15.10.2015

Filmfest Hamburg – Was die Welt bewegt

NICE PEOPLE
NICE PEOPLE – Publikumspreis mit 98,5% „Fand ich toll“- Stimmen

Internationale Filmfestivals sind ein Spiegel zur Welt, gibt das Programm doch Einblick in die unterschiedlichsten Lebenswelten an den unterschiedlichsten Orten dieser Erde – eine Diversität, die man im Mainstreamkino vergeblich sucht. Für das Filmfest Hamburg gilt dies ganz besonders.

Von Sophie Charlotte Rieger

Das maßgeb­lich durch die Hamburger Kultur­behörde und den NDR unter­s­tützte Festival spielt sowohl in der inter­na­tio­nalen als auch in der natio­nalen Festi­val­land­schaft eine eher unter­ge­ord­nete Rolle. Das Programm besteht zum Großteil aus Filmen, die andern­orts schon gezeigt wurden, weshalb sich die Pres­se­be­richt­erstat­tung im Vergleich zu den übrigen großen deutschen Festivals wie beispiels­weise in München oder auch Mannheim/Ludwigs­hafen eher in Grenzen hält. Ein Vergleich mit der Berlinale als eines der wich­tigsten A-Festivals erübrigt sich.
Aber das Filmfest Hamburg versteht sich ohnehin in erster Linie als Publi­kums­fes­tival, das den Hamburger und Hambur­ge­rinnen Gele­gen­heit bietet, einen Blick auf das inter­na­tio­nale Film­ge­schehen zu werfen. Die geogra­phisch und sprach­lich abge­steckten Sektionen – Tans­at­lantik (englisch­spra­chiges Kino aus den USA und Kanada), Asia Express, Voilà (fran­zö­sisch­spra­chiges Kino), Vitrina (spanisch-portu­gie­sisch spra­chiges Kino) – sowie die dies­jäh­rige Länder-Retro­spek­tive des israe­li­schen Kinos ermög­li­chen einen umfas­senden Blick auf das zeit­genös­si­sche inter­na­tio­nale Kino und seine Themen, auf die Welt und was sie bewegt.

