24.09.2023

Die Erotik des Sandes

La sociedad de la nieve
La sociedad de la nieve: ein großartiges Thema und eine ungewöhnliche Geschichte...
(Foto: Netflix)

Gesellschaft des Schnees und Kannibalen aus guten Gründen: Hyperleben statt Überleben. Zwei sehr unterschiedliche Filme erkunden das Existieren jenseits der verwalteten Welt und den Sieg des Primitivismus über das Komplizierte und das Gebildete; und die Unfähigkeit des Nachvollziehens – Notizen aus San Sebastián, Folge 2

Von Rüdiger Suchsland

Man könnte eigent­lich immer so leben, wie man diese zehn Tage in San Sebastián lebt: Man geht viel ins Kino, sitzt zwischen­durch in der Sonne, isst hervor­ra­gendes spani­sches Essen, und trinkt spani­schen Kaffee, der besser ist, als mindes­tens der deutsche – manche würden sagen: auch besser als der italie­ni­sche, aber das kann ich hier nicht unter­schreiben, zumal Lavazza der Sponsor des Festivals ist, und man deshalb immerhin am Morgen zwischen den Filmen den einen oder anderen schnellen Cafe con Leche oder Cortado zu sich nehmen kann. Am Abend sitzt man dann im Café und kann bis 1 Uhr schnelle Cañas trinken, und schnelle Texte schreiben. Alles ist schnell, alles ist leicht. Erhöht. Nicht Leben, schon gar nicht Überleben, sondern Hyper­leben.

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Woman in the Dunes von 1964 ist angeblich der viel­leicht wich­tigste Film des japa­ni­schen Regis­seurs Hiroshi Teshiga­hara, dem die dies­jäh­rige Retro­spek­tive gewidmet ist. Es ist jeden­falls der Film, für den er am berühm­testen ist.
(Hier kann man den Film in relativ guter Qualität in OmU-Fassung sehen.)

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Ein Mann wandert durch die Wüste. Schon in den ersten Minuten erfahren wir durch reine Beob­ach­tung viel über ihn: Er ist ein technik-affiner Mensch, er trägt eine moderne Armbanduhr und eine Kamera. Man denkt an Homo Faber. Walter Faber war auch in der Wüste nach dem Flug­zeug­ab­sturz. Er ist ein Insek­ten­sammler. Wie Ernst Jünger, wie Lord Castle­pool in den Karl-May-Filmen der 60er Jahre.

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Sonne, Wüste, Raupen in Nahauf­nahme. Der Gedanke an Camus ist unver­meid­lich, an den Exis­ten­tia­lismus der Nach­kriegs­zeit, an Meer und Sonne. Auch später muss man denken: »Die Sonne ist schuld«.
Dann trifft er bei seinen Wande­rungen einen (eigent­lich von Anfang an schrägen und miss­trau­isch stim­menden) Bewohner der Gegend und sehr schnell kommt in den Gesprächen ein harter Gegensatz auf, der diesen Film unter­gründig durch­zieht; es ist der Gegensatz zwischen Land vs. Stadt; gebildet vs. unge­bildet; arm vs. reich;

In der Sonne denkt die Haupt­figur resi­gniert über das moderne Leben nach. Ein innerer Monolog: »Verträge, Lizenzen, ID-Karten, Erlaub­nisse, Zerti­fi­kate, Dokumente, Vorschriften«, verschie­denste Einschrän­kungen, die auch aus unserer Gegenwart stammen könnten. »Ist das alles? Hab ich was vergessen?« Er spricht also über die verwal­tete Welt. Und dann träumt er weiter und es geht um das Verhältnis von Frauen und Männern. »Männer und Frauen. Sie sind besessen von der Angst betrogen zu werden. Und denken sich neue Zerti­fi­kate aus, um das zu verhin­dern. Wo soll das enden?« Jeder wolle seinen sicheren Raum.
Aber in der modernen Welt gibt es aller Zerti­fi­kate zum Trotz keine Sicher­heit.

Es ist heiß. Er muss für die Nacht in einer Pension unter­kommen. Die Frau, die ihn beher­bergt, benimmt sich von Anfang an merk­würdig, schräg, cheesy. Wir ahnen den Betrug, nur er bleibt naiv. Sie flirtet zu sehr und ihr Ausschnitt ist schon früh sehr weit offen. Sie erzählt beiläufig, der Sturm habe Mann und Tochter getötet. Es scheint ihr nichts auszu­ma­chen.
Sie schläft nackt, sie hat sehr sehr viel Sand auf ihrer Haut, weil der Sand in diesem primi­tiven Holzhaus permanent durchs Dach rieselt. Sie hat nur eine Binde über ihren Augen, ansonsten ist sie unbe­kleidet. Und das alles tut sie am Tag, denn in der Nacht hat sie gear­beitet. Sand schleppen für die Dörfler.

