Mitte Ende August

Deutschland 2009 · 92 min. · FSK: ab 6
Regie: Sebastian Schipper
Drehbuch:
Kamera: Frank Blau
Darsteller: Marie Bäumer, Milan Peschel, Anna Brüggemann, André Hennicke, Gert Voss u.a.
Warm oder kalt, klar oder wirr?

Sieben Kritiken von sieben Volon­tären, geschrieben im Grundkurs für Zeitungs­vo­lon­täre an der Akademie der Baye­ri­schen Presse.

Tod einer Beziehung

Sebastian Schipper versucht sich an Goethes „Wahl­ver­wandt­schaften“ – und bleibt dabei sehr diffus.

Wenn eine Liebe stirbt, ist das kein plötz­li­cher Tod. Langsam und quälend schreitet er voran und nimmt alte Gefühle mit sich. Wie in Sebastian Schippers Mitte Ende August. Im Hoch­sommer ihrer Beziehung sind Hanna (Marie Bäumer) und Thomas (Milan Peschel) längst ange­kommen. Über die erste Verliebt­heit hinaus haben sie ihre Gefühle in den Alltag gerettet. Und haben sich trotz aller Unter­schiede mit den Stärken und Schwächen des Anderen arran­giert. Nun gehen sie einen Schritt weiter: Ein altes Haus auf dem Land, das sie über den Sommer zu ihrem Zuhause machen wollen.

Die ersten Sequenzen brauchen wenig Worte, kommen allein mit Gesten und Blicken aus. Schipper lässt die Szenen für sich sprechen: Hanna und Thomas wollen gemeinsam reno­vieren und an ihrem Glück arbeiten. Doch während er, ein verrückter Typ, der noch nicht in der Erwach­se­nen­welt ange­kommen zu sein scheint, einfach an die Sache heran geht, hat Hanna Zweifel. Denn sie braucht »einen Plan, von dem ich weiß, dass er funk­tio­nieren kann.« Und es kündigt sich noch mehr Unheil an: Thomas Bruder Friedrich (André Hennecke) kommt in die kleine Welt des Paares. Seine Frau hat ihn verlassen, sein Job ist weg. Ohne lange zu überlegen oder zu fragen, hat Thomas den älteren Bruder einge­laden. Wie aus Trotz holt Hanna ihre kaum erwach­sene Paten­tochter Augustine (Anna Brüg­ge­mann) dazu. Es ist der Anfang vom Ende.

Denn was nun folgt, ist ein Vier­ecks­ge­flecht, das sämtliche Makel der Beziehung von Thomas und Hanna offen legt. Friedrich ist ein reser­vierter, gesetzter Typ. Er ist verläss­lich, erwachsen – eben alles, was Thomas nicht ist. Und Hanna, die sich zunächst so gar nicht mit dem Schwager anfreunden kann, entdeckt diese Vorzüge. Im Gegenzug erwachen in Thomas Gefühle für Augustine, die ihm so viel ähnlicher ist, als Hanna. Sie teilt – anders als Vege­ta­rierin Hanna – seine Vorliebe für McDonalds und scheint sein infan­tiles Wesen zu schätzen. Bringt dem Mitt­dreißiger eine Seifen­bla­sen­pis­tole mit, weil sie weiß, dass er sich an solchen Albern­heiten begeis­tern kann. Augustine bleibt ansonsten den ganzen Film über recht farblos.

Der Regisseur geizt nicht mit Bildern. Es geht sogar so weit, dass er den Zuschauer direkt an der Hand nimmt und auf das Offen­sicht­liche stößt: Es bahnt sich eine Trennung an. Dafür bemüht er die gefällte Part­ner­tanne vor dem Haus. Oder die atmo­s­phä­risch arran­gierten Teetassen von Friedrich und Hanna. Als Vorbote des Unter­gangs huscht da auch schon einmal eine schwarze Katze durchs Bild.

Dabei setzt er die zunehmend aufge­la­dene Stimmung eigent­lich über­zeu­gend um. Der Zuschauer kann die Beklem­mung spüren, wenn Hanna und Thomas aufein­ander treffen. Vieles bleibt unaus­ge­spro­chen, beide leiden. Das Spiel von Marie Bäumer und Milan Peschel, besonders aber auch von André Hennecke, der den zuge­knöpften Bieder­mann gibt, kann das gut trans­por­tieren und braucht die vielen Anspie­lungen nicht.

Schade auch, dass die Szenenüber­gänge oft derart abrupt kommen: Völlig unmo­ti­viert wirkt die Eska­la­tion an Hannas Geburtstag, als sie schreiend, weinend, tretend ihrer Verzweif­lung Luft macht. Thomas schnappt sich die Paten­tochter und was schon lange in der Luft lag passiert nun auch: Er betrügt Hanna. Während sie vor dem letzten Schritt, dem Seiten­sprung mit Friedrich, zurück­schreckt. Die Beziehung versinkt nun vollends im Chaos.

Mitte Ende August lebt nicht von den Dialogen. Es sind die kleinen Gesten, die Blicke, die den Zuschauer durchaus erkennen lassen, was in den Köpfen der Figuren vorgeht. Ein diffuses Gefühl bleibt doch. Oft wirken die Figuren statisch. Man kann sich nicht recht entscheiden, ob man nun betroffen ist von diesem 90-minütigen Nieder­gang einer Liebe. Denn vieles ist zu gut kalku­liert, das Spiel mit den Gefühlen des Zuschauers funk­tio­niert manchmal gerade deswegen nicht.

Mitte Ende August ist eine freie Adaption von Goethes Wahl­ver­wandt­schaften. Eine große Vorlage, von der sich der Regisseur nicht einschüch­tern lässt. Er hat das zentrale Thema aufge­griffen und das hat er gut in die heutige Zeit trans­por­tiert. »Es geht um die Liebe zwischen Mann und Frau. Ich wollte zeigen, was passiert, wenn die Liebe schon da ist.« Und wenn sie zu sterben droht. Das Ende lässt er bewusst offen. »Ich habe meine eigene Vorstel­lung davon, wie es mit Hanna und Thomas weiter­geht«, sagt er. Doch wie das aussehen könnte, überlässt er dem Zuschauer. Dem aller­dings bleibt am Ende ein flaues Gefühl. Weil Schipper es trotz klarer Intention eben nur so halb schafft, zu sagen, worum es ihm eigent­lich geht.

