Bohnenstange

Dylda

Russland 2019 · 137 min. · FSK: ab 12
Regie: Kantemir Balagov
Drehbuch: ,
Kamera: Ksenia Sereda
Darsteller: Viktoria Miroshnichenko, Vasilisa Perelygina, Andrey Bykov, Igor Shirokov, Konstantin Balakirev u.a.
Farben als lyrischer Trost in einer dystopischen Nachkriegswelt
(Foto: eksystent/S. Lehnert Filmdispo)

Der Krieg hat ein weibliches Gesicht

Kantemir Balagovs Bohnenstange ist große (Film-) Kunst, erzählerisch wie stilistisch vollkommen und aktueller als es auf den ersten Blick erscheinen mag

»Unser größtes Kapital ist das Leiden. Nicht Öl und nicht Gas, nein, das Leiden. Das ist das Einzige, das wir stetig fördern. Ich suche ständig nach einer Antwort auf die Frage: Warum lässt sich unser Leiden nicht in Freiheit konver­tieren? Ist es etwa ganz umsonst? Tschaa­dajew hatte Recht: Russland ist ein Land ohne Gedächtnis, ein Raum totaler Amnesie, ein jung­fräu­li­ches Bewusst­sein für Kritik und Reflexion.« – Svetlana Alexie­vich, Nobel­preis­rede 2015

»Ich bin MG-Schützin. Ich habe soviel getötet ... Der Hass schnürte mir die Kehle ab. Nach dem Krieg habe ich lange nicht gewagt ein Kind zu bekommen. Erst, als ich mich ein wenig beruhigt hatte. Nach sieben Jahren.« – Svetlana Alexie­vich, Der Krieg hat kein weib­li­ches Gesicht

Wen das Thema von Kantemir Balagovs Bohnen­stange – Leningrad nach dem Krieg im Jahr 1945 – abschre­cken sollte, der sollte sich Bohnen­stange aus eben diesem Grund erst Recht ansehen. Nicht nur, um sich selbst mal wieder ein wenig »wirk­li­chen Schrecken« zuzumuten, sondern auch und vor allem um einen der besten Filme der letzten Monate nicht zu verpassen; einen Film, der nach Monaten gepflegten filmi­schen Mittel­maßes wie ein Erwachen wirkt. Ein Film, der nicht nur ästhe­tisch und visuell, sondern auch erzäh­le­risch, psycho­lo­gisch und nicht zuletzt schau­spie­le­risch eine derartig intensive Wirkung entfaltet, dass man auch noch nach Tagen der Meinung ist, dass das Kino allein schon wegen solch eines Films das Überleben verdient hat.

Das liegt zum einen an der lite­ra­ri­schen Vorlage der belo­rus­si­schen Nobel­preis­trä­gerin Swetlana Alex­an­d­rowna Alexi­je­witsch. Ihr Doku­men­tar­roman Der Krieg hat kein weib­li­ches Gesicht (russisch: У войны не женское лицо), der erstmals 1985 in Minsk veröf­fent­licht wurde und 1987 in deutscher Über­set­zung in der DDR erschien, erzählt einige Schick­sale und Erleb­nisse der etwa eine Million sowje­ti­schen Frauen, die während des Zweiten Welt­krieges an der Front dienten. Alexi­je­witsch sprach mit Solda­tinnen, Sani­tä­te­rinnen und zivilen Helfe­rinnen und gestal­tete daraus einen »Roman der Stimmen«, der erschüt­ternde Einblicke in das Leben der am Krieg betei­ligten Frauen aus der Kriegs- und Nach­kriegs­zeit preisgab. So erschüt­ternd, dass die sowje­ti­sche Zensur­behörde Swetlana Alexi­je­witsch anklagte, mit ihrer Collage die »Ehre des Großen Vater­län­di­schen Krieges« beschmutzt zu haben – weshalb ihr Buch erst Jahre später mit Einsetzen der Pere­stroika erscheinen konnte und noch davor statt ihres Buches eine doku­men­ta­ri­sche Film­aus­kopp­lung auf Festivals gezeigt wurde (1980-84), in der der bela­rus­si­sche Regisseur Wiktar Daschuk in sieben Teilen die ca. 500 Tonband­pro­to­kolle von Swetlana Alexi­je­witsch auswer­tete, einige der weib­li­chen Zeit­zeugen selbst vor die Kamera holte und ihre Aussagen mit den Proto­kollen und Doku­men­tar­film­aus­schnitten aus der Kriegs- und Nach­kriegs­zeit montierte.

