­ckelte er dann No Quarto da Vanda, ein doku­men­ta­ri­sches Kammer­spiel im Zimmer seiner drogen­süch­tigen Prot­ago­nistin, gedreht mit einer kleinen Digi­tal­ka­mera im Laufe eines ganzen Jahres. Es folgte Juventude em marcha – Collosal Youth (2006), in dem Vanda Platz macht für Ventura, der die Geschichten der umge­sie­delten Fontainhas-Bewohner wie ein Chronist sammelt.

Nicht nur in diesem Film ist der väter­liche Ventura ein Binde­glied zwischen den Figuren. Er kehrt wieder in Horse Money, als sein eigener Zombie, trifft im Zustand des Irreseins auf Vitalina, die seinen Fantasmen mit Realismus begegnet. In Vitalina Varela kehrt Ventura zurück, jetzt nicht mehr mit der eigenen Biogra­phie, sondern in der fingierten Figur eines katho­li­schen Priesters. Das erinnert an das »Prinzip der wieder­keh­renden Figuren« im realis­ti­schen Roman. Mit Realismus allein aber ist es bei Pedro Costa nicht getan. Seine Prot­ago­nisten sind auch Wieder­gänger aus dem Zwischen­reich von Tod und Leben, Somnam­bule eines anderen Seelen­zu­stands, Geister oder Zombies. Jede der Neben­fi­guren kann im »Pedro Costa Universe« ihr eigenes »Spin-off« bekommen, wie Ventura oder Vitalina, und Held oder Heldin in einer sehn­suchts­er­füllten Fantastik werden.

Als Vitalina am Flughafen ankommt, ist das so ein fantas­ti­scher Moment. Zum Lärm der Turbinen wird die Gangway heran­ge­fahren, Vitalina wartet in der geöff­neten Flug­zeugtür. Ein promi­nenter Jetset-Topos, den man aus den 60er Jahren kennt, wenn die Filmstars gelandet sind. Vitalina aber erscheint wie ein dunkler Geist im Türrahmen. Dann eine Groß­auf­nahme auf ihre nackten, kräftigen Füße, mit denen sie die metal­li­sche Treppe hinun­ter­geht, langsam, vorsichtig tastend. Wasser rinnt ihre Beine hinab, ein Indiz für die plötz­liche Inkon­ti­nenz, die sie im Flugzeug befallen hat, davon hatte sie in Horse Money erzählt. Vitalina betritt den portu­gie­si­schen Boden wie eine über­ir­di­sche Kraft, geerdet, verletz­lich und erhaben zugleich, fast wie eine schwarze Jeanne d’Arc, wie Robert Bresson sie gefilmt hätte.

Sie bringt den Glauben in den Film hinein, die Kirchen­szenen mit Ventura, den Hausaltar mit dem Kreuz. Die Religion gehört zu Vitalina wie die Drogen zu Vanda. Wenn sie mit dem Geist des Verstor­benen spricht, offenbart sich die synkre­tis­ti­sche Seite ihres Glaubens. Auch Ventura, der katho­li­sche Priester, ist von Geistern umgeben, von den Geistern seiner Gemeinde, die vor Jahr­zehnten bei einem Busunfall umkam. Das erinnert an Georges Bernanos’ anar­chisch-katho­li­schen Roman »Die tote Gemeinde«, einen düsteren Abgesang auf die christ­li­chen Tugenden. Oder an Bernanos’ »Tagebuch eines Land­pfar­rers«, wie Costa im Interview mit der fran­zö­si­schen Zeit­schrift »Débor­de­ment« erzählt, das auch Bresson verfilmt hat: »Wie der junge Priester von Ambri­court will Ventura die Schulden seiner Gemein­de­mit­glieder mit leeren Händen bezahlen.« Auch Bernanos’ »Schat­ten­dia­loge« klingen in Vitalina Varela an, denen wiederum Jean-Marie Straub 2013 einen Kurzfilm gewidmet hat, als Dialog mit der verstor­benen Danièle Huillet. Bernanos, Bresson, Straub/Huillet: drei Fixsterne im Werk von Pedro Costa.

Mit Anspie­lungen auf die Literatur- und die Film­ge­schichte (neben Bresson ist für Vitalina Varela auch Jacques Tourneur wichtig), erzählt das mosa­ik­ar­tige Werk aus immer anderen Perspek­tiven und Rollen von den Geschichten der kapver­di­schen Migranten. Zuerst war ihnen Pedro Costa in Casa de lava (1994) begegnet, als er, noch zu Beginn seines Film­schaf­fens, nach einer Möglich­keit für ein Remake von Tourneurs I Walked with a Zombie suchte. Er stieß auf eine Zeitungs­notiz über einen kapver­di­schen Bauar­beiter, der in Lissabon von einem Gerüst gefallen war und halbtot von einer Kran­ken­schwester in seine Heimat begleitet wurde. Costa reiste auf die Kapverden und traf auf eine über­wie­gend aus Frauen bestehende Gemein­schaft – die Männer waren in Portugal.

Vitalina ist eine der Frauen, der Costa damals hätte begegnen können. In zwei kurzen Rück­blenden kehrt er – erstmals in einem Langfilm nach Casa de lava – auf die Kapverden zurück, zeigt, wie Vitalina schwere Ziegel schleppt und das Haus auf der Insel Santiago fertig baut. Vitalina Varela ist so nicht nur ein Zwil­lings­film zu Horse Money, sondern auch ein Spie­gel­film zu dem frühen Casa de lava. Vitalina trägt in sich die Geschichte der Frauen, diese unsicht­bare Kehrseite vom Leben der kapver­di­schen Migranten in Lissabon, von der Costa noch nicht erzählt hatte. Sie hat das Verlas­sen­sein und die Entfrem­dung erlebt, den Betrug des Mannes an ihr und an dem möglichen gemein­samen Leben.

»Hier in Portugal gibt es nichts für dich. Das Haus des Verstor­benen gehört dir nicht. Geh zurück«, raunen die Frauen am Flughafen Vitalina zu. Es klingen hier auch die Probleme der Migration an, in der Paare und Biogra­phien ausein­an­der­ge­rissen werden, Nach­kom­mende zu Fremden und Eindring­lingen werden, auch für die expa­tri­ierte Gemein­schaft der Migranten. Vitalina Varela kann so als Emblem für das Schicksal all derer gelten, die, abgehängt von der Weltö­ko­nomie, um ihr Leben betrogen werden. Auch das macht sie zur Ikone eines anderen, poli­ti­schen Kinos.