Zwei Teetassen als Vorboten der Katastrophe

Symbo­lisch über­frachtet: Sebastian Schippers Film Mitte Ende August basiert auf Goethes „Wahl­ver­wandt­schaften“

Ein schril­lender Wecker reißt das Paar aus dem Schlaf. Er, graues Feinripp-Unterhemd, gestreifte Pants, schält sich aus dem Bett. Sie, wusche­liges, nacken­langes Haar, dreht sich noch einmal zur Seite. Zu Kylie Minogues Lied „Come into my world“ tanzen beide kurz darauf verliebt durch die Wohnung. Ihre Zahn­bürsten schrubben im Gleich­takt über den Schmelz. Kylies Stimme lockt »Komm in meine Welt«. Die Liebenden lachen, genießen ihr gemein­sames Glück.

Regisseur Sebastian Schipper zeichnet die Welt von Hanna (Marie Bäumer) und Thomas (Milan Peschel) als Bezie­hungs­idyll. In gedämpften Farben und ruhigen Bildern zeigt der Film Mitte Ende August am Anfang zwei Liebende, die sich selbst genug sind. »Ich find das so unglaub­lich schön, hier mit dir alleine zu sein«, sagt Hanna zu Thomas. Das Ausstei­ger­pär­chen hat sich gerade ein Haus auf dem Land gekauft. Dort baumeln nackte Glüh­birnen von der Decke. Strom gibt es nicht. Die Scheiben sind blind. Das Handy funk­tio­niert nur bei der Fahrt zum Baumarkt. Hanna und Thomas wollen das Haus selbst reno­vieren. Es soll der Ort ihres eigenen, privaten Glücks werden.

Schipper nennt seinen Film »eine ganz persön­liche Cover­ver­sion« von Goethes Wahl­ver­wandt­schaften. Man muss die Vorlage nicht kennen, um zu wissen, dass das traute Glück nicht von Dauer sein darf. So wollten es die Leser vor 200 Jahren. So will es das Kino­pu­blikum heute. Mit Thomas’ Bruder Friedrich dringt ein Fremd­körper ein in den Alltag des Paares. Friedrich, grandios verkör­pert von André Hennecke, hat sich in sein Innerstes zurück­ge­zogen. Von seiner Frau und den Kindern verlassen, als Architekt geschei­tert, erinnert der bebrillte Bieder­mann an einen freud­losen Asketen. Das Haar streng geschei­telt, den Krawat­ten­knoten am Adams­apfel fest­ge­zurrt, betritt er die Welt von Hanna und Thomas.

Als dann noch Augustine, Hannas loli­ta­hafte Paten­tochter, zu Besuch kommt, nimmt das Drama seinen Lauf. Spätes­tens jetzt legt Regisseur Schipper den Zuschauer an die kurze Leine. Wie Thomas, der mit dem Vorschlag­hammer unentwegt auf die Wand seines Hauses eindrischt, um dort eine weitere Tür einzu­setzen, setzt auch der Filme­ma­cher auf die Holz­ham­mer­me­thode. Nicht eine Sekunde lässt er das Publikum im Zweifel, wer denn nun mit wem anbandeln wird. Das Quartett zerfasert in die Teetrinker Hanna und Friedrich und die Kaffee­lieb­haber Augustine und Thomas. Erstere schwärmen von vege­ta­ri­schem Essen, letztere bevor­zugen Burger von McDonalds.

Doch es geht noch plaka­tiver: Die kindliche Augustine schlum­mert mit einem Zettel in der Hand, auf dem in großen Lettern ABC steht, so als sei sie über ihren Haus­auf­gaben einge­nickt. Thomas ist ein Junge im Körper eines 35-Jährigen. Er kifft, lächelt selig beim Abfeuern seiner Seifen­blasen-Pistole und spielt betrunken Luft­gi­tarre. Ihnen stehen Hanna und Friedrich gegenüber. Beide haben eine geschei­terte Ehe hinter sich. Beide sind erfahren im Erdulden. Beide trinken lieber Tee.

Auch in Sachen Bild­sym­bolik tritt der Regisseur das Pedal so kräftig durch, wie Thomas bei seiner Spritz­tour im Sport­wagen. Kurz bevor Fried­richs dunkler Audi das erste Mal ins Bild kommt, hat auch Hannas schwarze Katze ihren ersten Auftritt. Der Unglücks­bote namens »Muschi« läuft von links nach rechts über den Fens­ter­sims. Doch damit nicht genug. Eine der beiden Blau­tannen, deren Kronen sich wie die Köpfe Liebender einander zuneigen, fällt der Axt Fried­richs zum Opfer. Augus­tines Flehen, »die Part­ner­bäume« nicht zu trennen, verhallt ungehört. Sogar der Gummiring, den Thomas von einem Bier­fla­schen-Schnapp­ver­schluss löst, muss als Bild­m­e­ta­pher herhalten. Da verwun­dert es kaum, dass die Bezie­hungs­ka­ta­strophe von zwei Teetassen ausgelöst wird, die Thomas im Zimmer seines Bruders findet. Der Kaffee­trinker deutet das Tassen­paar als Beweis für die Untreue seiner Tee trin­kenden Partnerin.

An der gelun­genen Metapher zeigt sich im Roman die Könner­schaft des Autors. Sie zieht den Leser in ihren Bann. Was auf Papier funk­tio­niert, lässt sich nicht ohne weiteres auf die Leinwand über­tragen. Daran kranken viele Lite­ra­tur­ver­fil­mungen. »Ganz viel, was im Film passiert, findet ganz tief da drinnen statt« hat Sebastian Schipper nach einer Vorfüh­rung von Mitte Ende August in München gesagt. Dabei hat er mit dem Finger auf seine Brust getippt. Zu wenig verlässt sich der Regisseur auf die Gabe seiner Schau­spieler, ihre Gefühle auch ohne symbolüber­frach­tetes Beiwerk ausdrü­cken zu können. Zu oft wirken die Darsteller deshalb wie Kunst­fi­guren aus dem Stereo­typen-Setz­kasten.

