29.09.2023
71. Festival de Cine de San Sebastián 2023

Wer einmal von dem Blitzschlag kostet...

Los Impactados
Los Impactados: Ein überraschend guter und stimmiger Film...
(Foto: Filmfestival San Sebastian)

Twilight Zone: »Moldavian women are the best«, »Pandemic my ass« und andere Weisheiten in Filmen von Cristi Puiu, Lucía Puenzo und Liang Ming – Notizen aus San Sebastián, Folge 4

Von Rüdiger Suchsland

»'Es denkt' sollte man sagen, so wie man sagt: 'Es blitzt'. Zu sagen ''Cogito' ist schon zuviel.«
– Georg Christoph Lich­ten­berg

In San Sebastián ist Schul­be­ginn für viele Kinder übrigens erst um 8:45 Uhr oder 9 Uhr. Am noch kühlen Morgen, wenn ich wie heute mit dem Fahrrad zum Kino direkt durch die Altstadt fahre, sehe ich viele Grund­schul­kinder, aber auch ältere, die erst dann manchmal von den Eltern begleitet zur Schule kommen.
Es geht also, wenn man will.

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Der Trailer des Festivals nervt. Allein schon, weil er von voraus­ei­lendem Rhythmus-Geklat­sche einer laut­starken Publi­kums­min­der­heit begleitet wird. Erst recht und noch mehr, weil er einer­seits sich ganz primitiv selbst abfeiert, aber nicht mal jede Sektion in ihm vorkommt. Zum Beispiel die Retro­spek­tive nicht.
Das passt zum Gespräch mit einer lang­jäh­rigen Freundin über das Festival, dessen Fazit auch lautet: »Der Geist der Taba­k­a­lera-Reihe übernimmt das Festival.« Also immer weniger Genre, immer mehr fließende Übergänge zwischen Kino und Video-Kunst, überhaupt zu viel Kunst, zu wenig Exzess, zu viel Anstand und Regel­be­fol­gung. Die Fehler der Berlinale werden gerade also in den letzten Jahren, in San Sebastián wieder­holt.

Zur Ehre der Spanier muss man sagen, dass ihnen das irre Geklat­sche des baski­schen Publikums selbst am meisten auf die Nerven geht.

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»Wirst du mir vergeben?« – »Für was?« – »Für alles.«. Es beginnt mit diesem Dialog. Körper im Pool, zunächst unklar. Dann das Gesicht einer jungen Frau ganz nah, im Kran­ken­haus.
Ziemlich schnell verstehen wir: Ada ist Tierärztin; als sie einer Kuh beim Kalben half, wurde sie vom Blitz getroffen. Im Rückblick wird das erzählt. Sie hat inmitten ihrer schwarzen Haare nun ein paar weiße. Über ihren Körper ziehen sich deutlich sichtbar rote Äderchen, wie dünne Äste oder Farn. Erst später erfahre ich, dass diese Lich­ten­berg-Figuren heißen.

Es gibt sie wirklich, diese vielen tausend Menschen, die vom Blitz getroffen wurden und dies über­lebten, mit Folgen für Psyche und Physis. Was hier im Film von Lucía Puenzo – schon wieder ein argen­ti­ni­scher Film, aber ein sehr unty­pi­scher – ein beweis­bares Phänomen, was pure Fantasy, und was Grau­be­reich ist, weiß ich nicht, es spielt auch für diesen Film keine Rolle, so faszi­nie­rend es auch ist. Denn so oder so ist Los Impac­tados für das Feld von Blitz­schlag etwa das, was Crash von David Cronen­berg für Auto­un­fälle und Julie Ducournaus Titane für Metall ist, wenn auch auf nied­ri­gerem Niveau – ein Film über eine perverse Sucht, eine seltsame, schwer nach­voll­zieh­bare, aber unbe­zwing­bare, erotische und sado­ma­so­chis­ti­sche Faszi­na­tion: Ada, die nun eine »Aura« im rechten Auge hat, die nur durch einen Magnet zu bändigen ist, ist von nun an »elek­tro­phil«. Sie holt sich ihren Kick mit dem Griff in die Steckdose, sie ist extrem licht­emp­find­lich, so elektro­emp­find­lich, dass nachts sogar der Kühl­schrank ausge­macht wird, ihr Nerven­system reagiert auf elek­tri­sche Felder, denn durch den Blitz wurde, wie es einmal heißt, ihr Bewusst­sein »pulve­ri­siert«. Schmerz ist Lust.

