30.07.2009

»Wie ein live einge­spieltes Musik­album«

Mitte Ende Augst
Picknick mit Katze: ein erhebendes Gefühl
(Foto: Senator/Central)

Regisseur Sebastian Schipper über seinen neuen Film Mitte Ende August

Sebastian Schippers neuer Film Mitte Ende August läuft ab Donnerstag im Kino. Ein ausführ­li­ches Gespräch über diesen Film, übers Filme­ma­chen überhaupt, über Schau­spieler, Lesen im Urlaub, und darüber, warum man jeden Abend mindes­tens drei Bier trinken sollte – geführt von Rüdiger Suchsland im Juni 2009 während des Festivals des Deutschen Films in Ludwigs­hafen.

artechock: Sie sind selber schuld, dass diese Frage kommt: Goethes »Wahl­ver­wand­schaften« haben Sie zum, Film geschrieben, habe Sie inspi­riert – was hat Mitte Ende August mit den Wahl­ver­wand­schaften zu tun? Und warum Wahl­ver­wand­schaften heute und jetzt?

Schipper: Für mich war Goethe erstmal einer von der CDU. Der war mir fremd. Ich habe mich in meinem jugend­li­chen Eifer mehr den Geschei­terten nahe­ge­fühlt: Kleist, Büchner, Hölderlin, Menschen, die es im Leben nicht hinge­kriegt haben.
Für mich war Goethe immer ein Politiker, der auch schreibt, oder ein Schreiber, der Politiker ist, und ganz viel Geld hat und ganz viel Macht. Der Faust war mir immer fremd und dröhnend. Ich war voller Ressen­ti­ments. Aber ich hatte im Urlaub keine Lektüre mehr. Mir sind die Bücher ausge­gangen. Und dann war da dieses quietsch­gelbe Reclam-Heft, das ich dann eher mürrisch am Strand aufge­knickt habe, und ich fand es fantas­tisch.

Ich habe mich aber immer schon für Literatur inter­es­siert, die geschrieben wurde, bevor es Film gab. Weil ich das Gefühl habe, dass es viel Literatur gibt, die sich danach sehnt, verfilmt zu werden.
Ich war geschockt über die Feinheit, mit der da Menschen und mensch­liche Bezie­hungen beschrieben werden. Die Wahl­ver­wand­schaften bestehen eigent­lich wie der Faust aus zwei Teilen. abstrakt und asso­ziativ und alptraum­haft. Mein Film ist eine Adaption des ersten Teils.

artechock: So fern ich mich an die Wahl­ver­wandt­schaften korrekt erinnere, gibt es zwei größere Unter­schiede zu ihrem Film: Das junge Mädchen Ottilie, bei Ihnen Augustine, stirbt im Buch. Und das Paar ist am Ende nicht mehr zusammen...

Schipper: Die trennen sich und sterben im zweiten Teil mehr oder minder alle. Das war für mich... das wollte ich irgendwie nicht. Ich glaube auch, dass Ottilie schon anders ist, als Augustine. Ein Unter­schied: Ottilie ist eine junge Frau, die haupt­säch­lich eine junge Frau ist, und die Männer verwirrt. Das wollte ich nicht. Sie ist mehr als ein Objekt.
Ich habe das Buch aber nur einmal gelesen, und habe es dann sehr schnell einfach umge­ar­beitet. Die Adaption ist ja auch sehr frei. Ich habe alles geklaut, was mir gut gefallen hat. Das war haupt­säch­lich lust­ge­trieben. Ich wollte ja nicht meine ehema­ligen Deutsch­lehrer beein­dru­cken. Und es geht mir auch nicht um diesen bildungs­bür­ger­li­chen Touch. Ich hatte schon einige Gespräche über Goethe gehabt, es gibt Leute, die bekommen dann so einen Goethe-Druck...

Ich bin kein Fachmann, ich habe es sehr persön­lich genommen. Im Goethe-Quiz würde ich in jedem Fall unter­liegen... Es war ein Gefühl, wie eine fremde Villa zu betreten, und die Räume waren fein und schön. Das hat mich so ange­spro­chen, es war nicht fremd und laut, sondern ganz unge­schützt.

