Son of Saul

Saul fia

H/USA/F/IL/B 2015 · 107 min. · FSK: ab 16
Regie: László Nemes
Drehbuch: ,
Kamera: Mátyás Erdély
Darsteller: Géza Röhrig, Levente Molnár, Urs Rechn, Todd Charmont, Sándor Zsotér u.a.
Diesem allen ein Bild entreißen? Nicht ohne barbarisch zu werden.

Der Lärm und die Stille, die Ordnung und das Chaos

Ein fried­li­ches Waldstück, die Sonne scheint, die Vögel singen, das Bild ist unscharf. Dann fokus­siert es sich auf die Nahauf­nahme eines Mannes in schmut­ziger Arbeits­klei­dung, mit einem roten, lieblos hinge­schmierten Zeichen auf dem Rücken. Die Aufnahme einer Hand­ka­mera, die immerzu leicht instabil, zitternd in Bewegung einem einzigen Mann auf dem Fuße folgt, während er eine Gruppe von Menschen bei ihrem Marsch durch den Wald begleitet.

Mit diesen Bildern beginnt Laszló Nemes' Film Son of Saul. Es sind program­ma­ti­sche Kame­ra­ein­stel­lungen. Bis zum Ende der 100 Film­mi­nuten wird diese fesselnde, magne­ti­sie­rende, subjek­tive Kamera diesem einen einzigen Menschen auf dem Fuß folgen, wird sie diesen Mann nicht verlassen, und selten wird sie hinter oder neben ihrer grund­sätz­li­chen Groß­auf­nahme auch den Blick auf das Ganze zulassen.
Dieses Ganze ist eine Welt, die grund­sätz­lich erschüt­tert ist; eine Welt, in der alle Ordnung sich als Schein entpuppt, weil auf ihrem Grund das blanke Chaos herrscht.

Stück für Stück, Szene für Szene erfahren wir Zuschauer mehr. Wir erfahren, dass der Mann, er ist etwa Mitte 30, Saul heißt, dass er Häftling im deutschen Vernich­tungs­lager Auschwitz ist und dort ein Mitglied jener Sonder­kom­mandos, die – aus Häft­lingen zusam­men­ge­setzt – gezwun­ge­ner­maßen der deutschen Mord­ma­schine der Shoa assis­tierten.

Wir erleben einen sehr langen Tag im Oktober 1944. Es ist der Tag vor dem Aufstand der Sonder­kom­mandos, der bekannt­lich schei­terte und mit der Ermordung von über 400 Häft­lingen endete. Um derart Histo­ri­sches oder um die mora­li­sche Einschät­zung der Sonder­kom­mandos, die Debatte über sie und über die Grenze zwischen Über­le­bens­trieb und Kolla­bo­ra­tion geht es im Film aber nur am Rand.

Vielmehr geht es dem Filme­ma­cher um eine konse­quent subjek­tive Perspek­tive. Um eine Art Einfüh­lung in die sinnliche Erfahrung des Alltags dieser Menschen – und damit geht es notge­drungen um die Ermög­li­chung des Unmög­li­chen: Die sinnliche Erfahrung der Mord­ma­schine. Es geht viel um Blicke. Saul, der von Géza Röhrig höchst intensiv mit ständig ange­spanntem, leicht zu Boden gerich­teten Blick gespielt wird, redet wenig. Aber er sieht und hört viel.

In dem der Blick der Kamera Saul bei jedem Schritt folgt, erleben wir nicht nur die schreck­li­chen Momente, in denen die Menschen in die Gaskam­mern getrieben werden, und die noch schreck­li­cheren, in denen die Sonder­kom­mandos diese Kammern öffnen, säubern und für den nächsten Massen­mord präpa­rieren mussten.

»Apell, Apell, zack, zack« – die Zuschauer erleben vor allem den perma­nenten Stress, unter den die Menschen dort gesetzt waren, die Hektik mit der alles vonstatten ging. Darum ist hier noch wichtiger als jedes Bild: die Tonspur. Hölli­scher Lärm herrschte in der Mord­ma­schine – dies, nicht der genaue Blick bis an den Rand der Gaskammer, ist der eigent­liche Bruch, den Nemes' Film im Verhältnis zu nahezu allen bishe­rigen Darstel­lungen der Shoa bedeutet. Denn in denen domi­nierte eine geradezu heilige, andachts­volle Stille. Das Grauen war leise.

