27.02.2020
70. Berlinale 2020

Mau, lau, grau, wau, dau und dann: Ein Hoch auf Franz Biberkopf

Berlin Alexanderplatz
Der neue Franz in Burhan Qurbanis »Berlin Alexanderplatz«
(Foto: Stefanie Kulbach/2019 Sommerhaus/eOne Germany)

Sieben Filme aus dem Wettbewerb so wie bei Schneewittchen und den sieben Zwergen: die großen Gefühle, das große Leiden und das mutig, kreative Verführen kommt erst spät im Wettbewerb, bricht mit DAU.Natascha und Berlin Alexanderplatz ein wie die böse Königin mit ihrem vergifteten Apfel

Von Axel Timo Purr

Die Kunst der Komödie wird oft unter­schätzt und da man sich, wie das Sprich­wort sagt, ja über Humor nicht streiten kann, warum dann noch Worte darüber verlieren? Warum also Worte über Benoît Delépines und Gustave Kerverns Effacer l’histo­rique verlieren? Weil er für mich eine der ganz großen Enttäu­schungen ist, denn drei Opfern des Web 2.0 dabei zuzusehen, wie sie sich nach ihren digitalen Nieder­lagen im Alltag verbünden, um gemeinsam aufzu­be­gehren und sich gegen die großen Internet-Konzerne zu verschwören, schmeckt nach tref­fendem Zeitgeist, nach einer Revolte, die es viel zu selten gibt, ist eine tolle Idee, um unser digitales Dogma gnadenlos zu hinter­fragen. Doch was in diesem Fall dabei entsteht, ist so dämlich und inspi­ra­ti­onslos, so abge­hangen, wie alter Schinken. Denn Delépine und Kervern zeigen tatsäch­lich nur Abge­hängte und Früh­rentner und pseudo-aktuell auch ein paar Ex-Gelb­westler, die so naiv und plakativ darge­stellt werden, dass die eigent­liche Kritik an unserer digitalen Gegenwart an der gren­zen­losen, mauen Ober­fläch­lich­keit, die hier insze­niert wird, verpufft wie Wasser auf dem heißen Stein.

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Auch bei Stéphanie Chuats und Véronique Reymonds Schwes­ter­lein schmeckt alles es ein wenig nach altem Schinken, wenn auch der Gourmet-Variante. Zwar wird hier das Krebstod-Genre zumindest schau­spie­le­risch in Höchst­form präsen­tiert, laufen Nina Hoss und Lars Eidinger zu expressiv leidender Höchst­form auf, gibt die Schweizer Schau­spie­lerin Marthe Keller eine wunder­voll egoma­ni­sche Mutter, werden Refe­renzen zur Romantik und altem Liedgut, zum modernen Theater, zu Hamlet und den inzes­tuösen Verhält­nissen an der Berliner Schau­bühne gesetzt, aber die im Kern insze­nierte Geschichte um ein im besten Sinne bildungs­bür­ger­li­ches Zwil­lings­paar, das nie gelernt hat, sich vonein­ander zu eman­zi­pieren und in ihrer symbio­ti­schen Selbst­be­züg­lich­keit wie an einer neuen Form von Bezie­hungs­krebs leidet, ist dann doch alles andere als über­ra­schend. Alles schon mal gesehen, alles schon mal gehabt, vor allem weniger lau und hölzern.

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Wie unbe­fangen und alles andere als hölzern man das Leiden in unserem bildungs­bür­ger­li­chen, grauen Alltag auch insze­nieren kann, zeigt der herrlich überkurze, fast schon wie ein Aquarell-Gemälde insze­nierte neue Film vom korea­ni­schen Altmeister Hong Sang-soo. Frauen reden hier viel, Männer, wenn sie denn überhaupt zu Wort kommen, leiden an ihrer Bedeu­tungs­lo­sig­keit. Eine Frau besucht Freun­dinnen und redet mit ihnen über ihre Probleme, ihr Leben, den unmerk­li­chen Verlust von Sinn­haf­tig­keit. Das mag ein wenig beiläufig klingen, doch bei Sang-soos The Woman Who Ran sitzt jeder Pinsel­strich, ist jede Leer­stelle Grun­die­rung für ein weiteres Gemälde, ist es dann fast so wie in Elliot Perlmans Seven Types of Ambiguity, erfahren wir mit jedem Besuch, den Gamhee unter­nimmt nicht nur vom Leben ihrer Freun­dinnen, sondern wird Gamhees eigene Geschichte aus immer neuen Perspek­tiven beleuchtet und weiter­erzählt. Das ist subtil und fein­sinnig und dabei fast schon grandios alltäg­lich.