Kantemir Balagovs Bohnen­stange ist weit von diesem doku­men­ta­ri­schen Ansatz und auch weit von Swetlana Alexi­je­witschs Patchwork-Roman entfernt. Balagov hat vielmehr aus zwei Lebens­li­nien aus Swetlana Alexi­je­witschs Werk ein konzen­triertes, inten­sives Kammer­spiel geformt, in dem wenig gespro­chen, dafür umso mehr die Sprach­lo­sig­keit der Betei­ligten zu visuellen, »blickenden« Dialogen werden, die inten­siver nicht sein könnten. Was nicht bedeuten soll, dass in Bohnen­stange nicht gespro­chen wird, dass es keine Dialoge gibt, denn die gibt es durchaus, mal in einer fast schon gewitzten, unter­grün­digen Lakonie, die schnell in flat­terndes psycho­lo­gi­sches Kalkül mündet, oder in messer­scharfe Wendungen mit präzise plat­zierten Leer­stellen, die in der Folge subkutane Erosionen auslösen.

Im Zentrum von Balagovs Film stehen die groß­ge­wach­sene, hagere »Bohnen­stange« Iya (Viktoria Miro­sh­ni­chenko) und ihre Freundin Masha (Vasilisa Perely­gina), die als Solda­tinnen an der Front eine tiefe Freund­schaft entwi­ckelt haben und sich 1945 in einem Kran­ken­haus in Leningrad wieder­finden, um dort als Kran­ken­schwes­tern nicht nur die Verlet­zungen und Traumata der Soldaten zu behandeln, sondern auch versuchen ihrer eigenen Traumata habhaft zu werden und so etwas wie ein normales Leben zu führen.

Doch Balagov zeigt weitaus mehr als den Alltag der Freun­dinnen. Mit einer Farb­ge­bung, die fast jede Einstel­lung zu einem Gemälde werden lässt, wird Leningrad und das Kran­ken­haus und seine Umgebung zu einem dysto­pi­schen Ort und der Alltag aller Betei­ligten zu einer Expe­di­tion in ihre Innen­welten. Das erinnert immer wieder an einen ähnlichen dysto­pi­schen Ort des russi­schen Kinos, an ähnlich beklem­mende Reisen ins »Innere«, an Andrej Tarkow­skis Stalker, in dem die braun-grünen Farben des Gesamts­et­tings die Verlo­ren­heit der Prot­ago­nisten betonten. Doch anders als bei Tarkowski wird das Braun der Gebäude, das Braun und Grau der Straßen und der nächt­li­chen Dunkel­heit bei Balakov mit den Farben der Kleidung kontras­tiert, wird ein pastel­lenes, wollenes zart leuch­tendes Orange, werden glatt­tex­tile Grüntöne hier zu einem fast schon lyrischen Trost, ist es mal ein Pullover, dann wieder ein Kleid, das die beiden Frauen aus ihren trau­ma­ti­schen Fixie­rungen reißt.

Balagov erzählt aber nicht nur über Trau­ma­ti­sie­rungen, er erzählt auch über Liebe und die verqueren Hier­ar­chien des sowje­ti­schen Partei­ap­pa­rats, die den gerade errun­genen Sieg gegen die Deutschen macht­stra­te­gisch auf ernüch­ternd perfide Weise egali­sieren. Das sieht sich fast wie ein Vorspiel zu Ilja Chrscha­now­skis und Jeka­te­rina Oertels DAU.Natasha an, der auf der dies­jäh­rigen Berlinale gezeigt wurde und nicht nur mit einem frap­pie­rend ähnlichen Farb­spek­trum arbeitet, sondern eine fast schon ähnlich auto­ag­ressiv-destrukiv-intensive Beziehung zweier Frauen porträ­tiert, hier wie dort mit latent lesbi­schen Zügen.

