16.08.2018
Cinema Moralia – Folge 180

Der Rekon­struk­teur

Panzerkreuzer Potemkin
Eine von Patalas großartigen Rekonstruktionen – Panzerkreuzer Potemkin
(Foto: Sereij Eisenstein)

Das Prinzip Patalas – Erinnerungen an den großen ehemaligen Leiter des Münchner Filmmuseums – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 180. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Nicht, daß Kunst verboten wird, nimmt ihr ihre Wirkung, sondern daß man sie zu gut verwaltet.«
Frieda Grafe/ Enno Patalas, 1966

»Das Publikum muss stets unrecht erhalten, sich aber doch durch den Kritiker vertreten fühlen.«
Enno Patalas in der Zeit­schrift »Film­kritik«

Ich habe ihn wahr­schein­lich vorher schon mal gesehen, aber wahr­ge­nommen erst Anfang der 90er. Da begann ich, später als andere, regel­mäßiger Gast im Münchner Film­mu­seum zu werden. Da war er, auch wenn er an der Seite stand, unüber­sehbar Herr des Hauses. Kein Freund der Diskus­sion, des Fragens, eher schon des mono­lo­gi­schen Erzählens und Einfüh­rens vor dem Film und manchmal bellte er auch kurze Antworten, in denen ich ein bisschen Verach­tung heraus­zu­hören glaubte für den, der fragt. Aber solche Sicher­heit, Gewiss­heit, ja Arroganz war einer Außenwelt mühsam abge­trotzt, die er schon früh als feind­selig begriffen haben muss, der er, mehr Fan als groß­zü­giger Gastgeber, es verstand, vieles abzu­trotzen.
Vor allem an einen Abend mit Enno Patalas erinnere ich mich: Anfang 1994, in seinem letzten Jahr als Direktor des Münchner Film­mu­seums, sollte dort die Vorpre­miere des Doku­men­tar­films Beruf Neonazi gezeigt werden, über einen Aussteiger der rechts­extremen Szene. Das war ein Aufreger der Saison. Keiner kannte den Film, und die Stadt München unter OB Christian Ude sorgte auch dafür, dass das so blieb – und verbot die Vorfüh­rung.
Weil man am besten über Sachen streiten kann, die man nur vom Hören­sagen kennt, kamen trotzdem ein paar hundert Demons­tranten aus der linken Szene, um den Film zu verhin­dern, und weil die kamen, kam auch die Polizei mit zwei Mann pro Demons­trant, um den Ruf der Stadt München zu wahren. Es war also richtig voll im Film­mu­seum, es wurde laut durch­ein­ander geredet, und mitten drin stand Enno Patalas, dessen Haare dann plötzlich wie eine Löwen­mähne wirkten, disku­tierte ruhig, klar, kompro­misslos, erklärte, warum er den Film hätte zeigen wollen, erklärte den linken Protest­lern, was Kunst­frei­heit bedeutet, und hatte ein seltsames Lächeln auf den Lippen. Er schien die Situation zu genießen.
Das war die positive Seite jener Sturheit, mit der Patalas alle, die mit ihm zu tun hatten, ziemlich oft richtig genervt hat.

+ + +

Er war ein Purist, und das ist bis vor wenigen Jahren das Fremdeste, Sper­rigste gewesen, was man sich vorstellen kann. Allmäh­lich kommt mit dem Puri­ta­nismus auch sein verwandter gegen­tei­liger Cousin, der Purismus wieder in Mode.

Getränke durften unter Patalas natürlich nie mit in den Kinosaal genommen werden. Das ist bis heute so geblieben. Den Genuss, das Jahr­markt­hafte, das woanders zum Kino gehört, schien Patalas nicht zu mögen. Laut gelacht immerhin hat er, wenn er selbst im Kino saß. Dieser Kinosaal war pech­schwarz, genauso wie heute, ein Erbe des Kinosaals im Film­mu­seum in Wien, dem »unsicht­baren Kino« Peter Kubelkas. Ein komplett in Schwarz ausge­schla­gener Saal ist praktisch sinnvoll: Jede Reflek­tion von Licht und Ton wird voll­kommen abgedämmt. Die Sitze sind gut, und auch für große Menschen gibt es genug Bein­frei­heit. Er war aber natürlich auch ein Statement, für die totale Reduktion auf die Funktion, und so ist es geblieben. Er ist darum auch nach seinem Weggang immer wieder ins Film­mu­seum zurück­ge­kommen.

