Nawalny

Navalny

USA 2022 · 99 min. · FSK: ab 12
Regie: Daniel Roher
Drehbuch:
Kamera: Niki Waltl
Schnitt: Maya Hawke, Langdon Page
Konzentrierter Blick: Alexei Nawalny
(Foto: DCM Film Distribution)

Wie hoch ist der Preis für Opposition?

Daniel Rohers Dokumentarfilm zeigt Nawalny als Putins entspannten Endgegner

»In Russland erklärten im Dezember 2020 rund 78 Prozent der vom Lewada-Zentrum befragten Personen, sie seien über die Vergif­tung Nawalnys infor­miert, 17 Prozent der Befragten äußerten, sie würden die Entwick­lungen genau verfolgen. Von denen, die von der Vergif­tung gehört hatten, hielten 30 Prozent die Vergif­tung für eine insze­nierte Fälschung, 19 Prozent für eine Provo­ka­tion der west­li­chen Geheim­dienste, 15 Prozent für eine Aktion russi­scher Behörden, 7 Prozent für den Racheakt einer der Personen, die von Ermitt­lungen Nawalnys betroffen waren. 6 Prozent für den Ausdruck von Konflikten innerhalb der russi­schen Oppo­si­tion, 1 Prozent vermutete Gesund­heits­pro­bleme Nawalnys, 4 Prozent entschieden sich für 'einen anderen Grund'. 19 Prozent fanden es schwierig, eine Antwort zu geben. […] Die Partei Die Linke warnte vor 'Vorver­ur­tei­lungen' und erklärte die Verdäch­ti­gung der russi­schen Regierung für nicht plausibel. Gregor Gysi vermute die Draht­zieher des Anschlags eher im Lager der Nord-Stream-2-Gegner wie USA oder Ukraine.« (https://de.wikipedia.org/wiki/Giftanschlag_auf_Alexei_Nawalny)

Es gibt diese Frage: »Wie möchte ich den Menschen in Erin­ne­rung bleiben, wenn ich sterbe?« Sie kann Anlass zur Selbst­re­fle­xion über die eigenen Werte und die eigene Ausstrah­lung sein, ein Memento mori zu einem Zeitpunkt, an dem man noch etwas verändern kann. Mit dieser Frage scheint sich Alexei Nawalny ausein­an­der­ge­setzt zu haben, als er knapp einem Gift­an­schlag entkommen war und trotzdem sein Vorhaben bekannt gab, wieder nach Russland zurück­zu­kehren. Der Doku­men­tar­film des kana­di­schen Regis­seurs Daniel Roher (Once Were Brothers: Robbie Robertson and the Band, 2019) gibt darauf eine Antwort.

Der Film beginnt mit einem Interview von Nawalny dann auch mit dieser Frage, die ihm der Regisseur aus dem Off stellt, nämlich, was er, im Falle seines Todes, dem russi­schen Volk als sein Vermächtnis vermachen wolle. Nawalny antwortet, dass er die Antwort später geben werde, er aber lieber einen Thriller machen wolle, statt eines lang­wei­ligen Gedenk­films. Roher setzt dies um. Gleich darauf setzt drama­ti­sche Musik ein und wir hören den russi­schen Oppo­si­tio­nellen – während Bilder des winter­li­chen Schwarz­waldes gezeigt werden – sagen, dass er hier sei, weil man versucht habe, ihn zu töten. Dann kündigt er an, dass er am 17. Januar 2021 nach Moskau fliegen werde, gerade weil Putin auf keinen Fall wolle, dass er zurück­kehre. Wenig später sehen wir ihn auch schon im Flugzeug nach Moskau, umgeben von hoch­ge­hal­tenen Handys und im Sturm der Fragen der Mitrei­senden. In der Zeit­spanne von dem Attentat des russi­schen Geheim­dienstes bis zu seiner Rückkehr nach Moskau und seiner Inhaf­tie­rung begleitet ihn die Kamera des kana­di­schen Regis­seurs. Roher bastelt unter Einbe­zie­hung der unter­schied­lichsten Medien und Formate, mal mit der Hand­ka­mera, mal in der stati­schen Interview-Situation, dann wieder mit Amateur­auf­nahmen von Handy­ka­meras das Ganze mit Nach­richten- und anderen TV-Ausschnitten und meist mit Musik unterlegt zu einer unter­halt­samen Collage zusammen, die extrem abwechs­lungs­reich ist. Er bezieht Tempo­wechsel und (vor allem musi­ka­li­sche) Span­nungs­ele­mente mit ein, etwa bei der Suche nach den vermeint­li­chen Auftrags­mör­dern, die Nawalny gemeinsam mit Christo Grozev, einem Jour­na­listen aus Bulgarien und Belling­cats leitendem Russland-Ermittler, durch­führt. Die Aufde­ckungs­ar­beit im Stile eines inves­ti­ga­tiven Jour­na­lis­ten­thril­lers à la Hollywood zeigt uns dabei aber einen stets entspannten Prot­ago­nisten, der offen­sicht­lich Freude an der Sache hat. Die Mörder erscheinen als tumbe, lächer­liche Gestalten, die in gren­zen­loser Naivität am Telefon Geheim­nisse preis­geben, die sie wahr­schein­lich den Kopf kosten werden.

