05.03.2009

»Ich bin keine gute Frau«

Szenenbild »35 Rum«
Vater und Tochter: »Männer sind komplizierter, sie lösen mehr in mir aus.«

Ein Gespräch mit Claire Denis über Hautfarben, besonders in Frankreich, ihren brasilianischen Großvater, einen Film von Ozu und ihren eigenen, neuen: 35 rhums

Geboren wurde Claire Denis am 21. April 1948 in Paris. Doch eigent­lich wuchs sie in Afrika auf, in den west­afri­ka­ni­schen fran­zö­si­schen Kolonien Kamerun, Burkina Faso und Djibuti. Ihr Vater war Offizier des Kolo­ni­al­reichs. Eine Kindheit in Fremd­heiten und Sonder­zonen, in den Männer­welten der Armee, mit vielen Umzügen. Und Frank­reich war das große unbe­kannte Land, in der Ferne.
Erst mit 14 kam Denis dorthin, zog dann mit 15 zog sie bei ihren Eltern aus, heiratete einen wesent­lich älteren Photo­gra­phen und arbeitete als dessen Assis­tentin. Sie entdeckte Kunst, Literatur, das Kino und erlebte den Aufbruch der Sechziger als ihren eigenen. Für kurze Zeit studierte sie Ökonomie – »ein totales Desaster«, erinnert sie sich. Ab 1971 besuchte Denis die Film­hoch­schule FEMIS, assis­tierte bei Jacques Rivette und Wim Wenders, für Paris, Texas und Der Himmel über Berlin. Dazwi­schen arbeitete sie noch für einen anderen großen Autoren­filmer: Als Assis­tentin von Jim Jarmush bei Down By Law. Ihr eigenes Debüt Chocolat folgte 1988. Für Nénette et Boni gewann sie 1996 den Goldenen Leopard von Locarno, spätestes seitdem ist sie nicht nur eine der besten, sondern auch der wich­tigsten, bekann­testen Autoren­fil­merInnen. Denis' oft auto­bio­gra­phisch inspi­rierten Filme kreisen um Begehren, Gewalt, Liebe und immer wieder um Exzesse und Gren­zü­ber­schrei­tung.

Mit Claire Denis sprach Rüdiger Suchsland.

Claire Denis: Wir sind uns schon einmal begegnet, oder?

artechock: artechock: Ja, vor ein paar Jahren, in Istanbul, beim Film­fes­tival…

Denis: Oh ja. Stimmt. Ein tolles Festival. Viel­leicht gehe ich wieder hin. Man hat mich in die Jury einge­laden. Ich muss antworten, aber ich weiß noch nicht, ob ich es schaffe.

artechock: Es ist ein schönes Festival. Und es ist ein Platz, der, finde ich, gut zu Ihnen und zu Ihren Filmen passt. Finden Sie das nicht auch? Ein Ort der Gren­zü­ber­schrei­tung, des Crossover. Würden Sie zustimmen, wenn ich sage, dass Ihre Filme sich immer um diese Themen drehen: Um Gren­zü­ber­schrei­tung, Crossover…

Denis: Ja, ja, … aber… [denkt nach] für mich ist dieser Teil der Welt, der mittlere Orient auch mit vielen anderen Dingen verbunden, und hat eigent­lich nichts mit meiner Film-Welt zu tun. Ich hatte eine Urgroß­mutter, die hat in [dem Istan­buler Stadtteil] Gala­ta­saray gehei­ratet. Denn in Galata lebten viele Franzosen. Sie war ihrem Mann wegge­laufen, sie blieb in Gala­ta­saray, und traf einen anderen Mann…

artechock: Das war dann ihr Urgroß­vater?

Denis: Nein, das war der erste Mann. Für mich ist der mittlere Orient mit vielem verbunden, mit Literatur. Ich denke an die Seiden­straße… Ich habe damit eigent­lich nichts zu tun. Das ist für mich ein anderer Kosmos, ein anderes Lebens­ge­fühl, als das meiner Filme, die um Medi­ter­ranes kreisen, um Nord-Süd, die durch Ozeane verbunden sind. Viel unbe­kannter.

artechock: Aber man kann doch sagen, dass viele Ihrer Filme, auch der neueste, selbst ein wenig Schmelz­tiegel von sehr Verschie­denem sind – wie Istanbul.