Insbe­son­dere die europäi­sche Welt beschäf­tigt sich dieser Tage vor allem mit dem Strom Geflüch­teter, die eine neue Heimat suchen. Mit einem kurzen schwarz-weiß Clip, der jeder öffent­li­chen Film­vor­füh­rung voran­ge­stellt war, bezog das Filmfest Hamburg eine eindeu­tige Position: „Refugees Welcome“ war die allabend­lich wieder­keh­rende Botschaft. Und so ist es nicht verwun­der­lich, dass der Doku­men­tar­film Nice People über das erste Bandy-Team Somalias, zusam­men­ge­setzt aus in Schweden lebenden Geflüch­teten, mit einer beein­dru­ckenden Eindeu­tig­keit von 98,5% „Fand ich toll“-Stimmen den Publi­kums­preis des Festivals gewann. Auch wenn der Film zwei­fels­ohne von seinem Inhalt unab­hän­gige Qualitäten aufweist, ist dieses Abstim­mungs­er­gebnis doch ein eindrucks­volles Zeugnis einer gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Stimmung und Position zur Flücht­lings­the­matik.
Aber nicht nur das Publikum ist hierfür dieser Tage besonders empfäng­lich. Auch beim Gewinner der dies­jäh­rigen Film­fest­spiele von Cannes, dem Flücht­lings­drama Dämonen und Wunder – Dheepan von Jacques Audiard, drängte sich beim Hamburger Screening im Zusam­men­spiel mit dem „Refugees Welcome“-Clip und einer entspre­chenden Anmo­de­ra­tion der Verdacht auf, dass hier nicht nur eine filmische Leistung, sondern auch ein poli­ti­sches Thema ausge­zeichnet wurde. Und schließ­lich schwingt das Thema Flucht ebenso in der Begrün­dung für den Preis „Der poli­ti­sche Film der Friedrich-Ebert-Stiftung“ mit, in der es über den Gewinner Every Face Has a Name von Magnus Gertten heißt: »Dieses ist ein Film über den Holocaust, aber auch über Flucht und Neuanfang. Anfangs fast beiläufig, dann immer kraft­voller entwi­ckelt der Film schließ­lich eine Paral­lel­mon­tage. Zu sehen sind plötzlich auch Aufnahmen aus der Gegenwart, aufge­nommen in einem Hafen in Sizilien. Dort stranden Flücht­linge vor allem aus Afrika. Auch sie sind oft verletzt und trau­ma­ti­siert. Auch ihnen gibt der Regisseur ein Gesicht – und einen Namen.«
Das Thema Flucht zieht sich mal mehr, mal weniger sichtbar durch das gesamte Programm des Filmfests Hamburg 2015 und verbindet die unter­schied­lichsten Kontexte zu einem gemein­samen Weltgeist, der darum kämpft, Altes hinter sich zu lassen und Neues zu beginnen – ein Motiv, das bereits durch den Eröff­nungs­film Das brandneue Testament aufge­griffen wird. In dieser pech­schwarzen Komödie begibt sich Gottes Tochter, wie einst ihr Bruder „J.C.“, in die Welt, um ein – wie der Titel ja bereits verrät – brand­neues Testament zu schreiben und damit die Dinge zum Guten zu wenden.
Im weiblich diri­gierten Film steht Flucht und Aufbruch in ein neues Leben oft im Zusam­men­hang mit der Befreiung aus dem Patri­ar­chat. Der in Hamburg mit dem „Art Cinema Award“ ausge­zeich­nete Film Mustang der Regis­seurin Deniz Gamze Ergüven zeigt die Rebellion eines kleinen Mädchens gegen die repres­siven sexis­ti­schen Struk­turen einer tradi­tio­nellen türki­schen Gesell­schaft. Frei­heits­be­rau­bung, emotio­naler und körper­li­cher Miss­brauch bilden die Ausgangs­si­tua­tion einer weiteren Heldin. Auch in Grannys Dancing on the Table von Hanna Sköld sucht ein Mädchen den Ausweg aus einem über Gene­ra­tionen etablierten System von Miss­brauch und Unter­drü­ckung, das hier jedoch nicht sozio­kul­tu­rell, sondern psycho­lo­gisch herge­leitet wird.
Die Filme­ma­che­rinnen, so scheint es, begegnen dem Thema Flucht mit größerem Opti­mismus als ihre männ­li­chen Kollegen, die der Option auf Verän­de­rung und Neuanfang sichtbar skeptisch gegenüber stehen. Die mit Abstand eindrück­lichste, bedrü­ckendste und auch streit­wür­digste Flucht zeigt László Nemes in seinem inten­siven KZ-Drama Son of Saul, das das Kino­pu­blikum tief in die Erleb­nis­welt des titel­ge­benden Häftlings und die Vernich­tungs- und Entmensch­li­chungs­ma­schine des Lagers mitnimmt. Weit weniger scho­ckie­rend, aber ebenfalls sichtbar pessi­mis­tisch gestaltet sich Pablo Traperos Krimi­nal­drama The Clan, in dem Unschul­dige dem Strudel des Bösen erliegen und das Streben nach Gerech­tig­keit als vergeb­li­cher Kampf erscheint. Auch die Sci-Fi-Tragödie The Lobster – Hummer sind auch nur Menschen lässt ihren Helden gleich zwei mal aus einer restrik­tiven Gesell­schaft flüchten, ohne dabei das Ankommen an einem besseren Ort in Aussicht zu stellen.
Dass Pessi­mismus keine rein weibliche Perspek­tive darstellt, beweist schließ­lich die bedrü­ckende Coming of Age Geschichte Valley von Sophie Artus, die ihren drei jugend­li­chen Haupt­fi­guren keine Möglich­keit gibt, sich aus ihrem krimi­nellen wie auch gewalt­tä­tigen sozialen Milieu zu befreien. Viel­leicht ist dieser pessi­mis­ti­sche Haltung gegenüber der israe­li­schen Jugend aber auch kulturell bedingt, zeichnet doch der in der Retro­spek­tive präsen­tierte Film Six Acts aus dem Jahr 2012 ebenfalls ein hoff­nungs­loses Bild, nimmt dabei jedoch sexuelle Verrohung und Ausbeu­tung in der Ober­schicht ins Visier.
Die viel­leicht vergnüg­lichste, wenn auch nicht weniger hoff­nungs­lose Flucht vollzieht Come­di­enne Camille Cotin in Harry Me – The Royal Bitch of Buckingham. Die Mock­u­m­en­tary begleitet Cotin bei dem Versuch, durch die Ehe mit Prinz Harry ein neues und vor allem besseres Leben zu beginnen. Politisch unkorrekt, zuweilen bösartig, aber immer voller Humor sorgten die Regis­seu­rinnen Eloïse Lang und Noémie Saglio für ein erfri­schendes Gegen­ge­wicht zu den bedrü­ckenden (Ausgangs-) Szenarien erfolg­rei­cher und schei­ternder Fluchten.

Auf die Frage, was die Welt heute bewegt, hat die Film­aus­wahl des Filmfest Hamburg 2015 also eine klare Antwort. Doch es überwiegt der Pessi­mismus. Während nahezu alle Filme eine unge­rechte, unmo­ra­li­sche, unmensch­liche Welt portrai­tieren, aus der geflohen werden muss, zeigen nur sehr wenige tatsäch­lich einen Ausweg. Es bleibt zu hoffen, dass diese Hoff­nungs­lo­sig­keit keinen Ausdruck realer Hilf­lo­sig­keit, kein lähmendes Gefühl unver­meid­baren Schei­terns wider­spie­gelt. Denn ein „Refugees Welcome“-Clip reicht leider nicht, um die Welt jenseits der Leinwand tatsäch­lich zu verändern.