Er ist tatsäch­lich von nun an ihr Gefan­gener auf Lebens­zeit, wir wissen es schon und er wird es schnell lernen.

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Der Sand fließt unver­min­dert und ohne je zu stoppen. Er ist eine Metapher auf das Leben.

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Die Erotik des Sandes. Dies ist das eine Thema. Er markiert die Haut, eroti­siert sie. Ihre Berüh­rungen in Groß­auf­nahme. Zunächst wäscht sie ihn ab, dann kommt es zu dem, was schon seit langem kommen musste. Der Sex ist ein bisschen merk­würdig und gleich­zeitig überhöht zu großem Glück und doch latent gewalt­tätig. Das ist weniger japa­ni­schen Erfah­rungen und Wahr­neh­mungen geschuldet als dem Zeitgeist der 60er. Sexuelle Befreiung, kultu­relle Revolte steht auch hier im Raum.

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In den Gesprächen: Menschen­leben gegen Hunde­leben; Freiheit gegen »ange­bunden sein«. Er flieht einmal; das bringt überhaupt nichts und der Geschei­terte landet im Treibsand und wird gede­mü­tigt zurück­ge­bracht.

Der Mann ist Lehrer, in der Freizeit und auch jetzt noch sammelt er Insekten, um »einen Namen« zu haben, aber nur irgendwie, nicht leiden­schaft­lich und gedan­kenlos auf alle Fälle. Sie sagt ihm: »Ohne den Sand würdest du dich nicht um mich kümmern.«
Viele Nahauf­nahmen, man sieht Haut, man sieht Haare, man sieht Schweiß, man sieht Sand auf der Haut. Es sind auch sonst sehr gute Bilder.

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Worum geht es eigent­lich? Es ist die Nieder­lage des Städters, des Gebil­deten, es ist auch der Untergang des Spießers.
Aber vor allem ist es der Sieg des Primi­ti­vismus über das Kompli­zierte und das Gebildete. Der Sieg der Unfrei­heit über die Freiheit; es ist ein total depres­sives meinet­wegen exis­ten­zia­lis­ti­sches, aber letzt­end­lich doch auch depri­mie­rendes Porträt des Menschen.

Einmal sollen sie vor dem ganzen Dorf Sex haben. Das will sie dann nicht und das Dorf will es gewis­ser­maßen als eine Art Ersatz-Fernsehen. Er wäre bereit, sagt: »We are Pigs anyhow«. Sie dagegen will den Anstand wahren.
Später entdeckt er, und das kommt mir relativ weit hergeholt vor und es ist nicht besonders inter­es­sant: »Capil­la­rity«, Kapil­lar­wir­kung. Er sagt »wir sitzen auf einer Pumpe« und will sie nutzbar machen. Er bleibt eben ein Homo Faber, aber ohne Kontakt zur Zivi­li­sa­tion.

Am Ende dann ist er resi­gniert und quie­tis­tisch: »If not today then tomorrow« – das hätte auch Oblomov sagen können und viel viel später fast im Abspann schon sehen wir »report of the missing person« und wir sehen, dass er 1927 geboren ist.

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Der schreck­liche Robert Lewan­dowski bleibt auch in Spanien schreck­lich. Vor Jahren saß ich hier im Café Artess, und erlebte, wie er in einer einzigen Halbzeit gegen Wolfsburg fünf Tore schoss, damals noch für den FC Bayern und gegen Wolfsburg lässt man das gerade gelten. Hier nun sehe ich das Ende des Spiels des FC Barcelona gegen Celta Vigo, die eine Menge meiner Sympa­thien haben, auch gegen Barcelona. Und Lewan­dowski dreht dieses Spiel: Nach einem 0:2 wird es noch ein 3:2.

