24.12.2020

Alte Freunde treffen – Teil 1: Hannah und ihre Schwestern

Hannah und ihre Schwestern
Bei allem Fremdschämen ist Woody Allens verzweifelte Suche nach »Lebenssinn« und »Beziehungsglück« immer noch sehenswert
(Foto: DVD-Cover, Axel Timo Purr)

Alte Filme sehen ist wie alte Freunde treffen, mal ein Glück, mal ein Fiasko oder einfach nur langweilig – Woody Allens Hannah und ihre Schwestern hat noch mehr zu bieten

Von Axel Timo Purr

(i do not know what it is about you that closes)
and opens;only something in me under­stands
the voice of your eyes is deeper than all roses
nobody,not even the rain,has such small hands
– e.e. cummings, somewhere i have never travelled gladly beyond

Hannah und ihre Schwes­tern ist der gelun­genste, weil viel­schich­tigste Film Woody Allens.
– Hellmuth Karasek, Der Spiegel (06.10.1986)

Dass ich Hannah wieder­sehen wollte, entstand durch eine dieser abstrusen, Corona-bedingten Plan-B-Umlei­tungen. Da unser Lesekreis wegen der pande­mi­schen Entwick­lung nicht mehr zusam­men­kommen durfte, entschieden wir uns, in wech­selnden Zwei­er­gruppen an der Isar spazie­ren­zu­gehen und ein auswendig gelerntes Gedicht zu rezi­tieren. Ich dachte zuerst an eins der großen Herbst­ge­dichte von Barthold Heinrich Brockes (»Das tiefe Blau der etwas kühlern Lüfte / Erfüllen jetzt gar viel gewölckte Düfte...«), doch kaum hatte ich daran gedacht, wurde es auch schon von einem Gedicht von e.e. cummings verdrängt: »maggie und milly und molly und may / die gingen zum strand aus spielerei...«.

Das war es, und das lernte ich auch auswendig, und mit jeder auswendig gelernten Zeile war ich einmal mehr von cummings und der deutschen Nach­dich­tung von dem heute völlig verges­senen K.-D. Sommer (in der großar­tigen cummings-Ausgabe von Volk und Welt) hinge­rissen, die mit einem der schönsten Doppel­verse endet, die ich kenne: »may trug heim einen runden stein / so klein wie die welt und so groß wie allein // Denn was wir je verliern(seis ein dich oder mich) / wir finden im meer das eigene ich«.

Aber erst beim Vortrag und der Frage von Katrin, wie ich denn auf cummings gestoßen sei, fiel mir der fast genauso schöne Moment ein, wie ich cummings kennen­ge­lernt habe. Es war 1986 gewesen, im Rasch­platz­kino in Hannover, in Woody Allens Hannah and Her Sisters. Ich erinnerte mich sofort an die Szene: Der Buchladen, in den Elliot (Michael Caine) mit Lee (Barbara Hershey) geht und einen Gedicht­band von cummings entdeckt, ihn Lee kauft und sie bittet, das Gedicht auf Seite 104 zu lesen, weil er bei diesem Gedicht immer an sie denken müsse: »niemand, nicht einmal der regen, hat so kleine hände.« So wie Elliot sich in Lee verliebt hatte, war ich ab diesem Moment in cummings' Gedichte verliebt. Gedichte, die einfach nicht altern wollen. Ich fragte mich, ob es mir auch mit Allen und seiner Hannah so ginge, denn seine letzten Filme, auch A Rainy Day in New York, hatten in mir so gut wie nichts mehr ausgelöst.

Je mehr ich an Hannah dachte, desto mehr erinnerte ich mich daran, wie wichtig der Film für mich gewesen war, dass die Bezie­hungen der drei Schwes­tern und ihrer Partner wichtige Rollen- und Bezie­hungs­mo­delle für mich gewesen waren, auch wenn die Männer in Hannah 30 Jahre älter waren als ich. Aber auch Kinder sehen ja gerne Filme, in denen ältere Prot­ago­nisten die irrsten Lebens­ent­würfe anbieten, die dann später ganz entspannt verworfen oder ange­nommen werden, also über solche Filme zumindest so etwas wie eine grund­sätz­liche Rollen­mo­del­lie­rungs-DNA angelegt wird.

Für mich war weniger der von Woody Allen verkör­perte Charakter des Mickey wichtig, den er Tolstois Anna Karenina entlehnt hatte und der zwischen den Schwes­tern hin- und herflot­tierte und allein von seiner Hypo­chon­drie getrieben zu sein schien. Viel näher ging mir Max von Sydows Rolle des Frederick, an den sich auch gleich Michael Haber­lander erinnerte, als ich ihm von meinem Wieder­sehen erzählte. Für ihn war Frederick schon allein wegen dieses Ausspruchs eine Erin­ne­rung wert: »You missed a very dull TV show on Auschwitz. More gruesome film clips, and more puzzled intel­lec­tuals declaring their mysti­fi­ca­tion over the syste­matic murder of millions. The reason they can never answer the question ›How could it possibly happen?‹ is that it’s the wrong question. Given what people are, the question is ›Why doesn’t it happen more often?‹«
Für mich war es weniger dieser Satz, als der Typ von Mann, der mich anzog, ein Mann, der so auch in Wim Wenders' Filmen immer wieder vorkommt. Es sind Männer, die wie im Im Lauf der Zeit im Grunde bezie­hungs­un­fähig sind, weil ihr Ego (oder die Kunst oder alte Rollen­mo­delle) stärker als alles andere ist. Und es sind natürlich Männer ihrer Zeit, die Frauen aller­höchs­tens als Muse oder mütter­liche Freundin dulden. Einer Zeit, das darf man nicht vergessen, als auch noch Peter Handke der Über­zeu­gung war, dass Frauen nicht das Talent zu guter Schrift­stel­lerei haben.