Aber die Lite­ra­tur­his­to­riker sollen gerne kommen... nein, es gibt ja auch manche Leute, die sagen: Wahl­ver­wand­schaften, naja, das hast Du Dir jetzt auch so ein bisschen ange­schminkt.
Das hat auch damit zu tun, dass bei uns Kultur so sehr ernst genommen wird – und das finde ich ja im Prinzip toll. Das führt aber auch zu dieser ewigen »E gegen U«-Diskus­sion, Unter­hal­tung gegen Ernst. Es ist bei uns in Deutsch­land ganz wichtig, dass die Unter­hal­tung ja nicht ernst ist. Die muss beweisen, dass sie mit diesem ganzen »verkopften Kram« nichts zu tun hat.
Dabei müssen Komödien auch ernst sein. Da geht es immer auch um Drama. Das darf aber nicht sein. Und auf der anderen Seite die ernste Kultur: Sie darf auf gar keinen Fall unter­hal­tend sein. Das ist ja Unfug! Kultur ist Kultur. Etwas, das leben muss. Ich will, dass die Komödien, nicht irgend­wel­cher Klamauk sind, sondern, dass mir das etwas über Menschen erzählt.

artechock: Wie trans­por­tiert man einen Stoff, der 200 Jahre alt ist, in die Jetztzeit? Wolfgang Höbel hat im Spiegel geschrieben, ihr Film beschreibe den Zustand einer Gene­ra­tion, die mit ihren Gefühlen Probleme hat, die diese Gefühle nicht richtig gut ausdrü­cken kann, die unfähig ist, intensiv zu leben, die immer ein wenig »im Ungefähr« lebt, die sich nicht entscheiden will.
Finden Sie sich in so einer These wieder? Ging es Ihnen überhaupt um diese Gene­ra­tion der »Thir­ty­so­me­things«, der sie ja auch selbst angehören?

Schipper: Man macht das ja viel weniger schlau. Es gibt ja den Satz eines Autors: »Ich schreibe ein Buch, um zu lesen, was drin steht.« Analog dazu kann ich sagen: Worum es im Film überhaupt geht, werde ich erst noch heraus­finden. Im Moment habe ich das Gefühl, das verbor­gene Thema des Films ist Würde. Alle Figuren in diesem Film versuchen, in dem Wahnsinn der Gefühle ihre Würde zu bewahren. Vor allen Dingen alleine. Ich glaube, dass Menschen viel­leicht gar nicht dazu gemacht sind, der Vernunft zu folgen, oder die Wahrheit heraus­zu­finden. Sondern viel­leicht wollen wir alle nur überleben. Ich habe das Gefühl, das alle in dem Film einfach überleben wollen. Das weiß ich aber nicht alles schon vorher. Und es ist auch keine Analyse meiner Gene­ra­tion. Sondern die Geschichte zieht mich einfach an.

Wir haben den Film sehr privat gemacht, ihn in einem Haus zusammen erar­beitet. Wir haben uns vorge­stellt, was wir kennen. Die Frage war immer: Was kennen wir, was verstehen wir, was haben wir schon erlebt?

artechock: Hatten sie filmische Vorbilder? Die Kamera ist relativ unruhig, erinnert an einige deutsche Filme, auch an Dogma-Bewegung...

Schipper: Das Fest ist ja auf einer ganz kruden Digi­tal­ka­mera gedreht. Wir haben auf 35mm gedreht.

artechock: Aber die Kamera wackelt ziemlich...

Schipper: Das tut mir auch leid, wenn die wackelt, aber wir wollten nicht, dass das wirkt, wie Schau­spieler, die uns was vorspielen. Die Kamera wackelt halt nicht, wenn man vorher festlegt, was die Schau­spieler tun sollen. Dann macht man als nächstes Markie­rungen auf dem Boden, dann ist es so, dass die Schau­spieler sich auf die Markie­rungen konzen­trierten müssen und darauf, dass ihr den Schritt noch macht, dass die Lampe Euch erwischt... Wenn man das alles von ihnen fern­halten will, dann muss die Kamera halt manchmal wackeln.

artechock: Also Schau­spiel­ar­beit war zentral. Spielt es da eine Rolle, dass Sie selbst als Schau­spieler begannen?