Ich habe mich immer gefragt, ob Enno Patalas nun ein besonders groß­zü­giger Mensch war oder doch das Gegenteil davon. Ob er unhöflich war, oder seine Art nur eine anti­bour­geoise Attitude eines bürger­lich sozia­li­sierten Prä-68ers war, der an der Gesell­schaft stell­ver­tre­tend seine Vater­kon­flikte abar­beitet. Lag ja alles in der Zeit. Ich weiß die Antwort nicht. Einfach war Patalas jeden­falls nicht, das merkte man auch schon als distan­zierter Zuschauer aus einer ganz anderen Gene­ra­tion.
Für Groß­zü­gig­keit spricht aber zumindest seine Schreib-Part­ner­schaft mit Frieda Grafe. Oft standen über deren Texten beide Namen.

+ + +

Alte Texte von Patalas zu lesen, war kein Vergnügen, es war im Gegenteil für einen, der in den 90ern, in Patalas' Endphase beim Film­mu­seum, überhaupt erst begann, in alten Film­kri­tiken zu stöbern, der einen eigenen Stil entwi­ckeln wollte, über Film zu schreiben und für den Jargon der 68er zu spät dran war, für so einen war es genau das, was man (erstmal) nicht wollte. Aber der gleiche Mann zeigte tolle Filme: Die Nibe­lungen mit groß­ar­tigen, erkennt­nis­öff­nenden Texten dazu. Menschen am Sonntag begleitet von Aljoscha Zimmer­mann, den aus Russland emigrierten Musiker, den er als Stumm­film­pia­nisten ans Film­mu­seum geholt hatte.
Als Kritiker war Patalas schon immer sehr umstritten. In der legen­dären, heute aber auch etwas zu sehr verklärten Zeit­schrift »Film­kritik« machte er sich einen Sport daraus, die größten Regis­seure und tollsten Filme zu versenken, mit hämischen Worten und der Härte eine Fallbeils. In die »Geschichte des Films« (die Patalas gemeinsam mit Ulrich Gregor schrieb) wurde zum Beispiel Howard Hawks nicht aufge­nommen. Ande­rer­seits hatte er schon früh eine wohl­wol­lende »Sozi­al­ge­schichte der Stars« geschrieben. Und später dann zeigte er im Film­mu­seum einfach alle Filme von Hawks.
Dieses Prinzip des »alles Zeigen«, das Gegenteil vom Kura­tieren, das meine Gene­ra­tion (auch ich manchmal) heute auf jeden Bereich des Lebens zu über­tragen versucht, war das Patalas-Prinzip – und es ist das einzig richtige für ein Film­mu­seum: Nichts vorkauen; nicht voraus­wählen; dem Zuschauer vertrauen.

+ + +

Sein Schreiben blieb mir fremd. Es hat manchmal etwas gehabt, das ich damals als stali­nis­tisch empfunden habe: Diese Häme, dieser schnei­dige Ton des Polit-Kommis­sars, dem man leider den Offi­ziers­sohn anmerkte, der Patalas eben auch war. Diese uner­träg­liche Gewiss­heit. Gewiss­heit, auf der richtigen Seite zu stehen. Gewiss­heit, was ein Film muss und sollte. Zum Beispiel hier: »Komik dieser Art verleitet den, den sie erreicht, nicht dazu, die Welt, die ihn umgibt, infrage zu stellen ... hier brechen keine Wider­sprüche auf, hier geht die Wirk­lich­keit nicht in die Binsen. Vielmehr wird eine milde, allen­falls ironisch getönte Heiter­keit hervor­ge­rufen.« – So über den fran­zö­si­schen Komiker Pierre Étaix. Auch die Unfähig­keit oder der Unwillen, hier das Subver­sive an der Ironie zu erkennen. So schrieb man mal, wenn man ein bedeu­tender Kritiker war. Da hat Gunter Groll, der von Patalas verab­scheute Feuil­le­to­nist, ihm so unendlich viel Verstand voraus.