Bald schließt sie sich einer Selbst­hil­fe­gruppe an, die von dem älteren charis­ma­ti­schen Blitzguru Juan geleitet wird, der zu allem irgend­etwas zu sagen hat, und die Gruppe in immer neue Blit­z­er­fah­rungen führt. Einer aus der Gruppe wurde fünfmal vom Blitz getroffen. Man redet über Erfah­rungen, lernt viel über Elek­tro­wellen, und Synchro­ni­zi­täten in der Natur.

Irgend­wann hat Ada, die immer mit schwarzen Doc Martins und einem oliv­grünen Barbour-Jacket herum­läuft, vorher­sehbar Sex mit dem Blitz-Opa, der viel, viel leiden­schaft­li­cher ist, als sie es bis dahin kannte.
Es gibt, wenn sich ihre Körper berühren dabei dann so Geräusche wie sonst nur beim Elek­tro­scho­cker – bzzz bzzzzzz – und sie hat einen ganz tollen Orgasmus.

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Auch wenn sich das jetzt cheesy anhört, ist Los Impac­tados ein über­ra­schend guter und stimmiger Film, mit einer sehr guten Kamera (Nicolás Puenzo), der unge­wöhn­liche Genre­ki­no­bilder bietet und bei dem man sich fragt, warum so etwas nicht im Wett­be­werb läuft, der in diesem Jahr ein über­schau­bares Niveau hat. Ohne Frage hat der Film auch Schwächen – mir haben die Männer überhaupt nicht gefallen, die Frau ist besser, aber auch etwas ange­strengt gespielt.

Aber das Thema Blitze als Religion ist seltsam und besonders.

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Dies ist ein roman­ti­scher Film. Die Mutter ging nachts mit der Tochter immer raus, und beide schauten sich den Vollmond an. Irgend­wann hat die Mutter sich dann umge­bracht. Vorher hat sie die Tochter um Verzei­hung gebeten – das waren die Sätze vom Anfang. In Rück­blenden wird das erzählt.

Der Haupt­vor­wurf gegen den Film ist, dass alles noch ein ganzes Stück schräger und perverser sein könnte.

Am Schluss hat Ada ein Kind und erinnert sich an Juan: »You showed me to be myself. Not the one I was. But the one I am now.«

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Im Wett­be­werb um den Publi­kums­preis liegt La Sociedad de la Nieve ganz vorne.

Aber wer könnte am Samstag die Muscheln gewinnen? Viele seriöse Kandi­daten gibt es nicht. Es dürfte also ein unse­riöser Preis­träger werden.
Oder die Jury um Claire Denis und Christian Petzold einigt sich auf eine der beiden argen­ti­ni­schen Komödien. Oder auf Cristi Puiu, den großen, immer noch unter­schätzten Rumänen...

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Puius neuer Film heißt MMXX, also 2020, und hat vier Kapitel. Sie erzählen jeweils geschlos­sene Geschichten. Die ersten drei sind durch über­lap­pende Haupt­fi­guren verbunden, alle vier durch Themen – Krise, Gesell­schaft im Umbruch, das Scheitern der Träume, allge­meine Korrup­tion – und die sarkas­tisch-humane Haltung.
Nichts Neues – das stimmt. Aber meis­ter­lich wird insze­niert: Schnell, mit Dauer­dia­log­ge­wit­tern, immer in Bewegung.
Die ersten zwei Kapitel spielen wieder in so einer typischen »Cristi-Puiu-Wohnung«, voll­ge­stopft mit Regalen, und in den Regalen Bücher, Kassetten, Lebens­mittel, Klamotten. Von allem zu viel.
Nichts ist durch­ge­stylt, aber eben indirekt sehr wohl. Wenn ich an diesen Regisseur denke, dann denke ich zuerst an diese Räume und ihre Überfälle und an das Design und die Choreo­gra­phie der Figuren in diesen Räumen drin.
Die Kamera ist ganz hervor­ra­gend. Sie ist nervös, sie ist bewegt, sie ist aber immer bei den Leuten und insgesamt ist dieses Szenario mit einem Nichts­nutz-Bruder und der ein bisschen auto­ri­tären Ärztin-Schwester. die aber auch allein gelassen alle Dinge selbst regeln muss (auch für ihren dummen Mann), insgesamt ist dieses Szenario toll und lustig.