Den Buchladen wieder­zu­sehen war ein großer Moment. Ich hätte zwar schwören können, dass Elliot das Gedicht von cummings bereits im Buchladen zitiert und Lee es nicht erst zu Hause liest, aber sonst war alles so wie in meiner Erin­ne­rung.

Den Pageant Book and Print Shop aus dem Film gibt es heute aller­dings nicht mehr. 1999 wurde auch die letzte Pageant-Filiale im Zuge von Gentri­fi­zie­rung und Digi­ta­li­sie­rung geschlossen und die 2007 neu eröffnete Filiale handelt nur mehr mit Karten und Drucken, aber nicht mehr mit Büchern.

Was mich beim Wieder­sehen über­rascht hat, war, dass Allens Humor immer noch funk­tio­niert. Bissig, zärtlich, politisch völlig unkorrekt, heute gar nicht mehr möglich. Ähnlich steht es um die vorge­führten Bezie­hungs­mo­delle, die wie auch bei Wenders in diesem Bezie­hungs­schau­laufen aller­dings fast nur noch Fremd­schämen erzeugen: Ältere Männer, die ihre jungen Frauen erziehen wollen, so wie Innstetten seine Effi. Und junge Frauen, die sich um einen älteren (und erfolg­rei­chen) Mann streiten. Ein Univer­si­täts­pro­fessor spannt Elliot, der ja eigent­lich mit Hannah (Mia Farrow) zusammen ist, dann auch noch Lee aus, weil sie in seinen Kursen sitzt und ihm so verfällt wie vorher dem schon viel älteren Frederick, und dem natürlich auch schon väter­li­chen Elliot. Und dann erst der fast genauso uner­trä­g­lich-väter­liche Architekt, der sich Holly (Dianne Wiest) und ihre Catering-Kollegin April (Carrie Fisher) angelt. Man könnte zwar meinen, das ist alles zum Glück schön weit weg, doch sieht man sich Sofia Coppolas neuen Film On the Rocks an, erkennt man sehr schnell, dass die alten, gender-hier­ar­chi­schen Bezie­hungs­mo­delle anschei­nend unaus­rottbar sind.

Gleich­zeitig lässt sich gerade aus dieser Zukunfts­per­spek­tive (also unserer Gegenwart) auch erahnen, wie doku­men­ta­risch Allens Film ist. Damit ist nicht nur das immer noch großar­tige New York gemeint, das aus den ver-rück­testen Kame­ra­win­keln nicht nur gewürdigt, nein, regel­recht umarmt, leiden­schaft­lich geliebt wird. Sondern da sind dann auch die Frauen, ehrlich, gebrochen, suchend, ambi­va­lent wie nur wenige Charak­tere Allens vor und nach diesem Film. Das wird durch Mia Farrows 1997 erschie­nene Erin­ne­rungen What Falls Away: A Memoir bestätigt und dann auch in Frage gestellt, erkennt Farrow in Allens filmi­schem Charakter bereits den wirk­li­chen Allen, auch wenn es in der Realität nicht eine von Farrows Schwes­tern, sondern die Adop­tiv­tochter war, zu der Allen wechselte. Aber schwerer wiegen hier fast noch die Verzer­rungen der Realität und das para­si­täre Abschöpfen dieser Realität: »It was my mother’s stunned, chill reaction to the script that enabled me to see how he had taken many of the personal circum­s­tances and themes of our lives, and, it seemed, had distorted them into cartoo­nish charac­te­riz­a­tions. At the same time he was my partner. I loved him. I could trust him with my life. And he was a writer: this is what writers do. All grist for the mill. Relatives have always grumbled. He had taken the ordinary stuff of our lives and lifted it into art. We were honored and outraged.«

Doch all das Fremd­schämen und aus der Zeit Gefallene mal beisei­te­ge­schoben: Allens Film berührt in seiner verzwei­felten Suche nach »Lebens­sinn« und »Bezie­hungs­glück« immer noch. Und ganz nebenbei erinnert er in Pandemie-Zeiten an einen anderen Virus – »Die tragen jetzt alle Hand­schuhe, weil sie Angst vor Aids haben« – einen, der fast schon in Verges­sen­heit geraten ist.

Und dann ist es ein wirk­li­ches, ein großes Glück, Charak­teren zu begegnen, die damals so alt waren, wie ich es heute bin, und zu sehen, was aus Rollen­mo­dellen, aus Vorbil­dern, Sehnsucht und Träu­me­reien so wird: nämlich niemals das, was wir damals erwartet haben.