Schipper: Viel­leicht. Die Schau­spieler haben nicht impro­vi­siert. Aber wir haben uns mit der Kamera so bewegt, dass die Schau­spieler machen konnten, was sie wollten. Mit den Schau­spie­lern. Wir haben immer die ganze Szene durch­ge­spielt von Anfang bis Ende. Für diesen Film war es wichtig, dass er wie ein live einge­spieltes Musik­album wirkt, dass nicht tech­ni­sche Fehler­lo­sig­keit unser Ziel war, sondern dass es lebt, und dass die Leute zusammen spielen. Für Schau­spieler macht das einen großen Unter­schied – das weiß ich, weil ich mal Schau­spieler war.

Aber auch meine Erfah­rungen mit früheren Filmen spielt eine Rolle: Wenn man eine Szene mit vier Leute klassisch drehen würde, würde man eine Einstel­lung drehen, wo alle drauf sind, je eine Einstel­lung mit den einzelnen im Close-Up, viel­leicht noch mit zweien, dann würde man noch Close-Ups der Gläser filmen, einmal von hinten, und einzelne Reak­tionen und dann das selbe von Außen. Jede dieser Einstel­lungen filmt man, wenn man schnell ist, vier Mal. Denn hier muss ein Satz wieder­holt werden, dort war es in der Probe besser... Dann kommt noch ein Witz drin vor, wenn man den das erste Mal macht, lacht das ganze Team. Wenn dann acht Einstel­lungen drei Mal gedreht werden, lacht keiner mehr – das ist dann fürs Team und Schau­spieler nicht sehr moti­vie­rend.
Das wollte ich diesmal nicht! Ich wollte, dass die wich­tigsten die Figuren sind, ich wollte den Schau­spie­lern Raum geben, sie sollten im Mittel­punkt stehen, ich wollte sie nicht isolieren. Diesen ganzen Kram, diesen Dompteurs-Kram. Mir ging es oft so, dass ich bei Ein Freund von mir so ein Dompteur war, der immer Lust und Mut einführt. Das wollte ich nicht. Ich wollte die Schau­spieler und die Figuren in den Mittel­punkt stellen. Und trotzdem einen visuellen Film machen. Wir wollten nicht hampeln...

artechock: Sagt ja auch keiner. Der Film hat ja so etwas Fran­zö­si­sches: Eine sehr große Leich­tig­keit...

Schipper: Ja, das eigent­liche bei Dogma für Filme­ma­cher ist ja, dass diese geris­senen Dänen sich als Regeln auferlegt haben, worauf sie am meisten Lust haben. Die haben ja gesagt, was nervt beim Film: Das man immer auf den Ton wartet, bis das Licht gebaut wird. Die ganzen Sachen, die nerven haben sie durchs Regelwerk verboten. Das ist so, wie wenn sie gesagt haben: Wir müssen abends immer mindes­tens drei Bier trinken. Wer das nicht tut, verstößt gegen die Regeln und wird raus­ge­schmissen. So muss man sich das glaube ich vorstellen.

Das ist glaube ich das, was uns am ehesten getrieben hat: Das wir gesagt haben: Wie schaffen wir eine Situation, auf die wir am aller­meisten Lust haben. So dass Lust und Freiheit, und das was wir immer gehofft haben, dass das mit Filme­ma­chen zu tun hat – wie kann das am aller­meisten da sein, während wir den Film drehen?

artechock: Was mir auch sehr gut an ihrem Film gefallen hat, ist das Sound­de­sign und die Musik. Das ist dezent, sie bettet den Film wunderbar ein. Das fällt einem sofort auf, weil nicht bei jedem Gefühl die Streicher kommen...