Spannend ist auch die spontan gefilmte Sequenz, die direkt nach Nawalnys Vergif­tung im Flugzeug beginnt und die ihn und seine Frau bis ins Kran­ken­haus von Omsk begleitet, wo Julija Nawalnaja verzwei­felt darum kämpft, den Vergif­teten ins Ausland verlegen zu lassen. Man ist hautnah dabei, ist scho­ckiert, fiebert mit, weil einen die verwa­ckelten Amateur­bilder mit ihrer subjek­tiven, authen­tisch wirkenden Perspek­tive hinein­ziehen. Hier bekommt man zum ersten Mal ein Gefühl dafür, was hier eigent­lich auf dem Spiel steht: ein Menschen­leben.

Das Ganze hat natürlich wenig gemein mit dem alten Schlag von schul­fern­seh­haften Doku­men­tar­filmen, die sich, zumeist lang­weilig, wie man zugeben muss, nüchtern um faktische Objek­ti­vität bemühten. Früher glaubte man ja auch noch an die Beweis­kraft von Bildern und wissen­schaft­li­chen Gutachten. Heut­zu­tage wird der Doku­men­tar­film Nawalny wohl keinen seiner Gegner in irgend­einem Punkt über­zeugen können, zumal er u. a. von CNN und HBO mitfi­nan­ziert ist. Nicht das Tele­fon­ge­ständnis des russi­schen Agenten, nicht die Unter­su­chungs­er­geb­nisse der Bundes­wehr­wis­sen­schaftler bezüglich einer Vergif­tung. Heute dienen Doku­men­tar­filme deswegen vor allem der Selbst­ver­ge­wis­se­rung und Stärkung der eigenen Position.

Wie möchte Nawalny also gesehen werden, welchen Eindruck möchte er der Nachwelt hinter­lassen?

Wir lernen seine Frau und seine zwei Kinder kennen, begleiten die Familie bei Spazier­gängen im Schwarz­wald oder bei der privaten Aufnahme eines TikTok-Video­clips zu »How bizarre«, wir sehen Nawalny beim Call-of-Duty-Spielen am Handy. Auch seine Sprache ist betont jugend­lich und umgangs­sprach­lich. Er kommt als sympa­thi­scher, entspannter Fami­li­en­mensch rüber, ein Mann des Volkes, den seine Kinder und seine Frau bei seiner poli­ti­schen Arbeit zu hundert Prozent unter­stützen. Entspannt – nach einem Gift­an­schlag, den er knapp überlebt hat? Tatsäch­lich blendet der Film fast alle negativen Gefühle und Gedanken aus. Wir sehen keinen Hass, keine Angst, keine Momente des Zweifelns. Die möglichen Konse­quenzen seiner Rückkehr nach Moskau? Die perma­nente Lebens­ge­fahr? Diese Dinge werden hier nicht disku­tiert. Der Film müsste eigent­lich »Ich, Nawalny« heißen, denn Nawalny gibt anschei­nend zu hundert Prozent vor, was gezeigt werden soll. Es gibt keinen Kommentar des Regis­seurs, wenig kritische Fragen, kaum Bilder oder State­ments außerhalb der Nawalny-Perspek­tive. Er ist ein über­zeu­gender Selbst­in­sze­nierer, der es darauf anlegt, immer cool, entspannt und vor allem furchtlos zu wirken. Damit über­mit­telt er wohl folgende Botschaft an Putin: »Versteck du dich ruhig in deinem Palast hinter deinem großen Schreib­tisch. Schick mir deine Auftrags­mörder. Ich habe keine Angst vor dir. Russland ist auch mein Land, du wirst mich nicht mehr los!« Und er lässt Taten sprechen. Nach der Vergif­tung erholt er sich, dann steigt er wieder in ein Flugzeug Richtung Moskau, ein Steh­auf­männ­chen. Als der Flieger auf einen anderen Flughafen umge­leitet wird, weil sich dort zu viele Protes­tie­rende versam­melt haben, entschul­digt sich Nawalny bei seinen Mitrei­senden für die Umstände, die er ihnen bereitet. Wenig später wird er wieder verhaftet.