Am härtesten hat es dabei Gert Voss getroffen. Er spielt Bo, den Vater von Hanna. Dazu trägt er ein Halstuch und einen dicken Ring am kleinen Finger. Zum Geburtstag seiner Tochter kommt er in Beglei­tung einer jungen, blonden, rotlip­pigen Russin im Pelz­mantel. Am Tisch raucht er Eve und spricht von der »Ehe als Kolla­te­ral­schaden«. Die schlanke Frau­en­ziga­rette zwischen den Fingern poltert er: »Wer hat uns denn je verspro­chen, dass es auf dieser Welt jemanden gibt, zu dem man passt.« Damit ist seine Rolle als dandy­hafte Kassandra bereits erschöp­fend beschrieben. Es folgt: Der Abgang im sünd­teuren Sport­wagen.

»Dieser Goethe, dieser Dröhner«, hat sich Sebastian Schipper eigenen Aussagen zufolge gedacht, als er das erste Mal ein Buch von Goethe aufschlug. »Dieser Schipper, dieser Dröhner«, könnte so manchem Kino­be­su­cher durch den Kopf schießen, wenn der Abspann von Mitte Ende August über die Leinwand flimmert.

Komm in meine Welt

Zwei Männer, zwei Frauen, ein Landhaus: In Mitte Ende August erzählt Regisseur Sebastian Schipper eine aufwüh­lende Vier­ecks­ge­schichte – frei nach Goethes „Wahl­ver­wandt­schaften“

Die Wände haben Risse, der Boden ist vergilbt, eine Glühbirne baumelt von der Decke. Und doch ist das verfal­lene, einsame Landhaus mitten im Grünen das Paradies für Hanna (Marie Bäumer) und Thomas (Milan Peschel). Hand in Hand rennen sie die quiet­schende Treppe nach oben, ziehen durch jedes Zimmer ihres neuen Sommer­hauses, reißen die Fenster auf, lassen Licht in die muffigen Räume. Kaum ein Wort fällt in den ersten Szenen von Mitte Ende August, dem neuen Film von Sebastian Schipper. Die Verliebten sind sich selbst genug. Er, der Kindskopf, der vor lauter Begeis­te­rung über das eigene Haus gleich mal die erste Wand einschlagen will. Sie, die bedachte Schöne, die vorher lieber die Statik berechnen möchte. Er, der Wilde, der doch gleich mit dem Hammer die Mauer zerschlägt. Sie, die ihm seinen Übermut verzeiht, und nach der Arbeit seine Schultern massiert.

Doch die Risse im Mauerwerk deuten es an: Hanna und Thomas dürfen ihr Glück nicht behalten. Nach­ein­ander treffen Thomas' Bruder Friedrich (André Hennicke) und Hannas Patenkind Augustine (Anna Brüg­ge­mann) ein, und damit ändert sich alles. Gerade weil sie so verschieden sind, hatten sich Hanna und Thomas in ihrem Zweier-Kosmos auf harmo­ni­sche Weise ergänzt. In der Vierer-Konstel­la­tion tun sich aber ganz schnell die ähnlichen Charak­tere zusammen. Hanna und Friedrich essen beide kein Fleisch, lieben Tee und Dinge, die funk­tio­nieren. Thomas und Augustine gehen furchtbar gerne zu McDonalds und finden Luft­bla­sen­pis­tolen toll.

Fast Food und Plas­tik­spiel­zeug, das sind Ideen von Regisseur Schipper, der Kern der Geschichte stammt aber aus Goethes Wahl­ver­wandt­schaften. 1809 schrieb Goethe diese erotisch aufge­la­dene Vier­ecks­ge­schichte. Seine These darin: So wie sich in der Chemie Elemente abstoßen und anziehen, tun das auch die Menschen.

Heute, 200 Jahre später, erzählt Schipper Goethes Geschichte neu. Er geht dabei nah ran an seine Prot­ago­nisten. Die Vertraut­heit zwischen Hanna und Friedrich, wenn er ihr in der dunklen Küche von seiner geschei­terten Ehe erzählt. Der heimliche Kuss zwischen Thomas und Augustine, nachdem sie zusammen einen Joint geraucht haben. Und das Unbehagen und Miss­trauen, das plötzlich zwischen Hanna und Thomas steht.

In die ganze Verwir­rung hinein kommt Hannas Vater Bo (Gert Voss) zu Besuch, ein alternder Dandy, der wie die Stimme aus dem Off den wunden Punkt der vier Männer und Frauen trifft: »Wer hat uns denn je verspro­chen, dass es für jeden jemanden gibt auf dieser Welt, der zu ihm passt«, sagt er beim gemein­samen Essen. An dem Abend ist Thomas zum ersten Mal ganz still. Und aus Hanna bricht es heraus. In einem Neben­zimmer erlaubt sie es sich zu weinen, fassungslos darüber, wie schnell ihre Liebe Enttäu­schung und Verzweif­lung gewichen ist.

Es ist Mitte, Ende August. Das passt zum Alter der Prot­ago­nisten. Alle, bis auf die junge Augustine, haben die 30 schon länger über­schritten. Sie sollten mitten im Leben stehen, und doch sind sie sich immer noch gar nicht so sicher, wo sie eigent­lich hin wollen. Es scheint, dass sich Regisseur Schipper genau auf diese Lebens­phase konzen­triert, die jüngere Augustine bleibt da etwas auf der Strecke. Mit Hanna und Thomas leidet der Zuschauer mit, weil er ihre Liebe vom Anfang des Films kennt und sie sich zurück­wünscht. Und auch mit Friedrich kann man fühlen, der gerade sein Unter­nehmen verloren hat, und dessen Familie bei einem anderen Mann wohnt. Augustine hingegen ist einfach nur da, dient dem Verlauf der Geschichte, bleibt selbst aber farblos.