Technisch ist das glänzend gemacht. Ästhe­tisch ist diese Perspek­tive zumindest als Bruch mit den Konven­tionen spannend. Histo­risch ist die Perspek­tive zumindest in gewissem Maß schlüssig – als Annähe­rung an eine bisher nicht gezeigte Teil-Realität. Der Film zeigt Büro­kratie, zeigt Drumherum, die Ordnung und das Chaos. Er zeigt aber die Deutschen zumeist als Wahn­sin­nige oder typische Film­bö­se­wichter. Eine frag­wür­dige, weil verharm­lo­sende Darstel­lung. Und ob das alles wirklich so stimmig ist? Ob das auch Über­le­bende so schildern? Die Hektik. Der ständige Lärm. Immer Deutsche, die fort­wäh­rend »Juden­schwein« brüllen?
Ich habe da so meine Zweifel.

Die Bilder aus Auschwitz waren nicht still und andachts­voll und ruhig, weil hier protes­tan­ti­sche Einkehr herrschte, sondern weil es ein Bilder­verbot gibt. Das muss man verstehen. Claude Lanzmann hat gesagt, hätte er im Zuge seiner Recher­chen heimliche Film­auf­nahmen aus den Lagern gefunden, hätte er diese zerstört. Aus gutem Grund. Bilder­verbot bedeutet die Leere, die Auschwitz ist, den Riss durch unser Bewusst­sein.
Nemes zeigt. Er zeigt Fülle, er zeigt vor allem Lärm übelster Hollywood-Schmon­zetten-Machart: Action­film-Lärm wie aus The Revenant: Röcheln, Schreie, Nazi-Befehle, Stöhnen, Angst. Getöse, ein Kunstwerk von Tonspur, an dem mona­te­lang gefeilt wurde. Ein Lärm-Gedicht aus Auschwitz. Obszöne Barbarei.

Warum Son of Saul unglaub­lich proble­ma­tisch ist, hat gleich mehrere Gründe: Zum einen, dass die ständige Nahauf­nahme auf Dauer auch manie­riert wirkt, die Wackel­ka­mera ermüdend, die Unschärfen und die effekt­volle Licht­set­zung allzu hübsch für diesen Ort des Todes. Es bleibt das – unlösbare – Dilemma, dass auch eine der klas­si­schen Ästhe­ti­sie­rung des Völker­mordes entge­gen­ge­setzte Form nur eine andere Ästhe­ti­sie­rung eines Ereig­nisses ist, dem mit Bildern kaum beizu­kommen ist.
Unein­ge­standen geht es natürlich auch um Befrie­di­gung von Voyeu­rismus: Man möchte schon mal ganz drin sein, oder zumindest rein­gu­cken dürfen in die Gaskam­mern. Und dann doch wegschauen? – Zu spät. Wenn man so weit drin war, dass man ein paar Leichen sehen kann, dann war man einen Schritt zu weit, zu eitel, zu gedan­kenlos, dann kann auch das Weggucken obszön werden.

Zudem bürdet der Film seiner Haupt­figur auch große persön­liche Konflikte auf. Er zeigt, wie Saul verzwei­felt versucht, einem einzelnen toten Jungen, der die Gaskammer zunächst überlebte (und den er für seinen Sohn »hält«, oder so tut, als ob), ein jüdisches Begräbnis zu ermög­li­chen. Dadurch gefährdet Saul viele Mithäft­linge und den geplanten Aufstand. Hier wird Son of Saul fast zur Kolpor­tage. In jedem Fall ist Sauls, vom Film durch die ständige enge Nähe zur Haupt­figur, nie in Frage gestellte Entschei­dung, ein Toter sei im Lager wichtiger als viele Lebende, und jede Über­le­bens­hoff­nung sei an diesem Ort sowieso zum Scheitern verur­teilt, histo­risch wie moralisch frag­würdig.
Nemes präfe­riert das exis­tenz­phi­lo­so­phi­sche Klischee des »Wir sind schon tot« gegen die Chance aufs Überleben und gegen irgend­eine Geste für die Lebenden.

Masche und Ästhe­ti­sie­rung-im-Quadrat ist die narrative Konstruk­tion: Thriller, Tempo, Spannung, ein Held und viele Feinde, gegen die Uhr und tausend Gefahren, alles Hollywood wie das 4:3-Bild­format, alles sehr konven­tio­nell im Grunde, nur halt in Auschwitz.

