magazin
1 0 8   1 3 1 0 1 9 9 9




reihe netz.kunst

internet-performance
als netzkunst

aktuell
lust am untergang
zum start der "titanic"-ausstellung

reihe
schon gesehen?
die schack-galerie

  |   besprechungen   |   foto special   |   tips   |   termine   |   archiv
   
editorial

Nicht versäumen sollte jeder, der sich nur ein bißchen für Medienkunst interessiert, in den nächsten Wochen mal im neuen SiemensForum (Oskar-von-Miller-Ring 20) vorbeizuschauen. Im Eingangsbereich der Rotunde sowie im ersten Obergeschoß (für jederman zu Geschäftszeiten sowie sonntags von 9:00-17:00 Uhr zugänglich) hat der amerikanische Medienkünstler George Legrady drei interaktive Werke installiert. Diese sind nicht nur sehr wirkungsvoll der architektonischen Situation angepaßt (Richard Meier, Architekt des Getty Centers in LA.), sondern sowohl formalästhetisch als auch in ihrer Interaktivität äußerst spannend.

Ach ja, es lohnt sich übrigens auch, den Aufgang der Rotunde zur sehr schön gemachten Dauerausstellung des SiemensForums hinaufzuschreiten. Dort angekommen, kann jeder sich darüber informieren, welche Entwicklungen der Elektrotechnik eine Kunst wie die Legradys erst möglich machen (tgl. außer Sa. 9:00-17:00 Uhr geöffnet, Führungen So. 11:00 Uhr).

eure redaktion

   

lust am untergang

Zum Start der "Titanic"-Ausstellung in der Alten Messe ab 15. Oktober

Mag es die Magie der bloßen Zahl oder der menschliche Hang zum Resümieren sein: Am Ende von Jahrhunderten erschallen die Kassandrarufe meist lauter als zu anderen Zeiten. Apokalyptiker und Dekadenzpropheten erheben mit Vorliebe an der Wende zu einem neuen Jahrhundert ihre verdüsterten Häupter, um vor dem drohenden Ruin der Gesellschaft, dem kulturellen Zerfall oder - auch nicht ganz neu - der ökologischen Katastrophe zu warnen.

Passend zur bevorstehenden Jahrtausendwende sticht in München jetzt die "Titanic" wieder in See. Denn die vergangenen Jahre haben keine schönere Untergangsgeschichte parat, als diese: Das größte Schiff aller Zeiten, unsinkbares Symbol des unaufhaltsamen Fortschritts der Zivilisation rammt einen Eisberg und geht unter. Die Natur hat die Kultur besiegt, die menschliche Hybris sich in ihren eigenen Fängen verheddert.

Freilich ist die "Titanic" nicht so eindeutig ein technisches Produkt, wie es auf den ersten Blick aussieht. Sie ist auch Natur, genauer gesagt: Zur (zweiten) Natur gewordene Technik. Im Kampf der Passagiere um ihr Überleben entfaltet das Schiff eine Eigendynamik und unkontrollierte Urgewalt. Die versperrten Türen, die labyrinthischen Gänge, umstürzende Wände und Schornsteine, der Sog des untergehenden Schiffes - hier ist Technik zuerst ein Dschungel, dann mörderisches Raubtier.

   

Mythos Titanic

Die Pop-Kultur ist eine Maschine zur Produktion von Mythen. 85 Jahre nach dem Untergang beseelt der Mythos des versunkenen Giganten mehr denn je die weltweite Gemeinde der "Titanic"-Enthusiasten - auch in der E- und U-Kultur. Romanciers wie der Norweger Erik Fosness Hansen ("Choral am Ende der Reise") oder die Engländerin Beryl Bainbridge ("Nachtlicht") haben teils fiktive, teils reale Nacherzählungen jener Reise vorgelegt, die mit ihrem Nebeneinander von Luxus und Auswandererelend so trefflich für das Ende der Belle Epoque stand. Im Heyne Verlag gibt es zwei umfangreiche, hochinteressante Bildbände, die jedes Detail aus der Geschichte des Schiffes dokumentieren, sowie ein Kochbuch mit Rezepten aus der Kombüse der "Titanic". "Gebratenes Täubchen auf Brunnenkresse" servierte man laut Speisenplan der Ersten Klasse am Abend vor dem Untergang als Teil eines Elf-Gänge-Menüs.
Die durch solcherlei erfurchtsvoll archivarische Herangehensweise geschaffenen modernen Mythen bilden einen neuen Olymp, dessen Gestalten, Geschehnisse und Orte unverlierbarer Teil unser aller Biographien werden. Auf diesem Olymp herrscht allerdings ein ziemliches Durcheinander, und - unseren demokratischen Zeitalter durchaus angemessen- im Gegensatz zum klassischen Götterhimmel keine Hierarchie. Und deswegen ist auch nicht ganz klar, welchen Platz genau die "Titanic" und ihr Untergang einnehmen.