Ein Goethe-Fan Regisseur war Schipper übrigens nie. Bei einem Strand­ur­laub blätterte er dann doch mal im Reclam­heft Die Wahl­ver­wandt­schaften und war »erschro­cken darüber, wie nah mir Goethe ist«. Und zutiefst erstaunt über Goethes »großes Interesse für das unsagbar Feine zwischen den Menschen«. Genau das inter­es­siert nämlich auch Schipper. Und er schafft es, der Liebe ohne Pathos auf den Grund zu gehen. Die Schau­spieler gebrau­chen nicht viele Worte, sie wirken völlig natürlich, die Kamera scheint sie eher beiläufig zu filmen. Und doch trifft der Film den Zuschauer wie eine Wucht, die Lust, einen anderen Menschen zu berühren, das grausame Gefühl, betrogen zu werden. Was den Film noch unwi­der­steh­li­cher macht, ist der melan­cho­li­sche Sound­track von Vic Chesnutt. Come into my World von Kylie Minogue coverte er für Mitte Ende August. Und plötzlich hört man, um was es in dem Song wirklich geht: Darum, dass es eben doch für jeden jemanden gibt auf der Welt, bei dem man sich wirklich zu Hause fühlt.

Goethe und Schipper, Chesnutt und Minogue, alles so völlig unwahr­schein­liche Paarungen, die in Mitte Ende August einfach funk­tio­nieren. Da könnten viel­leicht auch Hanna und Thomas doch noch eine Chance haben.

Im Herbst der Beziehung

Mit viel Symbolik erzählt Mitte Ende August die Geschichte einer Vier­ecks­be­zie­hung im Grünen

Die schönsten Wochen des Jahres sollten es für Hanna und ihren Mann Thomas werden. Die beiden Mitt­dreißiger sind über­glück­lich. Gerade haben sie ein altes Landhaus im Grünen gekauft. Hier möchten sie den Sommer verbringen. Doch so baufällig das Häuschen, so rissig erscheint bald auch ihre Beziehung.

Mitte Ende August hat der deutsche Regisseur Sebastian Schipper seinen Film über die Irrungen und Wirrungen der Liebe genannt. Was zunächst so unscheinbar und beinahe nichts­sa­gend klingt, ergibt doch bei genauerer Betrach­tung einen tieferen Sinn: Wenn der August zu Ende geht, geht mit ihm der Sommer. Die warme, lichte Jahres­zeit verfliegt, macht Platz für den Herbst. Es wird kühler, dunkler. Auch Hanna (Marie Bäumer) und Thomas (Milan Peschel) stehen vor dem Herbst ihrer Beziehung, wie sie bald sehen werden.

Das Häuschen im Grünen verlangt nach Erneue­rung. Viel ist zu tun. Thomas schlägt vor, einen neuen Durchgang in eine der Wände zu schlagen. Hanna ist unsicher: Wird die Wand halten? Sie könnte tragend sein. Nur eine der kleinen Episoden, die vorsichtig, aber kaum über­sehbar andeuten, dass nicht nur das Haus baufällig ist. Auch die Beziehung der beiden Prot­ago­nisten könnte mit der durch­bro­chenen Wand in sich zusam­men­s­türzen.

Die spürbare Unruhe steigert sich, als Thomas seinen Bruder Friedrich (André Hennicke) einlädt. Der hat mit den Folgen eines Hörsturzes zu kämpfen. Seine Frau hat ihn verlassen, die Firma ist pleite. Friedrich ist Architekt. Ausge­rechnet. Als könnte er nicht nur das Häuschen reno­vieren, sondern gleich auch die Beziehung auf Vorder­mann bringen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Mit Friedrich tritt ein erster Fremd­körper in Hannas und Thomas’ Welt, in die scheinbar noch heitere Somme­ridylle.

Wie zum Ausgleich lädt Hanna ihre Paten­tochter Augustine (Anna Brüg­ge­mann) ein. Die Unruhe steigt. Die traute Zwei­sam­keit zwischen Hanna und ihrem Mann ist endgültig gewichen. Immer mehr Zeit verbringt Thomas mit Augustine, dem jugend­lich-frischen „Backfisch“, wie Regisseur Schipper sie nennt. Und Hanna entdeckt immer mehr Gemein­sam­keiten mit dem spröden Schwager, den sie doch eigent­lich gar nicht hatte hier haben wollen.

Bezeich­nend für die Situation ist ein altes leck­ge­schla­genes Boot, das die Vier am Ufer eines kleinen Sees finden. Wieder ein kleiner, aber deut­li­cher Hinweis: Nicht nur das Boot ist nicht mehr seetüchtig. Zu allem Überfluss wird auch noch die „Part­ner­tanne“ gefällt, die dem Häuschen Schatten spendete. Schipper über­treibt es mit der Symbolik. Weniger wäre hier mehr gewesen.
Dann der große Schnitt. Er kommt mit Hannas Vater. „Bo“, der alternde Playboy mit den langen weißen Haaren, reist stilecht mit 80er-Jahre-Sport­wagen und russi­scher Geliebten an. Von Romantik und lebens­langer Treue – »bis dass der Tod uns scheidet« – hält er nicht viel. »Wer hat uns denn verspro­chen, dass es auf der Welt für jeden jemanden gibt, zu dem er passt?«, fragt er provokant – und dem Zuschauer ist klar, worauf das abzielen soll: auf Hanna und Thomas. Die Eska­la­tion steht unmit­telbar bevor.

Mitte Ende August ist Sebastian Schippers dritter Spielfilm, lose angelehnt an Goethes Roman Die Wahl­ver­wandt­schaften. Eine »persön­liche Cover­ver­sion« des Klas­si­kers sollte der Film werden – und mehr wurde er tatsäch­lich nicht. Die Leis­tungen der Schau­spieler sind durchweg ordent­lich, können über­zeugen. Besonders herrlich anzu­schauen: Gert Voss als Bo. »Der Typ ist ein Arschloch«, hat er selbst gesagt. Recht hat er. Aber ein Arschloch, dem erst Voss so richtig Leben einhaucht.