Denis: Nein, aber…

artechock: …Nein?

Denis: Doch, aber ich beschreibe in 35 rhums eine Welt, in der es nicht einfach um das Fremde geht. Im Mittleren Orient macht einen die Sprache oder die Religion zu einem Fremden. Die Differenz zwischen Weiß und Schwarz ist sichtbar. Das ist etwas anderes, als einfach nur ein Fremder zu sein. Die Differenz zwischen Weiß und Schwarz ist eine andere, die kann man nicht mit sonstigen Unter­schieden verglei­chen.

artechock: Weil sie eine sichtbare Differenz ist?

Denis: Ja. Und weil sie nichts mit Staats­grenzen zu tun hat, nichts mit Schengen, der EU. Diese Differenz ist anders, es ist eine andere Qualität von Diskri­mi­nie­rung.
Die Seiden­straße, der Weg von Europa über den nahen und mittleren Osten bis nach Ostasien führt von einer Zivi­li­sa­tion zur nächsten, alle sind stolz auf ihre jeweilige Kultur. Man weiß um die Unter­schiede, aber man verachtet einander nicht. Viel­leicht sind manche arm und andere reich, aber das ist weniger schlimm.
Es geht auch nicht um Klasse oder Geld, es geht um Hautfarbe. Zwischen Reich und Arm gibt es auch eine Apartheid, aber es gibt doch immer mögliche Bezie­hungen. Reiche können arm werden, und umgekehrt. Wenn ein reicher Junge ein armes Mädchen heiraten will, dann geht das schon irgendwie. Ausnahmen sind erlaubt. Anders­herum ist es schon schwie­riger, aber auch das gibt es.
Nun: Zwischen Schwarz und Weiß gibt es das nicht. So genannte rassische Diffe­renzen sind viel tiefer und zugleich viel obskurer.

artechock: Kann man die Bezie­hungen zwischen den Haut­farben mit der zwischen Geschlech­tern verglei­chen?

Denis: Nein. Das ist nicht vergleichbar. Ich mag auch die Frau­en­recht­le­rinnen nicht besonders. Ich finde es lächer­lich, eine Parallele zwischen beidem zu ziehen. Was ist dann mit schwarzen Frauen? Sind sie nochmal schlimmer dran? Nein. Geschlech­ter­dif­fe­renzen sind etwas… Man kann es so beschreiben: Selbst in den restrik­tivsten Gesell­schaften ist es erlaubt, Bezie­hungen zum anderen Geschlecht zu haben, sogar enge, intime. Es ist eine Notwen­dig­keit. Für rassische Diffe­renzen gilt das nicht.

artechock: Wie geht man mit der Differenz der Haut­farben als Filme­ma­cherin um?

Denis: Ich war darauf nicht vorbe­reitet. Ich bin in einer Welt aufge­wachsen, in der diese Differenz sichtbar war. Und ich habe nur ein Leben. Ich suchte kein Filmthema. Aber Haut­farben sind ein Teil meines Lebens, darum dachte ich: Warum sollte ich darüber keinen Film machen? Mein Leben wurde sehr stark dadurch verändert, dass ich einen Teil meiner Kindheit in Afrika verbracht habe.
Aber bei den Recher­chen zu diesem Film, durch das Lesen von Büchern, habe ich entdeckt, dass die Schwarzen in Paris, dieje­nigen aus der Karibik oder aus Afrika, die man nicht inte­grieren oder assi­mi­lieren muss – denn sie sind längst Franzosen –, dass die trotzdem an den Rand gedrängt und diskri­mi­niert werden, obwohl sie Franzosen sind.
Ein Teil des Films wurde durch eine Radio­sen­dung beein­flusst, die ich in den 50er Jahren gehört hatte. Mich hat das sehr beein­druckt: Der Moderator erzählte darin vom Zugfahren, von dessen spezi­eller Bewegung. Die Gleich­mäßig­keit funk­tio­niere für ihn wie Psycho­ana­lyse, eine Bewegung ins Innere. Ich habe mir irgend­wann das Band besorgt, und tatsäch­lich hat das den Film beein­flußt: Die »new frontier« für mich war das Zugfahren.

artechock: Sie sprachen von Büchern. Welche haben Sie gelesen?