Schipper: Das ist der erste Film, den ich gemacht habe, der einen richtigen Score hat. Es ist also Musik für den Film kompo­niert worden. Das wollte ich nie machen. Weil ich davor eine Heiden­angst hatte. Ich liebe Musik so sehr. Aber ich konnte mir das nicht vorstellen. Ich dachte, da kann nur Zucker­guss bei heraus­kommen. Da wird nochmal das Gleiche verdop­pelt, da wird’s irgendwie triefend...

Die Musik, die der Film jetzt hat, ist von Vic Chesnut. Ein ameri­ka­ni­scher Singer/Song­writer. Als ich anfing, mir den Gedanken zu erlauben, dass ich Filme­ma­cher werden will, da habe ich ganz viel Vic Chesnut gehört. Vic Chesnut war auch der einzige, der mich jemals dazu gebracht hat, zuhause in meinem WG-Zimmer etwas an die Wand zu schreiben, eine Zeile aus seinen Songs: Life would make one whale of a movie. Das hat mich damals wahn­sinnig berührt – ist ein bisschen senti­mental, aber ich fand das ganz toll.

Als mir klar wurde, dass dieser Film wahr­schein­lich Musik braucht für die Bilder, hat er in Berlin ein Konzert gegeben. Das Problem war, dass das Konzert so unglaub­lich gut war, dass ich danach nicht den Mumm hatte, ihn anzu­spre­chen. Der saß dann da, aber ich dachte, ich kann jetzt nicht einfach hingehen, und sagen: »Mir hat das ganz gut gefallen, was du da gemacht hast, ich würde auch gerne, dass du die Musik zu meinem Film machst...« Das war für mich nicht vorstellbar. Dann hat es ein paar glück­liche Umstände gebraucht, dass doch noch ein Kontakt zustande gekommen ist, er den Film ganz toll fand, und ab da fand ich dann morgens ganz oft im Anhang von e-mails Musik von ihm, von der ich wusste, dass e die irgendwo in Athens, Georgia in seinem kleinen Mini-Studio aufge­nommen hatte. Das war für mich fast wie so eine geheime Liebes­be­zie­hung. Das hatte etwas Verbo­tenes. Ich dachte, das kann gar nicht sein...

Und dann kam auch ziemlich am Anfang die ganz große Mutprobe für mich, dass ich diesem wirklich guten, von mir bewun­derten Musiker den Vorschlag gemacht habe, ob er nicht einen Song von Kylie Mynogue covern könnte. Dass ist der Song, der am Ende beim Abspann läuft, analog zu dem Song, der am Anfang beim Zähne­putzen läuft von Kylie Mynogue. Aber er war ganz entspannt damit. Er hat das cheesige Come into my world, das man so im Radio leiser dreht, das hat er ganz ernst genommen und ganz lyrisch umgesetzt. Für mich war die Zusam­men­ar­beit ein großes Erlebnis. Ich habe den immer noch nicht getroffen. Wir haben nur über E-Mail und Telefon korre­spon­diert.

artechock: Wie haben Sie Ihre Schau­spieler gefunden?

Schipper: Mir geht es immer so, wenn ich meine Filme fertig habe, dass ich mir auch nicht nur im Ansatz irgend­einen anderen Schau­spieler in den gleichen Rollen vorstellen kann. Wie viele psycho­lo­gi­sche Fall­stricke da eigent­lich vorhanden gewesen wären... Wie viele Fettnäpfe für Over­ac­ting gerade für Anna Brüg­ge­mann und André Hennecke als die Stören­friede des Ganzen... Es ist der absolute Wahnsinn, mit welcher Eleganz und welcher Selbst­ver­s­tänd­lich­keit sie sich diesen Schuh »Wir sind schuldig« nicht angezogen haben. Sondern ihre Geschichten erzählt haben. Ich bin da sehr glücklich mit.
Anna Brüg­ge­mann ist 28. Bei Anna ist es wirklich ein Wunder, dass sie 18-Jährige spielen kann. Wir haben uns so große Sorgen gemacht vor der Sexszene, aber sie war so wahn­sinnig ruhig. Milan Peschel dagegen war ja so unfassbar nervös, wenn es darum ging, sie nur zu küssen...

artechock: Nach welchen Kriterien haben Sie sie ausge­wählt?