Trotz der schau­spie­le­ri­schen Leis­tungen weist der Film deutliche Längen auf. Die Eska­la­tion ist beinahe durch­ge­hend zum Greifen nah, doch lässt sie dennoch lange auf sich warten, viel­leicht zu lange. Gerade diese Längen aber scheinen den Alltags­trott einer Beziehung passend wieder­zu­geben. Die beinahe greifbare Melan­cholie des Films wird unter­stri­chen durch kühle, niemals kräftige Farben. Selbst das schier endlose Gräser­meer um das Haus wirkt seltsam blass. Passend dazu die Filmmusik von Vic Chesnutt, deren ruhige, fast medi­ta­tive Klänge die zuneh­mende Distanz in Hannas und Thomas‘ Part­ner­schaft veran­schau­li­chen.

Die lange erwartete Eska­la­tion bricht ausge­rechnet in der Nacht von Hannas Geburtstag über das Häuschen im Grünen herein. All der ange­staute Frust, all die Risse in der Beziehung entladen sich in einem von Silves­ter­kra­chern unter­malten Finale. Etwas ratlos bleibt der Zuschauer zurück. Folgt für Thomas und Hanna auf den Herbst ihrer Beziehung der unaus­weich­liche Winter, das endgül­tige Aus? Oder gelingt ihnen ein Neuanfang, ein neuer Frühling der Liebe? Schipper deutet nur an, greift wieder zur Symbolik. Eine Antwort aber bleibt er schuldig.

Spiel mit den Elementen

Viele Andeu­tungen, wenige erklä­rende Dialoge: Der Film Mitte Ende August von Sebastian Schipper ist nicht die übliche Liebes­romanze

Manchmal gleicht das Leben einer chemi­schen Formel, einem Natur­ge­setz. Die Elemente A und B ziehen sich an, gehen eine Bindung ein. Gemeinsam sind sie stärker. Doch wenn plötzlich die Elemente C und D hinzu­kommen, entstehen neue Bindungen. Nur sind es im Leben nicht die Formeln, sondern die Gefühle, die die Chemie durch­ein­ander bringen. Zwei Menschen haben eine Beziehung, fühlen sich sicher und stärker. Kommen andere hinzu, wird plötzlich alles unsicher. Dieses chemische Gesetz der Wahl­ver­wandt­schaften griff Goethe in einem Roman 1809 auf. Regisseur Sebastian Schipper entdeckte darin 200 Jahre später den Stoff für seinen Film Mitte Ende August.

Die Elemente A und B heißen Hanna und Thomas. Sie lieben sich, kaufen sich ein altes Haus. Sie wollen es reno­vieren, einen schönen Sommer auf dem Land verbringen. Doch dann kommt Thomas’ Bruder Friedrich. Er ist das Element C. Auch Hannas Paten­tochter Augustine taucht auf und wird zu D. Mit den beiden ist das Vierer­paar aus der chemi­schen Gleichung des 90-minütigen Liebes­dramas komplett. Anfäng­lich stoßen sich vor allem Hanna und Friedrich ab wie zwei negative Teilchen. Ungeklärt bleibt, wieso. Die Verbin­dung zwischen Hanna und Thomas wird schwächer. Hanna und Friedrich, Thomas und Augustine entdecken Gemein­sam­keiten. Augustine bringt Licht in die Bruchbude, Friedrich repariert den Warm­was­ser­boiler. Hanna und Friedrich trinken gerne Tee, Thomas und Augustine gehen gerne zu McDonalds. Thomas und Friedrich beschließen eine der zwei Blau­tannen, soge­nannte Part­ner­tannen, vor dem Haus zu fällen. Ein Zeichen dafür, was den Kino­be­su­cher erwartet.

Das Spiel der Elemente beginnt. Auch wenn sie die stärkere Verbin­dung zunächst im Alko­hol­rausch suchen. Beim Wett­trinken mit Billig­fusel aus dem Tetrapack an einer Tank­stelle zeigen sich die ersten Zunei­gungen der Wahl­ver­wandt­schaften. Immer mehr entfernen sich Hanna und Thomas vonein­ander. Am Ende stehen sie vor der Frage, ob ihre Verbin­dung noch stark genug ist.

Sebastian Schipper entnimmt aus Goethes Wahl­ver­wandt­schaften nur die Vier­ecks­be­zie­hung. Mitte Ende August ist eine Erzählung, die zeigt, wie schnell eine Liebe zwischen zwei Menschen ins Wanken geraten kann. Erklä­rende Dialoge gibt es nicht. Dafür stürzt sich der Regisseur auf die verschie­denen Elemente der Bild­sprache. Hinweise wie eine Wand, die Hanna und Thomas in einer Kame­ra­ein­stel­lung trennt, zeigen dem Zuschauer was noch kommt. Schon das wech­selnde Licht zwischen warmem Kerzen­schein und kühler Campinglampe, zwischen dunklem Haus und hellem Tag sind eine Inter­pre­ta­tion der Liebes­ge­schichte.

Die schönste Erkenntnis im ganzen Film spricht Hanna in einer Diskus­sion beim allabend­li­chen Gelage mit Wein aus: »Die Wahrheit ist immer das, was passiert und nicht, was man sich vorstellt.« Die Wahrheit über Mitte Ende August ist aber auch, dass stel­len­weise zu lange gar nichts passiert. Szenen am Lager­feuer, wo nur das Knistern zu hören ist, beim Einreißen einer Wand, wo nur der dumpfe Aufprall des Hammers wider­hallt, Aufnahmen der schwarzen Hauskatze, die herum­strolcht während die Vögel zwit­schern und Grillen zirpen, nehmen dem Film das Tempo. Gleich­zeitig sind es so viele Andeu­tungen, die der Zuschauer inter­pre­tieren kann – vor allem, wenn die Katze von links nach rechts läuft.