Denis: Ah! Nicht direkt zur Vorbe­rei­tung. Ich bin mir der Lage der Schwarzen in Frank­reich schon seit langer Zeit sehr bewusst. Zunächst, als ich in den 60er Jahren zum ersten Mal nach Paris kam. Ich war in Afrika aufge­wachsen. Es gab da zwar den Kampf gegen Kolo­nia­lismus, aber gleich­zeitig wollte man Einwan­de­rung stoppen. Schon damals. Und paradox: Gleich­zeitig holte man viele schwarze Franzosen aus der Karibik nach Frank­reich, um in Hospi­tä­lern zu arbeiten, bei der Post, bei der Bahn. Schon seit den 30er Jahren war das 15. Arron­dis­se­ment in Paris berühmt für seine schwarze Szene: Es gibt Bars, Musik; man spricht Kreolisch. Es sind keine Afrikaner!
Ich habe einige berühmte Bücher von bekannten fran­zö­sisch-kari­bi­schen Autoren gelesen, wie Aimé Césaire, Patrick Chamoi­seau, Raphaël Confiant, Édouard Glissant und natürlich Frantz Fanon – der ist die perfek­teste Möglich­keit, etwas zu verstehen. Auf einfache Weise, aber etwas, das man nie wieder vergißt.

artechock: Ihr neuer Film hat mich über­rascht. Er wirkt auf mich … sagen wir: Bisschen milder. Positiver. Harmo­ni­scher. Weniger dunkel. Verstehen Sie diesen Eindruck? Oder ist das ober­fläch­lich? Wie schauen Sie auf den Film?

Denis: Ich weiß nicht. Freunde von mir haben sich beschwert, und gesagt: Der ist zu dunkel, es gibt keinen Trost. Er sei traurig, »crépus­cu­laire«, den Figuren ginge es immer schlecht… Für mich ist das ein warmer Film. Voller Liebe. Ich weiß, dass er anders ist als meine sonstigen Filme.
Der Unter­schied liegt darin, dass er sehr stark inspi­riert wurde durch die Geschichte meiner Mutter. Ihr Vater, mein Großvater wurde ein Witwer, als sie noch ein Baby war.
Diese Geschichte ist längst eine Art Familien-Witz: Meine Mutter fing oft an, irgend­etwas von ihrem Vater zu erzählen, bei völlig unpas­senden Gele­gen­heiten: wenn sie etwas vorbe­rei­tete, ein Bad nahm… sagte sie: »Oh, mein Vater war immer…«, »Mein Vater hätte jetzt…« Um ehrlich zu sein: Ich habe meinen Großvater als Kind kaum gesehen: Er lebte in Frank­reich, wir in Afrika. Er war so ein seltsamer, aber auch sehr witziger Typ. Wir waren die Enkel, er mochte uns, aber er hat sich eigent­lich nur für seine Tochter inter­es­siert. Er war sehr charmant, sah toll aus, er stammte aus Brasilien – er war ein bisschen melan­cho­lisch, diese typische »sodade« der Portu­giesen, der Welt­schmerz, der natürlich auch in Brasilien recht verbreitet ist. Dabei nicht traurig, sondern sehr lustig.
Ich habe diese Geschichte nicht begriffen, bevor ich einen Ozu-Film sah: Late Spring (Banshun). Ich mag alle seine Fime, aber diesen ganz besonders. Denn der handelt von einer jungen Frau, die längst alt genug ist aus dem Haus zu gehen, aber immer noch bei ihrem Vater, einem Witwer lebt, ihn pflegt, eine Art Ehefrau für ihn ist.
Ich war durch den Film schreck­lich bewegt, ich begann zu weinen und begriff: Diese spezielle Geschichte kenne ich nur zu gut. Ich erkenne das alles wieder. Ich habe meine Mutter nie gefragt, wie das mit ihrem Vater war. Man muss nicht fragen, um etwas zu wissen.
Zudem ist meine Mutter sehr offen. Jetzt ist sie eine alte Lady in gewissem Alter [lacht], mein Vater ist auch sehr alt und schwach, und sie sagt mir ganz offen: Ich glaube, der einzige Mann meines Lebens war mein Vater.