Und wie in DAU.Natasha (Youtube) bril­lieren auch in Bohnen­stange vorwie­gend Debü­tanten vor der Kamera, die so gut spielen, dass es einem Herz, Seele und Verstand verdreht und die durch die präzise, stets den richtigen Ausschnitt, die richtigen Kontraste, das richtige Licht und die richtigen Farben (!) findende Kamera von Kseniya Sereda immer wieder zu Porträts und Grup­pen­bild­nissen trans­for­miert werden, die an die altnie­der­län­di­sche Porträt­kunst eines Jan van Eyck erinnern.

Das ist große (Film-) Kunst, erzäh­le­risch wie stilis­tisch voll­kommen und man kann sich nur wünschen, dass Bohnen­stange mehr als die üblichen 100 Festival- und Mikro­ki­no­be­su­cher sehen, denn Leningrad 1945 ist natürlich auch Deutsch­land 2020 oder wie Svetlana Alexie­vich es einmal gesagt hat: »Freiheit ist kein plötzlich geschenkter Urlaub, so wie wir uns das früher erträumt haben. Es ist ein Straße. Eine lange Straße. Wir wissen das jetzt.«

Leningrad Requiem

Bohnenstange von Kantemir Balagov

Ein seltsames ange­strengtes Keuchen. Irgend­je­mand bekommt hier gerade kaum noch Luft. Im Hinter­grund tropft irgendwo ein Wasser­hahn. Dazu hört man ein hohes, immer lauter werdendes helles Summen, fast abstrakt.
Dieses Summen gibt gleich einen Eindruck vom Zustand einer der beiden Haupt­fi­guren: Die junge Iya wird regel­mäßig von merk­wür­digen Anfälle heim­ge­sucht: Viel­leicht eine Form von Epilepsie, viel­leicht etwas Post­trau­ma­ti­sches – jeden­falls erstarrt sie für einige lange Sekunden, klinkt sich aus der Welt, nimmt ihre Umgebung nicht mehr wahr. »Einge­froren« nennt sie das.

Iya hat sehr weiße, blasse Haut, sehr sehr hell­blonde Haare und ist überaus groß gewachsen – so, dass sie von ihren Kollegen im Vete­ra­nen­kran­ken­haus von Leningrad, wo sie als Kran­ken­schwester arbeitet, »Giraffe« genannt wird, oder »Bohnen­stange« – daher der Titel des Films.
Dieses Kran­ken­haus ist ein Grusel­ka­bi­nett, ein Panop­tikum des Schre­ckens. Und Iya ist die Vertraute des Chef­arztes, der über sie den Patienten, die nicht mehr leben wollen, eine letzte Spritze gibt – ein Todes­engel.

Leningrad im ersten Winter nach Ende des Zweiten Welt­kriegs. Es ist eisig kalt, das Leben ist hart, die Versor­gungs­lage schlecht, die Atmo­s­phäre düster und fast depri­miert; eine erschöpfte Stimmung scheint wie eine bleierne Glocke über der Stadt zu liegen.

Zugleich sind die Bilder dieses Films (gestaltet von der Kame­ra­frau Kseniya Sereda) von seltsam berü­ckender Schönheit: Rot, Grün, Braun – satte warme Farben, die sogar das gelbliche Licht der Straßen­la­ternen fast golden leuchten lassen.

Die Menschen leben in alten groß­bür­ger­li­chen Wohnungen, die zu Massen­un­ter­künften umfunk­tio­niert wurden: Aus einer Acht­zim­mer­woh­nung wurden acht Wohnungen. Eng an eng hausen die Menschen, teilen sich Küche und Bäder – nur die alten Tapeten, der Parkett­boden und der groß­zü­gige Schnitt der Zimmer zeugen noch vom einstigen Glanz.