Milan Peschel als Thomas sorgt mit seiner hilflosen, tapsigen Art und seinen Witzen noch für Lacher. Anfangs wirkt es komisch, wie er im Baumarkt versucht einen tonnen­schweren Hammer zu halten, wie er die gestreifte Krawatte seines Bruders mit den Worten »schönes Muster« lobt. Doch zunehmend wird er lästig. Der Zuschauer fragt sich unwei­ger­lich, wann kapiert Thomas endlich, was wirklich wichtig ist – eine Canna­bis­plan­tage oder ein bewohn­bares Haus? Ein kurzes Abenteuer im Rausch oder eine feste Beziehung? Erst durch das Auftau­chen von Hannas Vater Bo wird er von seiner Rolle als Teenager befreit. Marie Bäumers schau­spie­le­ri­sche Leistung, das Schwanken und die Zerris­sen­heit der Hanna, gerät über die Scherze in den Hinter­grund. Nur wenn Milan Peschel gerade keinen Text hat und sie über Leben und Liebe philo­so­phiert, hat sie eine Chance. Friedrich (André Hennicke) sucht seinen Platz. Augustine (Anna Brüg­ge­mann) ist einfach immer nur da, trinkt mit. Ihre Beweg­gründe bleiben ein Geheimnis.

»Viel­leicht ist irgend­wann der Zeitpunkt gekommen, wo wir nicht mehr blind­lings überall hinlaufen müssen, um zu gucken, was da ist«, sagt Hanna zu Thomas nach dem großen Bruch. Noch ein toller Satz im Drehbuch. Von ihnen gibt es leider zu wenige, dafür verharren die Liebenden in Schweigen. In Groß­auf­nahmen soll der Zuschauer die Gefühle und Gedanken vom Gesicht ablesen. So erschließen sich manche Reak­tionen und Hand­lungen wohl nur dem, der gerne zwischen den Schnitten und Szenen liest und Bild­sprache von gefällten Part­ner­tannen, einge­ris­senen Wänden, zertrüm­merten Gitarren zu schätzen weiß.

Wer lieber Block­buster-Kino schaut als deutsche Filme, der sollte Mitte Ende August nicht sehen. Wer nach einem Film nicht mehr über das Gesehene nach­denken möchte, sollte Mitte Ende August nicht sehen. Wer ein abruptes Ende mit Raum zur Inter­pre­ta­tion nicht mag, sollte Mitte Ende August ebenfalls nicht sehen.

Der unver­klärte Film wird nicht zu einer jugend­li­chen Romanze à la Romeo und Julia. Verfällt nicht, wie Hannas Vater es nennt, dem »bis-dass-der-Tod-euch-scheidet-Terror« gewöhn­li­cher Liebes­ge­schichten. Für Sebastian Schipper ist sein Film »seine ganz persön­liche Cover­ver­sion des ersten Teils von Goethes Wahl­ver­wandt­schaften«. Doch wer lieber eine dahin­plät­schernde Liebes­ge­schichte im Kino sieht, muss befürchten, dass Sebastian Schipper noch den zweiten Teil der Wahl­ver­wandt­schaften verfilmen könnte.

Mehr als nur ein Seitensprung

Goethe hat es schon getan. Bereits vor 200 Jahren. Nun stellt Sebastian Schipper, Regisseur aus Hamburg, eine Liebes­be­zie­hung auf die Probe

Wie sagt man seinem Partner, dass man ihn nicht mehr liebt? Dass er gar oft nicht reicht, für das was man sich wünscht? Schipper stellt sich diesen Fragen. Er zeigt ein Paar von Mitt­dreißi­gern, die sich durch das Leben wursch­teln und auch in ihrer Beziehung zu lange unent­schlossen treiben lassen.

Hanna (Marie Bäumer) liebt ihn doch, auch nach all den Jahren noch. Doch um das wieder richtig zu fühlen, ist sie gedacht, die Zeit im Haus am See, weit weg von all den Unzu­läng­lich­keiten, die in der Stadt zu gerne locken, nur ablenken von dem was wichtig wäre. Darum haben Thomas (Milan Poschel) und sie die Bruchbude am See gekauft, zum Schnäpp­chen­preis von 80.000 Euro, um das zu retten, was auf der Kippe steht: ihr Leben mitein­ander.
Das Glück scheint wieder greifbar nah, hat durch den Hauskauf an Fundament gewonnen. »Ich glaube die letzten Tage waren die schönsten seit Jahren«, meint Hanna. Sonst reden sie und Thomas nicht viel.

Vic Chesnutt spricht für sie. Die Filmmusik, sie redet. Der Musiker aus England beschwört mit „Come into my world“ die Liebe. Mit zermürbter Stimme singt er von dem, was Liebende sich für ihr ganzes Leben unver­än­dert wünschen: »Nimm diese Hände, sie sind gemacht für die Liebe. Und das Herz, es schlägt für zwei. Und die Augen sind da, um nur dich zu sehen…«

Hanna und Thomas bleiben jedoch nicht lange ungestört. Hannas Patenkind Augustine (Anna Brüg­ge­mann) und Thomas Bruder Friedrich (Andrè Hennecke) drängen in ihre Welt und sorgen dafür, dass die beiden gefühlt mehr und mehr ausein­ander driften, als aufmerk­samer aufein­ander zugehen.
Darüber reden tun sie aller­dings nicht. Einfacher fällt das Feiern, Trinken, mit Augustine, August genannt, und Friedrich. Und Schluck um Schluck um Schluck verweicht, was sie bedrückt. Nur dann schaut Hanna noch gelöst, entspannt, fast glücklich. Sonst fragen ihre Augen mit Blick auf Thomas unentwegt, »was mach ich nur mit dir?«, doch auch die Tränen kennen nur den Weg über ihre Wangen.

