19.03.2020

Hinter geschlossenen Türen

Walker Percy Der Kinogeher
Was tut man als »Kinogeher« (Walker Percy), wenn das alles plötzlich wegfällt, wenn der spezielle existentielle Zustand, den das Kino bedeutet, einem auf einmal untersagt ist.
(Foto: A.T. Purr)

Es ist als ob es tausend Pixel gäbe, doch hinter tausend Pixeln keine Welt: Wir Kinogänger – allein zuhaus.

Von Rüdiger Suchsland

Das Kino war immer schon eine infek­tiöse Ange­le­gen­heit. Was gibt es Schöneres, als gemeinsam, eng in einem dunklen Kinosaal zu sitzen? Den fremden Nachbarn zu spüren. Seinen Atem, sein Stöhnen, Reak­tionen auf den Film. Sich gehen zu lassen, süchtig am Lein­wand­ge­schehen zu hängen, und sich gleich­zeitig aber auch mit den anderen Zuschauern zu verbinden in einer Wech­sel­wir­kung der Gefühle?

Kino – das ist immer mehr als der Film, der da vorne läuft. Kino ist immer schon Gesel­lig­keit mit Unbe­kannten, Bekannt­schaft mit dem Fremden, Gier auf das Neue, Kino ist Exzess, Gegenwelt, Jahrmarkt und Spektakel. Kino ist die schöne Sünde.

In den letzten Jahren hat man schon versucht, diesen sünd­haften Teil des Kinos zu bändigen. Raucher­säle wurden verboten; Cineplexe lösten das Kino um die Ecke ab; aus Programm­kinos wurden durch­for­ma­tierte Abspiel­plätze für Arthouse-Main­stream und Fami­li­en­filme; lang­wei­lige Well­ness­be­re­chen­bar­keit trat an Stelle des produktiv Heraus­for­dernden; Mitter­nachts­filme wurden selbst bei Film­fes­ti­vals abge­schafft.

Aber das Kino wehrte sich gegen diese Nacht­wäch­ter­men­ta­lität der Mehr­heits­ge­sell­schaft.

Es beharrte eigen­sinnig auf seiner Beson­der­heit und seiner Wildheit.

Neue Kino­kon­zepte entstanden, alte Kinos wurden restau­riert.

Tausendmal wurde das Kino schon totgesagt, tausend­und­einmal stand es wieder auf.

Denn wie bei aller Kunst geht es gerade auch bei der Massen­kunst Kino, die keine Klasse, keine gesell­schaft­liche Gruppe unberührt lässt, darum, zu irri­tieren, heraus­zu­for­dern, zu beun­ru­higen.

Nun aber ist alles anders.
Plötzlich, von einer Woche auf die andere, ist alles vorbei. Seit 125 Jahren gibt es erstmals kein Kino in Europa.

Der staatlich ange­ord­nete Shutdown der Kultur, das Schließen der Kinos und Film­mu­seen, das Aussetzen aller Neustarts im Kino und Film­fes­ti­vals trifft alle Kinogeher hart.

Alle die, die es gewohnt sind, mehrfach pro Woche in einen fremden öffent­li­chen Raum zu gehen, dort auf die Dunkel­heit zu warten und mit fremden Menschen, allen­falls auch ein paar Freunden und Vertrauten, einzu­tau­chen ins Unbe­kannte, Unver­traute, das jeder neue Film natur­gemäß ist, und das die Faszi­na­tion des Kinos ausmacht.

Was tut man als »Kinogeher« (Walker Percy), wenn das alles plötzlich wegfällt, wenn der spezielle exis­ten­ti­elle Zustand, den das Kino bedeutet, einem auf einmal untersagt ist. Wenn das Kino-Fasten erzwungen ist, nicht selbst­ge­wählt?

Was ersetzt ihn? Wie hilft man sich über die Runden?

Entzugs­er­schei­nungen zeigen sich bereits jetzt, nach wenigen Tagen.

Was helfen Strea­ming­dienste, Media­theken, die DVD-Sammlung? Besten­falls wirken sie wie Methadon, schützen den Süchtigen vor dem Austicken, vor dem Koller.

Denn es sind Pixel. Digitale Signale, nicht tot und nicht lebendig, Zombie­bilder.

Es ist, als ob es tausend Pixel gäbe, doch hinter tausend Pixeln keine Welt.

Dieser Zustand des Digital-Sehens, des Allein-Sehens, des Zuhause-Sehens verändert unseren Blick auf Filme, auf Kinos.

Es nimmt den Zauber, die Magie und das Wunder­same, das Jetzt und Hier aus den Filmen und macht aus ihnen eine Ware wie alle anderen – beliebig verfügbar, jederzeit und überall.

Aus der Neben­sache und dem Notbehelf wird plötzlich die Haupt­sache.

Wir können dabei gewinnen an Zeit und Tiefe und Nach­hal­tig­keit behauptet die Ideologie der Quaran­täne jetzt schon in voraus­ei­lendem Auto­ri­täts­ge­horsam.

Aber wir Kinogeher sind in einem ganz eigenen Ausnah­me­zu­stand. Wie werden wir daraus wieder heraus­kommen? Als Geläu­terte, Un-Abhängige? Als Trau­ma­ti­sierte?

Nein! Als noch viel Kino-Hung­ri­gere. Einge­schlossen sind wir jetzt plötzlich nicht mehr ins Offene, Unbe­kannte, sondern ins Allzu-Vertraute.
»Die Hölle, das sind die Anderen« schrieb Jean-Paul Sartre einst in seinen Stück »Hinter geschlos­senen Türen«. Aber Sartre kannte nicht Corona. Denn die wahre Hölle, das ist es, ohne die Anderen leben zu müssen; verdammt zu sein zum Allein-Sehen.

Bis dahin träumen wir den Traum vom Einbruch ins Kino – Beschaf­fungs­kri­mi­na­lität in tristen Zeiten.