Während des Zweiten Welt­kriegs erlitt die Sowjet­union schwin­del­erre­gende Menschen-Verluste – geschätzt werden 22 bis 28 Millionen Tote. Wie etwa Nobel­preis­trä­gerin Swetlana Alexi­je­witsch in ihrem Doku­men­tar­roman »Der Krieg hat kein weib­li­ches Gesicht« erzählte, wurde ein Großteil dieser Opfer von Frauen getragen. Über­lebten sie selbst, dann starben die Männer. Zwei dieser Frauen nimmt jetzt der erst 27 Jahre junge russische Regisseur Kantemir Balagov in seinem außer­ge­wöhn­li­chen zweiten Spielfilm (nach Tesnota) in den Blick.

Iya ist die eine, die andere heißt Mascha. Sie wird erst etwas später in den Film eintreten – da wissen wir Zuschauer schon um das grausige Band, das beide Frauen untrennbar zusam­men­hält: Es ist Paschka.

In der ersten Vier­tel­stunde des Films hatte man Iya mit dem kleinen Drei­jäh­rigen gesehen. Sie lebten zusammen in Iyas Wohnung. Aber es war gar nicht ihr Sohn, sondern Maschas. Während die Mutter an der Front kämpfte, kümmerte sich Iya.

Was sich nun im Folgenden entfaltet, ist die kompli­zierte Bezie­hungs­ge­schichte der beiden Freun­dinnen – eine emotio­nale Achter­bahn­fahrt, bestimmt von unaus­ge­spro­chenen Gefühlen, von Liebe wie Hass. Von unge­stilltem Begehren, von Wut, vom täglichen Über­le­bens­kampf zwischen alltä­g­li­cher Not, und den Appa­rat­schiks der KPdSU. Ein paarmal wird kurz etwas vom Krieg erzählt, aber es gibt keine Flash­backs und Kriegs­er­zäh­lungen – den Krieg kann man an den Gesich­tern der Über­le­benden ablesen. Es braucht keine Dialog­pas­sagen des Grauens – die Menschen hier sprechen nicht über ihre Erleb­nisse; was hätte das für einen Sinn?

Getragen wird all das von den beiden Darstel­le­rinnen, der so charis­ma­ti­schen wie rätsel­haften Vasilisa Perely­gina, die die Mascha zugleich boden­s­tändig wie am Rande des Wahnsinns spielt, sowie von Viktoria Miro­sh­ni­chencko in der Titel­rolle, ihre Iya ist eine Figur von einem anderen Stern. Beide Schau­spie­le­rinnen arbeiten mit Ausdruck und Blicken, und durch ihre sehr unter­schied­liche Körper­lich­keit selbst.
Ihre Figuren sind Freun­dinnen, die einander über­le­bens­wichtig sind, auch wenn sie sich oft nicht guttun. Eine Freund­schaft, viel­leicht sogar – der Regisseur lässt es unauf­dring­lich offen – ein Liebes­ver­hältnis. Dieses unter den Ober­flächen brodelnde sexuelle Psycho­drama – Iya liebt Masha, Masha aber liebt Iya nur als Gefährtin, und braucht Männer im Bett – enthält Anklänge an die para­si­täre wech­sel­sei­tige Abhän­gig­keit und subli­mierte Lust von Alma und Elisabet in Bergmans Persona. Eine beun­ru­hi­gende, verwir­rende Beziehung: Iya ist still, leidend und uner­gründ­lich, Masha hingegen tobt wild und anar­chis­tisch durch den Film. Die Dynamik zwischen Mascha und Iya ist ein explo­sives Gemisch aus Schuld­ge­fühlen, Verwir­rung und unter­drückter Eifer­sucht – zu verdreht, verstö­rend und dabei seltsam hinreißend.

Bohnen­stange ist ein trauriger Film; es ist zugleich ein stel­len­weise erstaun­lich lustiger, heiterer kurz­wei­liger Film, der enorm viel erzählt von Russland damals und heute, von den Folgen des Krieges, von den Trüm­mer­frauen, die es nicht nur in West­deutsch­land gab.
Vor allem ist dies ein wunder­schöner Film: Wunder­schön gefilmt, heraus­ra­gend gespielt von den beiden Haupt­dar­stel­le­rinnen, berührend in seiner Mensch­lich­keit und seiner tiefen Humanität.
Ein Höhepunkt des russi­schen Kino der letzten Dekade.
Ein Höhepunkt dieses Film­jahres.