Wie sagt man einem Kindskopf von Mann, dass er nicht Manns genug ist? Thomas würde es auch nicht verstehen. Denn Jungs mit blonden Wuschel­haaren, die den ganzen Tag nur grinsen und unbe­schwert Unüber­legtes quasseln, sind dufte Kumpels. Doch in der Bezie­hungs-, Lebens­pla­nung sind sie wie kleine Kinder, die beim Spat­zieren gehen nur an den nächsten Eisstand denken. »Da muss eine Tür in diese Wand. Die Statik berechnen, ach wozu?« So ist ein Typ mit Wuschel­haaren. Und schon kauft Thomas einen Vorschlag­hammer und drischt ein Loch in die Wand im Haus am See. Weit kommt er dabei nicht. Er baut in seinem Kopf längst schon den Kamin im anderen Zimmer. Hanna ist genervt.
Thomas Bruder Friedrich ist da ganz anders. Er ist Architekt, gefeuert zwar, doch hat der Mann mit dem Reli­gi­ons­leh­rer­ge­sicht etwas aus sich gemacht. Er fährt einen Audi und kann sich das Leben leisten. Seine Frau ist mit den Kindern abgehauen, darüber reden will er nicht, doch macht er weiter. Er bringt die Sachen zu Ende, die er anpackt. Thomas Loch in der Wand am Haus am See macht er zur Tür. Für den Kamin im anderen Zimmer macht er sich Skizzen. Zu Hannas Geburtstag kocht Friedrich Wolfs­barsch mit Salz­kar­tof­feln und als Geschenk hat er in liebe­voller Hand­ar­beit das Boot am See wieder wasser­taug­lich gemacht.

Und was macht Thomas? Er zündet zu seiner Freude ein Feuerwerk, kann nicht verstehen, dass Hanna es nicht mag, sie ausflippt. August findet es doch auch toll, was er macht. Da fragt sich dann auch der Zuschauer; Warum kann denn nicht Thomas etwas mehr von Friedrich und Hanna nicht etwas mehr von August haben?
Es sind oft nur die klit­ze­kleinen Beson­der­heiten, die dem eignen Partner fehlen und in den anderen sichtbar werden, doch kommt es wohl durch sie, dass Hanna Zeit mit Thomas Bruder verbringt und Thomas sie mit ihrem Patenkind betrügt.

Die Unzu­frie­den­heit, die Zweifel, der Vertrau­ens­bruch schwappt von der Leinwand rein in den Kinosaal. Mitte Ende August zeichnet ein Bild, das jeder von sich weisen möchte. Und immerhin wirkt vieles so, als spiele der Film in einer von uns weit entfernten Realität, in einer schon vergan­genen Zeit. Man kennt den Inhalt zwar, doch wie den Stoff aus dem Geschich­te­buch. Die Leinwand schimmert in einem leichten Gelbton, irgendwie so, als sähe man einen Film in einem der ersten Farb­fern­seh­geräte. Hanna und Thomas verlieren sich in ihrem Sein, stets knapp bei Kasse und doch im Urlaub, einfach Leben, das sich die Hippies damals, aber heute ja kein Mensch mehr leisten könnte. Ihr alter, bordeaux­roter Citroen ist rundherum verbeult, zerkratzt und immer wieder nur provi­so­risch repariert worden, dass heut­zu­tage kein Mensch mehr damit fahren würde.
Ja, es fällt einfach, Hannas und Thomas Welt weit von sich weg zu schieben. Doch damit lässt uns Schipper nicht davon­kommen: »Für mich spielt das im Heut’ und Jetzt. In meinem, deinen eignen Haus.«

Natürlich doch, und dennoch erstaun­lich, zumal Johann Wolfgang Goethe mit seinem Roman Die Wahl­ver­wandt­schaften Ideen­lie­fe­rant für Schipper war. Der gute Goethe von 1809. Voller Vorur­teile, wie doch der Großteil seiner Nicht­leser, stand Schipper ihm gegenüber. Aus Buchnot hat er am Strand im Urlaub das quitsch­gelbe Heftchen aufge­knickt und war über­rascht, wie nahe ihm das ging.
Und so sind Goethes Charlotte und Eduard zwei­hun­dert Jahre später Schippers Hanna und Thomas. Das Phänomen träger, zermürbter Bezie­hungen, unzu­frie­dener, betrü­gender Partner ist eben zeitlos und alles andere, als einfach zu verdrängen.

Das sieht auch Hanna ein und meint: »Ich glaube, ich glaube, wir müssen uns entscheiden. Irgend­wann ist es Zeit, dass wir nicht mehr herum­fahren können, wie wir wollen, nur weil wir dort nicht waren.« Hanna und Thomas sind am Nullpunkt ange­kommen. Sie haben keine Kinder, das Haus am See kann sie auch nicht zusammen halten. Aber was kommt nach einem Seiten­sprung?

Thomas steht beschämt im Zimmer, holt Luft und sagt »Hallo«. Hanna, die neben ihm am Fenster lehnt, blickt auf und sagt: »Hallo.«

Leise, packend und anstrengend

Sebastian Schippers Film Mitte Ende August erklärt nicht, er erzählt nur

Leise schleicht er sich zurück in die Gedanken. Sche­men­haft, an der Grenze zum Unbe­wussten. Er verun­si­chert, wie ein Traum, der zu real war, um ihn zu vergessen. Der neue Kinofilm Mitte Ende August von Sebastian Schipper fesselt und ist zugleich anstren­gend, weil der Zuschauer aus Andeu­tungen alle Schlüsse selbst ziehen muss. Der Film erklärt nicht, er erzählt: Von Hanna und Thomas, gespielt von Marie Bäumer und Milan Peschel, die sich eine Bruchbude auf dem Land gekauft haben, verliebt und voll Freude auf die Zeit zu zweit. Bis Friedrich auftaucht, Thomas Bruder. Seine Frau hat ihn sitzen lassen, den Job als Architekt ist er auch los. »Ich hab ihm gesagt, dass er kommen kann. Ist das jetzt blöd« Blöd ist es für Hanna, aber sie akzep­tiert es, für Thomas. »Dann bist Du für ne Woche ein guter Bruder. Und ich bin Hanna.« Zum Ausgleich lädt Hanna ihr erwach­senes Patenkind Augustine ein. Am Ende der Woche flüchtet sich Hanna in Fried­richs Arme, schläft Thomas mit Augustine. Leiden­schaft­lich, verzwei­felt, auf der Suche. Es bleibt das Unbehagen, dass die Realität anders sein kann, als man sie einschätzt. In der Beziehung zwischen Hanna und Thomas muss es etwas gegeben haben, was nicht passte, anders als es zunächst aussah, anders, als den beiden selbst klar war: Am Anfang prusten sie beide beim Hauskauf mitten in der Rede der Notarin los, weil Thomas? Stuhl knarrt. Sie rennen wie Kinder über die Wiese zu ihrem neuen Zuhause und dann Hand in Hand die enge Treppe hoch, zu den Zimmern mit den siebziger Jahre Tapeten. »Ich mag deinen Schwanz so gerne«, sagt Hanna am nächsten Morgen und »Ich glaub die letzten zwei Tage waren die schönsten seit Jahren.«