Für viele Menschen im Westen ist Nawalny ein Frei­heits­held, der seit vielen Jahren dem immer dikta­to­ri­scher regie­renden Putin trotzt wie das Gallier­dorf dem römischen Imperium in den Asterix-Bänden. Denn wie auch immer man die Persön­lich­keit und die Motive Nawalnys beurteilt, bleibt er auf jeden Fall ein Streiter für das Recht auf eine kritische Meinung in einem auto­ri­tären System, das versucht, jede Form von Kritik und Abwei­chung brutal mit allen Mitteln zu bekämpfen. Dafür hat Nawalny Soli­da­rität und Unter­stüt­zung verdient, wie alle, die diesen scheinbar aussichts­losen Kampf in autoritär regierten Staaten führen.

Wer sich ein abge­run­de­teres, viel­leicht objek­ti­veres Bild von Nawalny machen will, muss sich wohl zusätz­lich noch anderer Medien bedienen und kann dabei mit dem sehr ausge­wo­genen, kurzen Beitrag von MrWissen2go »Alexei Nawalny: Putins Erzfeind« (YouTube) einen Anfang machen. Hier werden auch die extrem natio­na­lis­ti­schen, popu­lis­ti­schen und frem­den­feind­li­chen Aussagen aus Nawalnys Vergan­gen­heit oder die Putin-Sicht auf den Gift­an­schlag ange­spro­chen. Das ist natürlich alles sehr verknappt, aber erfri­schend objektiv. Wie sehr solch eine Ausge­wo­gen­heit auto­ri­tären Staaten missfällt, sieht man daran, dass erst kürzlich bekannt wurde, dass Mirko Drot­sch­mann (MrWissen2go) aus China ein Angebot bekam, einen Beitrag finan­ziert zu bekommen. Eine andere Quelle wäre das Interview mit der Poli­tik­wis­sen­schaft­lerin Sarah Pagung von 2017. Dieser Film ist ein weiterer, dieses Mal persön­li­cher, Baustein im Protest gegen Putin und sein korruptes Macht­ge­füge. Diesen Kampf führt Nawalny seit vielen Jahren, er tut dies als Jurist, als Politiker und als inves­ti­ga­tiver Jour­na­list; er will das Netzwerk der Korrup­tion aufdecken, sogar aus dem Gefängnis heraus, wie mit seinem von seiner Anti-Korrup­tions-Stiftung FBK produ­zierten Doku­men­tar­film Ein Palast für Putin, der auf YouTube einge­stellt wurde, während sich Nawalny schon in Unter­su­chungs­haft befand.

Als Zuschauer treibt einen natürlich schon die Frage um: »Warum gehst du wieder zurück? Warum nimmst du in Kauf, eventuell viele Jahre ins Gefängnis zu gehen, viel­leicht getötet zu werden? Was ist der Preis für diesen hohen Einsatz?« Der Film gibt darauf keine Antworten. Rechnet Nawalny mit einem histo­ri­schen Verlauf wie bei Nelson Mandela, der vier Jahre nach seiner 27 Jahre langen Haft zum Präsi­denten gewählt wurde? Speku­liert er auf eine fried­liche Revo­lu­tion oder einen gewalt­samen Umsturz?

Wie schwer es ist, sich auf eine Version der Gescheh­nisse zu einigen, zeigt der Fall der Vergif­tung Nawalnys als ein Beispiel von unzäh­ligen (vgl. obiges Zitat aus Wikipedia). Auf jeden Fall sollte man sich immer wieder auf die beschwer­liche Suche nach einer möglichen Wahrheit machen, sollte seine eigenen Infor­ma­ti­ons­blasen hinter­fragen, sich mit anderen Darstel­lungen in anderen Blasen ausein­an­der­setzen, wohl wissend, dass in den Medien ein nicht immer sicht­barer Kampf herrscht, in dem mit teilweise staat­li­chen Mitteln und Bot-Armeen gelogen, betrogen und mani­pu­liert wird. Ein furcht­barer Krieg wie dieser in der Ukraine macht so ein Ringen um Objek­ti­vität nicht leichter, da für die Betei­ligten noch mehr auf dem Spiel steht und mit jedem veröf­fent­lichten Bild und jedem Kommentar ein erbit­terter Wettkampf um poli­ti­sche Deutungs­ho­heit entsteht.