artechock: Der Vater in ihrem Film spielt alle fami­liären Rollen: Er ist Vater und Mutter und Lebens­ge­fährte… Gerade für einen Angehö­rigen seiner Gene­ra­tion ist das nicht üblich. Man hätte wieder gehei­ratet, oder ein Kinder­mäd­chen orga­ni­siert…

Denis: Mein Großvater war nicht reich. Er hatte nicht das Geld für eine Nanny. Er war ein Maler. Er wusch, bügelte, aber er hatte auch ein Motorrad. Und um seine Tochter zu ernähren, hat er als Kunst­lehrer gear­beitet. Ohne meine Mutter wäre er nur Künstler gewesen, hätte quasi ohne Geld gelebt. Ein bisschen wie ein Hippie.

artechock: Was ich an dieser Gene­ra­tion und an der unserer Eltern beneide, ist, dass sie weniger an Sicher­heit inter­es­siert waren, und an Perfek­tion. Es musste nicht alles perfekt sein, sie waren viel stärker, als die, die heute jung sind… Die heute Jungen inter­es­sieren sich mehr­heit­lich für Anstand, Ordnung, Sauber­keit, sie sind ziemlich spießig.

Denis: Ja, genau! Ganz besonders die Tochter in meinem Film. Er ist viel relaxter, als sie. Er will manchmal, dass sie einfach das Haus verlässt, damit er machen kann, was er will, sich betrinken, oder so.

artechock: Ihr Hinweis auf den Ozu-Film ist natürlich ganz wichtig: Tatsäch­lich ähneln sich der und ihr Film stark im Grund­motiv. Eine Tochter erzieht den Vater, pflegt ihn, und beginnt, sich auch zu opfern…

Denis: Ja, und der Vater sieht, dass sie etwas verliert und sich aufopfert.

artechock: Man kann also sagen, dass für Sie der Held ihres Films der Vater ist?

Denis: Ja.

artechock: Also geht das wieder mal in ihrem Film um Männer und Männer­welten. Wie fast immer, außer in Vendredi soir. Sie scheinen sich mehr für Männer zu inter­es­sieren, als für Frauen…

Denis: Männer sind kompli­zierter, sie lösen mehr in mir aus. Die Tochter im Film ist natürlich wichtig, aber letztlich nur, um den Vater in eine weitere Perspek­tive zu stellen.
Ich hasse die Idee, dass ich nur, weil ich eine Frau bin, auch etwas über Frauen machen müsste. Manchmal sagen mir Kollegen, ich würde mich nicht für Frauen inter­es­sieren. Das stimmt. Außer für Béatrice Dalle. Richtige Frauen!

artechock: Aber dafür inter­es­sieren sich Ihre fran­zö­si­schen männ­li­chen Regie­kol­legen oft sehr für Frauen…

Denis: Ja, genau.

artechock: Sind Frauen heute das perfek­tere Geschlecht? Und Sie inter­es­sieren sich mehr für das Unper­fekte, Gebro­chene?

Denis: Wie gesagt: Wenn ich die Diskri­mi­nie­rung der Geschlechter, und die der Rassen vergleiche, dann kann ich mit der der Geschlechter im Leben ganz gut umgehen. Das reizt mich nicht. Außer einer Sache: Prosti­tu­tion. Wenn man den Körper zur Ware macht. Und genau das inter­es­siert mich dann als Filme­ma­cherin wirklich. Ich kenne nur einen richtig guten Film darüber: Godards Vivre sa vie (Die Geschichte der Nana S.). Der Rest kümmert mich nicht. Ich bin keine »gute Frau«.

artechock: Viel­leicht nicht… Auch wenn es um Sex geht, scheinen sie an männ­li­cher Sexua­lität mehr inter­es­siert…

Denis: Nein, gar nicht, aber Männer ziehen mich mehr an. Insofern inter­es­siere ich mich auch für weibliche Sexua­lität. Aber ich finde Männer sexy. Sie machen mich mehr an. Obwohl ich wirklich finde, dass die drei Frauen in 35 rhums wirklich toll waren.