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Auch Kelly Reichardt hat mit ihrem Frauen-Western Meek’s Cutoff schon gezeigt, wie alltäg­lich der Wilde Western sein konnte, und dass es mit einer neuen Perspek­tive, einer Geschichte nur um Frauen, sogar zu einer brenn­glas­ar­tigen Perspek­ti­vie­rung auf unsere Gegenwart kommen kann. In ihrem neuen Film First Cow ist es wieder ein Western, und fast noch eindeu­tiger zieht Reichardt auch dieses Mal den Bogen in unsere Gegenwart. Doch dieses Mal ist es eine Welt von Männern, eine von Trappern und Siedlern, ein paar Indianern und Chinesen, in denen Frauen so sehr am Rande vorkommen wie die Männer in Meek’s Cutoff. Reichardt erzählt über den Fort­schritt und von Freund­schaft und beweist auch in ihrem zweiten »Western«, dass dieses Genre noch lange nicht auser­zählt ist, dass auch dieser Alltag um einen Bäcker, einen chine­si­schen Geschäfts­mann und ein Fort im Nirgendwo es allemal wert ist erzählt zu werden, neu und über­ra­schend, subtil humorvoll und filigran tragisch.

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Wegen der russi­schen Stel­lung­nahme, Ilja Chrsch­a­now­skis und Jeka­te­rina Oertels Stalin­zeit-»Reenact­ment« DAU. Natasha wegen porno­gra­fi­scher Szenen zu verbieten, weil außerdem bekannt geworden ist, dass Hannah Schygulla sich ihres Synchron-Job für diesen Film verwei­gerte, weil sie die Folter­szenen nicht ertragen konnte, und weil dann auch noch einmal die taz mit dem anony­mi­sierten Protokoll einer der betei­ligten Schau­spie­le­rinnen nachlegte, in dem von Macht­miss­brauch und über­grif­figem Verhalten während der Dreh­ar­beiten berichtet wird, ist „Dau. Natascha“ im Vorfeld und noch einmal mehr nach den ersten Scree­nings als Skan­dal­film abgetan worden.

Völlig zu unrecht.

Die Sex-Szenen mögen expli­ziter sein als wir es in unseren restau­ra­tiven Zeiten inzwi­schen gewöhnt sind, und auch die Folter­me­thoden des stali­nis­ti­schen Geheim­dienst­ap­pa­rats sind in dieser dichten, immer wieder kammer­spiel­ar­tigen Insze­nie­rung, die nicht nur in ihrer unter­kühlten, grau­grün­li­cher Bildäs­thetik an Tarkowkis Stalker erinnern, zwar grausam, erinnern dafür aber nur umso notwen­diger daran, was war, sondern auch, was in vielen Ländern nie verschwunden ist, und was nicht nur in Russland gerade wieder neu zum Leben erwacht.

Doch darüber hinaus erzählt DAU. Natascha eben und ganz explizit nicht nur von Sex und Folter, sondern in viel größeren Teilen auch von einem völlig sinn­ent­leerten Leben eines sowje­ti­schen Mikro­kosmos, von zwei Kell­ne­rinnen in einer russi­schen Kantine eines geheimen Forschungs­in­sti­tuts und ihren Gästen.

Das wirklich Unheim­liche an diesem Film ist aber nicht nur das düster-gespens­ti­sche Aufer­stehen des stali­nis­ti­schen Apparats und seiner Gesell­schaft dahinter, sondern die völlig unaus­ge­spro­chenen, aber offen­sicht­li­chen Bezüge zu unserer Gegenwart. Wie die Leute hier mitein­ander reden und in Bezug zuein­ander stehen, das ist nicht anders als in unseren sozialen Medien: Inseln und Blasen der Selbst­be­züg­lich­keit, der unter­drückten Trauer, fehlender Aner­ken­nung und einer nagenden Sehnsucht nach Liebe, in die plötzlich die immer schon anwesende Über­wa­chung einschlägt wie ein Schlag mit dem Filz­hammer.

Es gebe noch so viel mehr über dieses Projekt zu schreiben, über diese erste Spielfilm-Auskopp­lung aus 700 Stunden Rohma­te­rial, von dem ein Teil schon als Kunst­in­stal­la­tion und Serie verwertet worden ist und auf den noch drei weitere Teile folgen sollen und der auch schau­spie­le­risch – trotz oder viel­leicht wegen der Laien­dar­steller – unter die Haut geht. Die Haupt­dar­stel­lerin der Natascha, Natalja Bere­schnaja, hätte allemal einen Bären verdient.

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Die schau­spie­le­ri­sche Dichte und Brillanz findet sich auch in Sally Potters The Roads Not Taken, ein melan­cho­li­sches Demenz-Drama, in dem aber nicht nur Javier Bardem, Elle Fanning, Salma Hayek und Laura Linney groß aufspielen, sondern in dem neben dem verzwei­felten Umgang mit Demenz ein wichtiger erzäh­le­ri­scher Überbau einge­zogen wird – die Suche nach den Stellen im Leben, die die eigene Zukunft nach­haltig anders gestaltet hätten und in der auch der Tod eines Kindes eine wichtige Rolle spielt. Immer wieder findet Potter dafür eindrück­liche Bilder und Passagen, die gnadenlos gegen eine Gegenwart geschnitten sind, die uner­träg­li­cher nicht sein könnte. Potters Film ist zwar kein Manchester by the Sea und reicht auch nicht an Sarah Polleys dichtes Demenz-Drama An ihrer Seite heran, geht aber dennoch über ein simples „Demenz­drama“ weit hinaus.