Auch in der 83. Minute führte Celta noch, aber dann sieht man diesen FC Bayern-haften unbedingt vorhan­denen Willen zum Sieg. Und Celta Vigo spielte gar nicht schlecht, sie halten den Ball, sie sind trotzdem immer offensiv, und Barca muss etwas tun und irgendwie ist Vigo dann zu blöd. Der schwach­köp­fige Lewan­dowski ist einfach unglaub­lich, es ist sein zweites Tor. Ich muss es Barca-Fan-Violeta sagen: »Ich hasse Lewan­dowski!« Wenn man das Spiel sieht, dann denkt man irgend­wann: 'wo sind wir hier?' 'Muss es denn so sein, das Barca sich nur mal 10 Minuten lang konzen­triert und dann den Gegner besiegt?'

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»La sociedad de la nieve« von J. A. (Juan Antonio) Bayona nach einem Buch von Pablo Vierci ist eine urugu­ay­isch-chile­nisch-spanische Kopro­duk­tion und erzählt von jenem welt­berühmten Flug­zeug­ab­sturz in den Anden am 13.10.1972 und dem Überleben von 16 Menschen über zwei­ein­halb Monate.

Erster Satz: »Die Vergan­gen­heit ist es, die sich am meisten verändert.« (The past is what changes the most.).

Vorher sieht man die Mann­schaft mal beim Rugby und dann ein paar Personen in ihrem persön­li­chen Leben. Hier findet eine ganz kluge oder zumindest effektive Irre­füh­rung der Zuschauer statt, weil man von den bekannten Hollywood- und Netflix-Sehge­wohn­heiten her glaubt: diese Menschen nun werden zumindest alle überleben. Dem ist keines­wegs so – auch einige der Figuren, die am meisten ans Herz wachsen, überleben nicht.

Es folgt ein sehr gut filmisch umge­setzter Absturz der zwei­mo­to­rigen Propel­ler­ma­schine mit etwa 40 Passa­gieren und 5 Besat­zungs­mit­glie­dern. Mit Splat­ter­ef­fekten wirkte es auf mich erstaun­lich realis­tisch. Und das sage ich jetzt mal ausnahms­weise auch als Sohn eines Piloten und einer Stewar­dess.

Die Maschine brach ausein­ander, 11 Tote waren im Flugzeug. Die erste vieler ethischer fragen: Was tut man mit Toten in so einer Lage? Man kann sie noch nicht mal richtig bestatten. Man zieht ihnen also die Schuhe wieder an, bevor man sie zur Seite legt.

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Das Inter­es­sante an diesem Ereignis, das weltweit Schlag­zeilen machte, und vor 20 Jahren bereits einmal mit Ethan Hawke verfilmt wurde, ist, dass es medial verhält­nis­mäßig gut doku­men­tiert ist. Denn man hat sogar Bilder aus den Hubschrau­bern, die seiner­zeit als erste nach über 60 Tagen das Flug­zeug­wrack erreichten. Aber auch mehrere der Teil­nehmer foto­gra­fierten während der Zeit des Wartens auf Rettung.

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Inter­es­sant auch, wie sie dann disku­tieren. Nach ungefähr acht Tagen beginnen sie darüber zu sprechen, von den Leichen­teilen zu essen.
Der Tabubruch wird nicht sofort vollzogen. Aber weil es natürlich ein Tabubruch ist, geht es den Über­le­benden unter anderem um seine Recht­fer­ti­gung, und um die Frage des mora­li­schen oder ethischen Umgangs damit.
Für ihn gibt es das Argument der Organ­spende. Es gibt das religiöse und natur­recht­liche Argument, dass man das Recht hat, auch im Sinne der Religion, alles dafür zu tun, um das eigene Leben zu erhalten. Und es gibt die Frage, ob die Menschen später dafür trotzdem bestraft werden und ins Gefängnis kommen können, gar sollten.

Inter­es­sant aber auch bedau­er­lich ist, dass der Film sich mit diesen ganzen mora­li­schen und ethischen Debatten überhaupt nicht weiter aufhält. Das ist sicher­lich auch ein Kritik­punkt. Denn es wäre klug gewesen, darauf zumindest im Nachspann in irgend­einer Weise einzu­gehen oder etwas mehr an Diskus­sionen zu zeigen. Natürlich wissen wir vieles. Wir wissen, dass diese Leute sich tatsäch­lich von Menschen­fleisch ernährt haben, und wir wissen, dass sie nur dadurch überlebt haben. Am Ende des Tages ist dies trotzdem einer von mehreren Aspekten, der an diesem Fall einmalig ist und der uns nach wie vor heraus­for­dert.