Doch Szene um Szene wird klarer, dass die beiden grund­ver­schie­dene Charak­tere sind, zu unter­schied­lich viel­leicht für eine Beziehung. »Ich brauch einfach einen Plan, von dem ich glauben kann, dass er klappt«, sagt Hanna, als Thomas immer wieder verrückte Reno­vie­rungs­vor­schläge macht. Er will eine Wand raus­reißen. »Ist die nicht tragend.« Egal, er will es probieren, es ist jetzt doch ihr Haus. Hanna hockt mit dem vers­törten Friedrich allein am dunklen Küchen­tisch, weil Thomas mit der einzigen Lampe aufs Klo verschwunden ist. Es ist das erste Mal, dass Friedrich über seinen Kummer spricht. Sie hört ihm zu, obwohl sie ihn nicht besonders mag, den Mann, den André Hennicke mit seinem ausge­zehrten Gesicht so glaubhaft spielt. Der korrekte Friedrich spricht, bis Thomas in seinem Achsels­hirt herein­pol­tert, wie ein großes Kind, das seinen Bruder mit Faxen trösten will.

In den folgenden Tagen hängt sich Friedrich in die Arbeit, fällt Bäume, schleift das Boot am See ab, Hanna spachtelt die löchrigen Wände. Nur Thomas spielt stun­den­lang Gitarre und raucht. Thomas will ein lachs- und senf­far­benes Sofa. Hanna will es nicht. Er kauft es trotzdem und lümmelt unbe­schwert darauf, mit Augustine. »Schau Hanna, man kann drauf hüpfen«, sagt Augustine, gespielt von Anna Brüg­ge­mann, mit ihrer unschul­digen blonden Flecht­frisur. Hanna nimmt Thomas Kinn in die Hand, küsst ihn. »Schön, dass du dich freust«, sagt sie. Leise, wütend, verletzt.

Ein Gespräch zwischen Hanna und Thomas, in dem sie ihre Gefühle in Worte fassen, gibt es nicht. So muss der Zuschauer genau beob­achten, bekommt mehr Nuancen mit, als ein Dialog ihm offen­baren könnte. Aber letztlich bleibt er so auch immer im Unklaren.

Das ungute Gefühl beim Zuschauer ist auch deshalb so stark, weil das Vertrauen, die Liebe und die Unbe­schwert­heit zwischen Hanna und Thomas langsam schwinden, fast unbemerkt. Weil sich die Zuneigung zwischen den neuen Paaren ebenso leise und heimlich entwi­ckelt. »Man kann das Meer nicht sehen wie es näher kommt«, sagt Regisseur Schipper. »Aber man schaut wieder hin, und plötzlich ist es viel näher.« Das ist es, was ihn so inter­es­siert, sagt er, das »unsagbar Feine zwischen zwei Menschen.« Dieses Feine hat Schipper in einem Roman beschrieben gefunden, nach dessen Idee er das Drehbuch verfasst hat: Die Wahl­ver­wand­schaften von Goethe. Schipper saß am Strand und las in dem gelben Reklam­heft­chen. Wider­willig erst, weil er mit dem erfolgs­ver­wöhnten, bedeu­tungs­schwanger schrei­benden Autor gar nichts anfangen konnte. Doch dann haben ihn die sensiblen Beob­ach­tungen gepackt, die er Goethe, »diesem Dröhner«, nicht zugetraut hatte. So schrieb Schipper seine »ganz persön­liche Cover­ver­sion« des Klas­si­kers.

Schippers Film erinnert an einen Traum, weil er gleich­zeitig echt wirkt und doch unwirk­lich: Die meisten der Dialoge könnten in ihrer Authen­ti­zität impro­vi­siert sein, obwohl sie bei Dreh­be­ginn schon fest­standen. »Wir haben sie aber zuvor zusammen erar­beitet«, sagt Schipper. Manchmal aber klingen die sparsam einge­setzten Texte unglaub­würdig philo­so­phisch und künstlich. »Viel­leicht ist irgend­wann der Zeitpunkt gekommen, wo wir nicht mehr blind­lings überall hinlaufen müssen, um zu gucken, was da ist«, sagt Hanna. Nachdem ihr Mann fremd­ge­gangen ist.

Viele Szenen bleiben seltsam ungreifbar, weil sich wie im Traum Schemen mit klaren Eindrü­cken mischen. Das Diffuse bannt den Zuschauer, wirkt aber irgend­wann ermüdend. Das Gefühl entsteht durch das extreme Spiel mit Schärfe und Unschärfe. Die Land­schaft hinter den Figuren verschwimmt oft bis zur Unkennt­lich­keit. Manchmal ist sogar nur der Sprecher scharf zu sehen, schon sein Partner verschwimmt. Hin und wieder sind alle Konturen scharf, doch die Figuren nur Sche­ren­schnitte vor hellem Hinter­grund. Selten sind starke Farben zu sehen, meist bleibt alles gedeckt, in Sepia draußen vor dem Haus, bläulich drinnen. Natürlich und doch unwirk­lich.

Die Musik von Vic Chesnutt, oft melan­cho­li­sche Akustik-Gitarre, dominiert Teile des Films, doch die Hinter­grund­geräu­sche, das Knistern der Schritte im dürren Gras, das Rauschen der Bäume, bleibt immer merk­würdig stark. Wenn auch nicht so dominant wie am Anfang, als Hanna und Thomas allein sind mit sich, mit ihren Geräu­schen. In ihrer Welt, die sich bald ändern wird. Weil sie anders ist, als sie scheint.