Schipper: Ich bin kein Fan von endlosen Castings. Ich habe das Gefühl, dass die Leistung eines Schau­spie­lers nur entstehen kann, wenn sie sich mit ins Boot setzen. Das heißt: Ich kann nicht zehn oder zwanzig Leute antanzen lassen, in der olym­pi­schen Disziplin, mir zu beweisen, wie gut sie der ältere Bruder sein können. Sondern ich kann nur sagen: Ok, wir machen’s zusammen. Und wenn Du kein Tor schießt, dann ist das mindes­tens so sehr Dein Problem, wie meins. Das muss die Basis sein.

Ich bin überhaupt kein Fan von dem, was alle immer über Hitchcock sagen: Dass der die Filme schon vorher im Kopf abgedreht hatte. Das versteh' ich nicht. Da muss doch was passieren. Das inter­es­siert mich auch, was da passiert. Aber wenn es einen Aspekt gibt, den ich daran verstehe, dann den der Besetzung.

Ich kann einfach nur sagen, dass die Leute die Rollen gespielt haben, von denen ich ganz früh, zum Teil schon beim Schreiben, dachte, dass die das spielen müssen. Der einzige Aspekt, weswegen ich irgend­wann mal nicht hundert­pro­zentig wusste, ob Andre das wirklich spielen sollte, war mein Kopf. Weil mein Kopf mir gesagt hat: Ja, aber der hat doch mit Marie Bäumer schon mal einen tollen Film gemacht. Muss doch noch jemand anderen geben. Aber dann kommt wieder der Bauch durch: Quatsch, das wird jetzt gemacht. Wir haben dann noch mal ein ganz tolles Arbeits­treffen gehabt, so würde ich das eher nennen...

artechock: Und Gert Voss... Eine tolle Figur, aber sie kommt irgendwie aus einem anderen Film...

Schipper: Ich war Anfang der 90er-Jahre an der Schau­spiel­schule. Wenn ich damals gesagt hätte, ich hätte, dass ich einmal etwas mit Gert Voss zu tun haben würde, hätte ich ein einsames Leben geführt. Da wäre mir der Neid aller gewiss gewesen. Super­la­tive sind bescheuert, aber manchmal... Gert Voss ist einfach die Inkar­na­tion des deutschen Sprech­thea­ters der Neunziger Jahre, der Robert-de-Niro des Sprech­thea­ters.
Für mich bedeutet das wahn­sinnig viel, dass er einfach diese Arsch­bombe in den Film rein­bringt.

artechock: Haben Sie den insze­niert, oder hat er einfach das gemacht, was er wollte?

Schipper: Nee! Was an Gert toll ist: In dem Alter sind auch gute Schau­spieler einfach Teflon­pfannen: Die nehmen nichts mehr auf. Die sagen Dir: »Jaja, Junge, das mach' ich Dir. Mach' Dir mal keine Sorgen.« Und das wird dann auch gut. Aber die riskieren nichts mehr. Die wissen, was sie können, und das delivern die. Die haben dann auch gar keine Lust, da großartig darüber zu reden.
Und Gert war so porös und so nervös und so aufgeregt... Er liebt Film.

artechock: Er hat aber nur in ganz wenigen Filmen gespielt...

Schipper: Der hat in seinem Leben nur ganz wenig gemacht. Der hat auch echt Sachen gespielt, die waren super­schlecht. Aber das spricht nur für ihn, weil er was riskiert. Das ist es, worauf es ankommt.

Beim Film müssen wir ja nicht die Punkt­lan­dung machen, sondern können was riskieren. Diese Atmo­sphäre wollte ich, eine in der auch mal was miss­lingen darf... Ich war ja selbst mal Schau­spieler, darum darf ich auch mal sagen: Die Unsi­cher­heit ist etwas ganz ganz ganz Wichtiges für Schau­spieler.

artechock: Und für einen Regisseur?