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Und dann, ganz am Ende, kommt die böse Königin, kommt Burhan Qurbani mit seinem Franz Biberkopf, ein Film, der einen eigenen Text verdient hätte, den er auch noch bekommen wird. Denn Qurbani, der ja schon mit Wir sind jung. Wir sind stark. gezeigt hat, welche bitter­böse Wucht in ihm steckt, hat sich tatsäch­lich eines der größten Romane der Moderne und Deutsch­lands sowieso, Alfred Döblins »Berlin Alex­an­der­platz« ange­nommen und ihn – jawohl: großartig »miss­braucht«, d.h. in unsere Moderne trans­po­niert. Hat ihm einen Franz Biberkopf spendiert, der nicht mehr aus Berlin kommt, sondern aus Guinea-Bissau, hat sich also Weket Bungue zu seinem Haupt­dar­steller erkoren und ihn zu Frances gemacht, einen Migranten, der es nach Europa geschafft hat und der im Laufe des Films dann neu getauft wird, aus dem Skla­ven­namen Frances wird Franz und aus Franz der bessere Deutsche.

Allein schon die Idee, Döblins Biberkopf am Anfang nicht aus dem Gefängnis kommen zu lassen, sondern aus dem Mittel­meer entsteigen zu lassen, ist eine fantas­ti­sche, groß­ar­tige Idee, ist großes Kino. Denn genau das sind ja heut­zu­tage die viel größeren Gefäng­nisse, aus denen alle, die nichts mehr verlieren zu haben, zu entkommen versuchen, ihrer eigene »Heimat«. Und das erklärt dann auch, dass Qurbani aus Döblins großem Stadt­roman die Stadt fast völlig entfernt hat. Was für Döblin noch Ausdruck der Moderne war, die moderne Stadt, das moderne Berlin, das Döblin dann ja auch so kongenial zu Sprache verhäck­selt hat, das ist bei Burahani nicht mehr die Stadt, sondern ist die Welt, die Welt der Migranten, die Welt, die keine Städte mehr kennt, die alle völlig austauschbar sind.

Das und die fragilen Gleich­ge­wichte inter­kul­tu­reller Freund­schaften hat im letzten Jahr auch schon Sebastian Schipper auf ganz andere Weise in seinem viel zu wenig beach­teten Roads gezeigt. Doch Qurbani hat nicht einen originären Stoff im Rücken, sondern er hat die Macht von Döblin im Rücken, einen Döblin, den Jella Haase immer wieder einspricht, der den Film und seine Bilder und seine Schau­spieler in Flammen setzt. Aber er hat auch Gegenwind, er hat den von Heinrich George verkör­perten Ur-Biberkopf vor sich (1931), und er hat die 930 Minuten von Rainer Werner Fass­bin­ders Fern­seh­serie (1979/80) gegen sich. Besteht Qurbani diesem wüsten Sturm? Ich würde sagen, ja, er besteht, auch wenn er dann und wann auch einmal scheitern mag, so wie das für jedes Gesamt­kunst­werk gilt. Denn man kann natürlich fragen, ob eine Serie nicht doch besser gewesen wäre, um diesem Romababel ganz gerecht zu werden und man könnte fragen, ob nicht doch die ganz großen Gefühle fehlen (die erst in den letzten zwanzig Minuten eingelöst werden), weil wie in Döblins Roman natürlich auch hier zu viel Überbau ist, steht Franz B. ja auch hier bei Qurbani nicht nur für sich, sondern für einen Teil der Gesell­schaft. Und man könnte fragen, ob die klas­si­schen Gangs­ter­szenen wirklich so sein müssen, wie sie sind, so wie bei Döblin?

Aber das sind im Grunde nur viel­leich­tige »Viel­leichts«, denn viel­leicht sind ja gerade wegen dieser rasant insze­nierten kleinen Suspense-Zuge­ständ­nisse an eine andere Ära des Films und unserer eigenen Geschichte die drei Stunden nie zu lang, ist dann sogar Jella Haase, mit der ich bislang nur wenig anfangen konnte, eine »Mieze«, die in ihrer Rolle so zerbricht, wie sie Döblin angelegt hat, ist das ein Film der großen Bilder, ein Film mit großem, epischem Impetus, einer ewigen Geschichte, wie wir an dieser Adaption besonders gut sehen können.

Denn Döblins Charak­tere sind ewige Charak­tere, Schei­ternde, die immer wieder scheitern werden, und sie sind alle ein Wucht, waren es immer. Bei Piel Jutzi 1931 waren sie das und bei Fass­binder ebenso und nun auch bei Burhan Qurbani und Weket Bungue als Franz B. Weshalb ich genau mit ihm, mit Franz, der müssen muss, immer wieder müssen muss, enden will. In einer Roman­ver­fil­mung, die den Nerv der Zeit bloßlegt, die den Bogen aus den kriti­schen 1920er Jahren in die ebenso kriti­schen 2020er spannt, und die deshalb zurecht sich selbst zitieren soll: »Ein Hoch auf den neuen Franz.«