Daß ihr Schiff in einer sternenklaren Nacht zunächst sinken, dann aus dem zwei Grad kalten Wasser als Mythos wieder lebendig werden und Anlass zu immer neuen Berichten und Geschichten geben sollte, haben sich die Schiffsbauer gewiss nicht träumen lassen, die die "Titanic" im Mai 1911 vom Stapel ließen. Ein Ende ist nicht abzusehen. Warum aber bewegt die Schiffskatastrophe bis heute die Gemüter?
Die "Titanic" sollte ein Sinnbild des Fortschritts sein. Sie wurde es auch in ihren Untergang, freilich in ganz anderer, ungeahnter Art. Erst damit wurde das Schiff auch zum Kulminationspunkt der menschlichen Existenz: Vernunft und Verzweiflung, Stolz und Starrsinn, Todesmut und Todesangst, Heldentum und Hoffnungslosigkeit.
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich das Schiff als Symbol einer Gesellschaft, in der die Reichen oben und die Armen unten leben, die zwischen Hybris und Elend schwankt. In der Stunde des Untergangs können alle Schichten zumindest noch einmal nach ihren größten Tugenden und ihren niedersten Instinkten handeln. Fast jeder fragt sich auch heute: was hätte ich getan, wie hätte ich mich verhalten in jener sternklaren Schicksalsnacht, als die Wellen des Nordatlantik das Vorderdeck überspülten und die acht Herren des White-Star-Orchesters die Instrumente für ihr letztes Konzert stimmten?
Hätte man sich heldenhaft betragen -"Frauen und Kinder zuerst"- oder verzweifelt -"Jeder für sich und Gott gegen alle"- um jeden, auch moralischen Preis versucht, sein Leben zu retten. Nicht nur in den zahllosen Legenden, auch in der Wirklichkeit gab es Helden und Schurken. Und so wurde die finale Katastrophe des aristokratischen Jahrhunderts auch zur Stunde der Verschmelzung der Klassen und zur Geburt des tatsächlich demokratischen Zeitalters. Vor dem Eisberg des Todes waren alle gleich.

James Camerons Filmepos inszeniert diesen Mythos aufs Beste. Sein Film ist eine halbe Stunde länger, als die 2 Stunden und 40 Minuten, die der Untergang dauerte. Auch sonst ist es ein megalomanisches Werk: Camerons Titanic ist nur 10 Prozent kleiner als das Original, einige Aufnahmen stammen sogar aus dem Originalwrack, das seit über 80 Jahren auf dem Meeresgrund liegt. Die Tapeten der Studiowände wurden vom Originalhersteller gefertigt, und auch sonst stimmt nahezu jedes Detail. Ob man nun wirklich auch noch echtes Meerwasser verwenden mußte? Doch alles sollte echt sein (und natürlich war es wieder einmal der teuerste Film aller Zeiten; obwohl das nur zutrifft, wenn man nicht die Dollarkursveränderungen nicht berücksichtigt. Ansonsten nämlich hätten einige frühere Filme, angefangen mit David Wark Griffith bis hin zu "Cleopatra" noch mehr Geld gekostet). In all dem zeigt sich eine Fetischisierung des Authentischen und des Originalen, die nur konsequent ist, wenn man bedenkt, daß die "Titanic" ja selbst ein einziger riesengroßer Fetisch ist, ein goldenes Kalb, mit dem die Gesellschaft ihre eigenen katastrophalen Potentiale zugleich vergöttert und bannt. Nichts kommt der Magie dieses Objekts gleich.

Der Mythos der Untergangs der Titanic ist ein Schlüsselmoment dieses Jahrhunderts, das in seiner Skepsis, seiner Abgeklärtheit und Rationalität in dieser primären Katastrophe auch so etwas wie eine ultimative Warnung erlebt hat. Der skeptisch-optimistische Realismus unseres Zeitalters wurzelt im Ende des plumpen Optimismus des imperialen und zugleich revolutionären Jahrhunderts, in dem der schlichte Fortschrittglaube immer eine geheime Todessehnsucht, einen Trieb nach Abschied von der eigenen Gegenwart zu bergen schien. Mit der Titanic ging das 19.Jahrhundert unter, nicht die Moderne.

Rüdiger Suchsland



email
impressum



kunst in münchen
suche

berichte, kommentare,
archiv

meinungen,
thesen, aktionen

kulturinformation
im internet