Geschmacklos ist nicht weniger der religiöse Unsinn, der dahinter steckt: Sau will unbedingt einen Rabbi finden, und den Jungen unbedingt korrekt beerdigen. Warum will uns der Film weis­ma­chen, das so etwas überhaupt wichtig ist. Und dass es in dieser Situation wichtig ist? Muss man Religion überhaupt achten und respek­tieren? Das ist schon mal die Grund­satz­frage. Son of Saul ist Reli­gi­ons­kitsch und vor dem Hinter­grund der Lager­si­tua­tion auch noch ein typischer Fall von Holo­kitsch und Shoa-Business: Geld­ma­chen mit dem Genozid.

Schließ­lich ist auch eine poli­ti­sche Frage zu beachten: Wo steht dieser Film im Verhältnis zu der Gesell­schaft, aus der er kommt? Das Ungarn des Viktor Orbán ist ein Land, das zunehmend demo­kra­ti­sche Spiel­re­geln aufgibt. Das Presse- und Meinungs­frei­heit suspen­diert. Das Künstlern, insbe­son­dere Filme­ma­chern die Produk­tion von Filmen erschwert. Und es ist ein Land, in dem die rechts­ex­tre­mis­ti­sche Jobbik-Partei bei den letzten Wahlen zweit­s­tärkste Kraft wurde. In einem Land, das seine eigene faschis­ti­sche Vergan­gen­heit, die Herr­schaft der mörde­ri­schen »Pfeil­kreuzer« und ihre Kolla­bo­ra­tion mit den Nazis bisher nicht aufge­ar­beitet hat. Das sich gern nur als Opfer der Geschichte sieht. Jetzt ist dieses Ungarn Vorreiter einer rechts­po­pu­lis­ti­schen Politik, die sich abschotten will, und auch politisch Verfolgten und Kriegs-Flücht­lingen keine Hilfe zugesteht.
Ausge­rechnet dieses Regime verein­nahmt nun den unga­ri­schen Oscar-Gewinn.

Son of Saul wendet sich, wie Hannes Stein in mehreren Texten nicht müde wird zu betonen, besonders gegen Schind­lers Liste von Steven Spielberg. Doch das zu tun, ist eben falsch. Denn Spielberg miss­ver­stehen all jene, die glauben, dieser habe ein Holly­wood­drama mit Happy End, glück­li­chem Ausgang und erhe­bender Botschaft gemacht. Wer Spiel­bergs Film gesehen hat, könnte begreifen: Auch in Auschwitz ging es darum, was es heißt ein Mensch zu sein. Mensch sein heißt nicht, wie für den Nazi-Philo­so­phen Heidegger »Sein zum Tode«, sondern es heißt: Jedes Leben, das gerettet wird, zählt. Ange­sichts der vielen Toten womöglich sogar doppelt.
Das ist kein glück­li­cher Ausgang. Aber es bedeutet Trost.

So bleibt aus vielen Gründen ein unan­ge­nehmer Nach­ge­schmack: Denn Son of Saul ist zu clever und glatt in seiner tech­ni­schen Perfek­tion – und ein allzu geschickter Tanz mit den Tabus. »Kein Genozid ohne Poesie« formu­lierte einst sarkas­tisch der slowe­ni­sche Philosoph Slavoj Zizek. Er deckt damit das Dilemma jedes Spiel­films auf: Es wäre schön, wenn man die Kunst von ihrem Gegen­stand und ihrem Kontext trennen könnte. Aber das ist unmöglich.

Es stimmt schon: »Diesem allen ein Bild entreißen? Trotz allem? Ja.« (Georges Didi-Huberman). Aber nicht um jeden Preis. Nicht für uns, die Nach­ge­bo­renen. Dass die Über­le­benden und die Ermor­deten aus verschie­denen Gründen dem Unvor­stell­baren um jeden Preis eine Form zu geben trach­teten, ist kein Grund, es ihnen heute nachzutun. Im Gegenteil: Von Georges Didi-Huberman hätte Nemes lernen können (wie manche, die Didi-Huberman jetzt zitieren, vgl. FD 5/2016), dass ein Riss die Menschen in Auschwitz von denen trennt, die außen vor blieben. Genau das meint die Rede von Zivi­li­sa­ti­ons­bruch. Es geht nicht darum, dass man »nach Auschwitz« keine Gedichte schreiben dürfe, sondern dass man es nicht kann. Nicht ohne barba­risch zu werden.