Schipper: Weniger. Man muss den Schau­spie­lern Sicher­heit geben, zumindest in Bezug darauf, das man weiß, was man sucht. Fallen lassen tut man sich, wenn man sicher ist, dass man sich nicht weh tut. Mitte Ende August ist ohne diese Form von Fallen­lassen gar nicht denkbar. Weil gar nicht mal so große Sachen passieren, wo man sich fallen lassen muss. Aber unendlich viele kleine Sachen passieren, wo die Schau­spieler offen sein müssen, damit man sie beob­achten kann.

Unsere Arbeit war sehr konzen­triert. Das ist ja das Schöne: Dass eine richtig konzen­trierte Arbeit noch viel toller ist, als eine gute Party.
Ich habe manchmal bei diesem Film das Gefühl gehabt, ich stünde vor einer Jury, und führe so einen Indi­zi­en­prozeß: Es gibt keine Tatwaffe, kein Motiv, aber es gibt einen Fall. Und im Schnei­der­raum hatte ich das Gefühl: Ich muss ganz genau aufpassen: Viele kleine Details ergeben diesen Film. Man muss natürlich Lust haben, diese Reise mitzu­gehen – dann ist sie toll.

artechock: Manche haben kriti­siert, dass Sie im Unter­schied zu vielen Kollegen, Ihre Figuren gar nicht sozial verankern. Man weiß nicht, was sie beruflich machen. Warum?

Schipper: Das ist tatsäch­lich die quint­es­sen­ti­elle Frage. Nach meinem ersten Film habe ich das tatsäch­lich gedacht: Jetzt könnte ich auch etwas Anderes machen. Das eine, was mich gegriffen hat, von dem ich mir vorstellen kann, dass sie mich immer inter­es­sieren wird, ist genau diese Frage: Was ist eine Geschichte, die mich inter­es­siert? Und warum inter­es­siert sie mich eigent­lich? Es gibt darauf keine eindeu­tige Antwort.
Man muss etwas finden, was einem Angst macht, was einen antreibt, wonach man sich sehnt, was diesen inneren Mecha­nismus auslöst: Angst, Hoffnung, Zuver­sicht, Liebe, Wut. Ganz tolle Filme können diese Räder in uns in Bewegung setzen. Wie Kinder, die immer wieder die gleiche Gute­nacht­ge­schichte erzählt bekommen möchten. Ich werde das nie raus­finden. Ich kann mich dem nur stellen. Und versuchen, etwas zu finden, was ich toll finde. Das war eben vor drei Jahren das kleine Reclam­heft.

artechock: Es gibt Kollegen, die machen jedes Jahr einen Film, bei Ihnen dauert das relativ lang: Absolute Giganten und Ein Freund von mir liegen sechs Jahre ausein­ander, jetzt wieder vier Jahre. Warum?

Schipper: Ich würde gerne klagen, dass man mich nicht lässt. Aber man lässt mich, und ich bin auch sehr froh darüber. Zwischen den ersten beiden Filmen war es eine relativ lange Zeit, stimmt. Jetzt scheint es nur lang zu sein, weil wir den Film jetzt erst raus­bringen. Aber er war im Prinzip schon vor einem Jahr fertig.
Ich schreibe meine Dreh­bücher selber. Ich werde nie wieder so viel übers Filme­ma­chen wissen, wie am ersten Drehtag von Absolute Giganten. Da wusste ich alles. Danach war ich total verun­si­chert. Ich wusste nun, was ich alles nicht wusste. Ich habe sehr lange am Buch von Ein Freund von mir gear­beitet.

artechock: Ende der 90er galten Sie als Regie-Shooting-Star... Warum war es trotzdem so schwer nach Absolute Giganten?

Schipper: Der war ein Kriti­ker­er­folg. Die Hoff­nungen waren sehr groß. Aber zwei Wochen nach dem Start war er wieder aus dem Kino. Und ich hatte glaube ich so eine Entlas­tungs­de­pres­sion. Es ist ja ein unglaub­li­ches Erlebnis, wenn man selber einen Film macht. Ein Rausch. Danach war ich fertig.
Absolute Giganten hat dann später immerhin noch den Bundes­film­preis in Silber gewonnen, und eine ganz schöne Reise auf DVD ange­treten. Viele haben ihn wohl auf DVD gesehen. Das freut mich sehr.