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Man kann dem Film ästhe­tisch noch das eine oder andere mehr vorwerfen. Er ist insgesamt ohne Frage relativ main­streamig – ein Netflix-Film eben –, er ist sicher­lich auch in einigen Aspekten melo­dra­ma­tisch und zwar melo­dra­ma­ti­scher, als es hätte sein müssen, mit kitschiger Musik unterlegt. Auf der anderen Seite ist dies ein groß­ar­tiges Thema und eine sehr sehr unge­wöhn­liche Geschichte. Es gibt auch keinen wirk­li­chen Anta­go­nisten, was es drama­tur­gisch schwer macht. Der Anta­go­nist ist die Natur, ist der Tod selbst. Es gibt für die Figuren nur verschie­dene Arten, sich zu verhalten und die Heraus­for­de­rung an die Zuschauer liegt in diesen verschie­denen Iden­ti­fi­ka­ti­ons­an­ge­boten. Ein Zuschauer wird sich, wenn er hier mitgeht, posi­tio­nieren (müssen).

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Eine Frage, die mich beschäf­tigt, ist natürlich die, wie die Menschen danach damit lebten und eigent­lich würden wir das auch sehr gerne sehen, wie es weiter­geht: Was sie für ein Leben lebten? Wie sie heute auf diese Zeit zurück­bli­cken? Isst man danach noch Fleisch? Wird man Vege­ta­rier? Fliegt man danach noch? Was für ein Verhältnis hat man danach zum Schnee? Zu den Bergen?

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Zwei Cousins machten die schlimmste Arbeit, sie nahmen die Leichen ausein­ander, und enthielten den anderen vor, von welchem Körper sie gerade essen. Tatsäch­lich wurden die Toten über die zwei Monate regel­recht ausge­weidet; es blieb sehr wenig von ihnen übrig. Im Film sehen wir die voll­kommen entfleischten Rippen.

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Diese Menschen waren Kanni­balen aus guten Gründen.

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Insgesamt bleibt das alles absolut unvor­stellbar! Nicht vergessen sollten wir auch, dass es nicht genug war mit dem eigent­li­chen Absturz; die Über­le­benden wurden auch noch von einer Lawine heim­ge­sucht und unter dieser Lawine erstickten fünf weitere Menschen.

Im Kopf behalten sollten wir, wenn wir über die gene­rellen Über­le­bens­mög­lich­keiten und -mittel in solchen Fällen sprechen, dass die aller­meisten dieser Menschen junge Männer waren und keiner wirklich alt. Dass sie sportlich waren, ein Rugby-Team. Bemer­kens­wert ist auch, dass die meisten von ihnen aus der Ober­klasse kamen; sie waren gebildet, sie haben studiert und sie haben aus dem Grund auch Rugby gespielt, weil das gewis­ser­maßen als Ober­klas­sen­sport studen­tisch zum guten Ton gehörte. Sie waren ein Team. Sie waren Banker, Unter­nehmer, Anwälte und Ärzte; und einer von den Über­le­benden war ein Arzt mit mehr oder weniger abge­schlos­senem Medi­zin­stu­dium, was natürlich auch extrem half bei der Versor­gung der Verwun­deten und bei dem Behandeln von Verlet­zungen, bei der Planung der Ernährung und solchen Dingen.
Sie wussten auch, dass das Wetter immer besser werden würde. Der Sommer in Latein­ame­rika beginnt im November. Aber sollte man überhaupt die Unglücks­stelle verlassen? Sollte man nach Osten gehen oder nach Westen. Zuerst sind sie nach Osten gegangen, Richtung Argen­ti­nien, was eigent­lich gar keinen Sinn machte und ihnen doch half. Dann nach Westen.

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Relativ am Schluss stellt einer die Frage: »What do they see?« Bezogen auf die Medien und auf die Verwandten und Freunde, wenn sie sie anschauen. Bezogen auf die Unfähig­keit des Nach­voll­zie­hens.

Viel­leicht ist die Unfähig­keit des Nach­voll­zie­hens noch schlimmer, als die Unfähig­keit zu trauern. Die Unfähig­keit des Nach­voll­zie­hens macht die Über­le­benden einsam.

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Das ganze ist natürlich auch– und selbst wenn das manchen nicht gefallen mag – eine Lektion in Techniken des Über­le­bens. Man braucht Lebens­willen, man braucht harte Entschei­dungen, man braucht die Fähigkeit, Prio­ri­täten fest­zu­setzen und zu prio­ri­sieren, worauf es ankommt.
Homo Faber im Schnee.

(to be continued)