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Es geht um die Fami­li­en­dy­namik und um eine bürger­liche Familie. Um Frauen- und Männer­ge­quat­sche – »Moldavian women are the best« hören wir – außerdem gibt es ein paar gute Witze über die Pandemie, über Masken-absetzen und so weiter. Eine Frau sagt: Wenn ich die Maske aufhabe, beschlägt immer die Brille, eine andere sagt: ich kann nicht richtig gut atmen – für solche Aussagen ist man in Deutsch­land schon ein halber Quer­denker.

Es sind vier Szenen eines Gesell­schafts­chaos in Rumänien. Drei davon hängen direkt mitein­ander zusammen, die vierte sticht ein bisschen heraus, wird von manchen auch als quali­tativ die beste angesehen. In jedem Fall ist dies einer der zwei besten Filme im Wett­be­werb.

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Der schlech­teste ist Le Succes­seur von Xavier Legrand, der erste Franzose, den ich in diesem Jahr hier gesehen habe.

Es geht um das Erbe und die Sünden der Väter, und wieder mal um schwache Männer. Der Regisseur benutzt die typischen Tropen des Horror­films, um Szenen mit Spannung zu kreieren.
Aber die Geschichte über einen Erfolgs­men­schen, der seinen toten, zu Lebzeiten entfrem­deten Vater beerdigen will, und dann im Keller ein gefangen gehal­tenes Mädchen entdeckt, dieses aus Versehen tötet, den Perver­sionen und Verbre­chen des Erzeugers nicht gewachsen ist und sich schließ­lich umbringt, ist zu konstru­iert und viel zu konfus und unglaub­würdig erzählt, um irgend­etwas mehr zu sein, als zwei Stunden Lebens­zeit­ver­lust.

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Der chine­si­sche Film im Wett­be­werb A Journey in Spring von der Taiwa­nesin Tzu-hui Peng ist noch schlimmer – nämlich stink­lang­weilig. Nicht meditativ, sondern einfach nur dröge und schlep­pend, niemals Inten­sität entfal­tend, beob­achten wir trotzdem ein Paar, das sich streitet, was wohl ein Zeichen einer gewissen Zuneigung, Verbun­den­heit und Gewohn­heit anein­ander sein soll. Dann stirbt die Frau und ihr Mann steckt die tote Alte in die Gefrier­kühl­kiste und macht sich auf eine Reise. Das Ganze soll man dann wohl als Trau­er­ar­beit begreifen, spätes­tens wenn er irgend­wann unter einem Wasser­fall sitzt und da wahr­schein­lich trauert. Trotzdem muss irgend­wann noch der Kühl­schrank geleert werden.

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Viel viel besser ist Carefree Days, der chine­si­sche Eröff­nungs­film der »Nuevos Direc­tores« in der Regie von Liang Ming gewesen.
Die Haupt­figur Xu ling ling ist eine Rebellin. Die ersten Minuten begleiten wir sie durch ein groß­ar­tiges quietsch­buntes Pop-China. Sie liest »carpe diem«, doch bevor sie das in die Tat umsetzen kann, bricht sie zusammen. Eine schwere Nieren­krank­heit wird diagnos­ti­ziert, Xu ling ling muss regel­mäßig zur Dialyse, und braucht schnell eine neue Niere. Kurz darauf stirbt auch die Mutter, weswegen sie zu ihrem Vater zieht, den sie kaum kennt.

Wir lernen Freunde kennen und das Lebens­ge­fühl und die Vielfalt des jungen China. Am Ende gibt es eine Roadmovie-Reise in den hohen Norden, wo das Meer fast zuge­froren ist.
Jia Zhangke hat mitpro­du­ziert – das hilft, sich alles vorzu­stellen.

(to be continued)