Wir Filmleute produ­zieren für sehr viel Geld buntes Licht, ein Riesen­auf­wand, Lastwagen und so. Im Schnei­de­raum ist das weg. Und wir haben alle – bewußt oder unbewußt – Angst, dass es nicht mehr ist, als buntes Licht. Ingmar Bergman hat mal gesagt: Der Rohschnitt ist, als ob ein toter Wal am Strand liegt. Später wird es dann Fran­ken­steins Monster.

artechock: Wie kam es überhaupt, dass Sie Film­re­gis­seur wurden?

Schipper: Nachdem ich in Oldenburg Abitur gemacht habe, bin ich auf eine Schau­spiel­schule gegangen. Weil ich mir das nicht vorstellen konnte, Filme­ma­cher zu werden. Das war für mich nicht greifbar. Auf der Schule war ich in tausend Thea­ter­gruppen an Gymnasien. Alle haben den Traum, an die Schau­spiel­schule zu gehen, alle denken vonein­ander: Das schaffst Du nie. Aber das sagt man sich nicht, aus Höflich­keit.
Ich hab das dann geschafft, das war in München. Da war ich so entspannt, weil ich nicht nach München wollte. Ich wollte nach Berlin oder Hamburg, aber da haben sie mich nicht mal in die zweite Runde gelassen. Aber in München war ich gut, in München haben sie mich genommen, und in München habe ich ein halbes Jahr später Film­hoch­schüler kennen­ge­lernt. Ich war mit Götz Otto in einer Klasse, wir waren die Schlech­testen, und darum haben wir uns ange­freundet. Und Götz Otto wohnte zusammen mit Film­hoch­schü­lern. Dadurch habe ich das Konzept Film­hoch­schule überhaupt erst verstanden.
Als ich mit der Falcken­berg­schule fertig war, hab ich noch ne Weile an den Kammer­spielen gear­beitet, aber nur Minimini-Sachen gemacht. Ich war halt so ein unter­be­schäf­tigter Schau­spieler, der an seinem eigenen Drehbuch arbeitet. Da wird man oft mitleidig angeguckt.

Ich weiß noch, ich war im Urlaub auf Sardinien. Da habe ich mich getraut, mir vorzu­stellen, dass ich Filme­ma­cher werden will: Was machst Du? Ich bin Schau­spieler. Was willst Du? Ich will Filme­ma­cher werden. Ich mache jetzt alles, damit ich Filme­ma­cher werden kann. Dann bin ich zurück, und habe an den Kammer­spielen gekündigt. Mein Vater war begeis­tert.

artechock: Momente der Inspi­ra­tion scheinen Ihnen ja immer im Urlaub zu kommen...

Schipper: Ich mache jedes Jahr Urlaub. Das Tolle am Urlaub ist ein ganz monotoner Tages­ab­lauf. Ich gehe immer zur gleichen Zeit an den gleichen Strand, und ich lese. Ich lese. Mein Kultur­be­trieb im Urlaub ist nicht, Sachen anzu­gu­cken, sondern lesen: Ich liebe es: 100 oder 120 Seiten am Tag. Dann gehe ich mal kurz ins Wasser.

artechock: Was sagt Ihre Freundin dazu?

Schipper: Die liest auch. Im letzten Urlaub hab ich Budden­brooks gelesen – aber das war nicht meins. Das ist ja Linden­straße. Meine Freundin hat zur gleichen Zeit Chro­nicles von Bin Dylan gelesen. Ich hab sie abends dazu gezwungen, mir immer was daraus zu erzählen...

artechock: Was lesen Sie jetzt gerade?

Schipper: Ein Buch von John Updike habe ich geschenkt bekommen, und die Rhum Diaries von Hunter S. Thompson. Das ist eine Berufs­krank­heit von mir: Ich lese alles und überlege mir: Wäre das ein guter Film. Und ich denke dann: Lies doch einfach mal ein Buch, sei doch nicht immer auf der Jagd nach einem tollen Stoff.