Später dann aber wurde es anders, und über das Kino Lubitschs, der natürlich auch der ungleich bessere und inter­es­san­tere Filme­ma­cher ist, schreibt er dann in seinem passen­der­weise »Lektion in Kino« beti­telten Text groß­zü­giger, und fast ein bisschen gönner­haft: »Das ist kein Kino der Revolte. Aber es treibt die Formen des Beste­henden, ihre Eigen­be­we­gung nutzend, ein Stückchen weiter ihrer selbst­tä­tigen Zers­törung entgegen.« Na, da hatte Lubitsch ja nochmal Glück gehabt; auch wenn wir über die Behaup­tung, dass sein Kino nicht revol­tiert, gerne mit Patalas disku­tiert hätten.

+ + +

Adorno mit seiner dialek­ti­schen Ironie, und Benjamin hatten geholfen, die Nouvelle Vague auch, vor allem aber seine Frau Frieda Grafe, mit der er seit 1962 verhei­ratet war, dass Patalas sich irgend­wann Ende der 60er öffnete, fast neu erfand, und plötzlich das Ästhe­ti­sche, das Unein­deu­tige gegen alles als Part­ei­nahme verstan­dene Poli­ti­sche vertei­digte.
Mit dem Kritiken schreiben hörte er dann aber auch bald auf – wobei ihm Wolf-Eckart Bühler, dem vor wenigen Tagen erst das Film­fes­tival in Locarno eine kleine Hommage widmete, entschei­dend geholfen hat, indem er Patalas 1970 als Chef-Redakteur der »Film­kritik« stürzte – und wurde Film­his­to­riker, oder Film­lehrer oder cine­philer Fan, jeden­falls einer, der einfach Filme zeigte.

+ + +

Und zwar nach dem Patalas-Prinzip: Alles, nach dem Auto­ren­prinzip von einem Regisseur, oder nach dem Genre­prinzip alle Facetten der Film­ge­schichte (ob er aber Splatter zeigte, weiß ich nicht mehr, oder Horror?) und immer im Original, immer auf Film. Man lernte von ihm: Nur wer alles sieht, und nicht vorschnell urteilt, sondern sich die Neugier, die Kino­freund­schaft bewahrt, kommt irgend­wann zu einem Urteil.
Aber um sehen zu können, muss man die Filme haben, in anstän­digen Kopien, also gut erhalten. Und so fand Enno Patalas, seit 1973 Leiter des Münchner Film­mu­seums, seine wahre Bestim­mung und wurde der wich­tigste deutsche Film­his­to­riker. Groß­ar­tige Rekon­struk­tionen (nicht: Restau­rie­rungen) deutscher Klassiker entstanden: Nosferatu, Die Nibe­lungen, Metro­polis, aber auch Panzer­kreuzer Potemkin – das Film­mu­seum München wurde durch ihn welt­berühmt.
Auch hier war er wieder mit dem robusten Selbst­be­wusst­sein seiner frühen Kritiken am Werk: Selbst­herr­lich und stur dealte Patalas mit den ihm anver­trauten Kopien, tauschte mit Sowjet­ar­chiven, gab viele den Absendern nie zurück.
Das ist kein Vorwurf: So machte man es halt, auch das lehrte er, und Patalas hat vermut­lich das Beste draus gemacht. Nicht für sich, sondern für die Insti­tu­tion, und vor allem für das Kino. An seinen hehren Ansichten kann genauso wenig Zweifel bestehen, wie an der erwähnten Selbst­herr­lich­keit – verschweigen sollte man die aber eben auch nicht.
Wer will, kann ja mal die Veteranen von der Murnau-Stiftung dazu befragen, dem tatsäch­li­chen Rechte­inhaber all der Filme, für deren Rekon­struk­tion Patalas auch das Urhe­ber­recht bean­spruchte – und bis heute gibt es lang­jäh­rige juris­ti­sche Händel zwischen diesen zwei öffent­lich geför­derten Insti­tu­tionen, die doch Hand in Hand arbeiten sollten.

+ + +

Es gibt einen herr­li­chen Text von Patalas, aus der FAZ vom 06.01.2005. »Die heilige Madonna der Schlaf­wagen« über Eisner, Kracauer und das Kino von Weimar.
Auch hier scheint nochmal kurz die alte Scharf­richter-Attitude auf in den Urteilen über G.W. Pabst: »Pabst, der nach fünf Exil­jahren nach Deutsch­land zurück­ge­kehrt war und sich Goebbels für drei Histo­ri­en­schinken über 'große Deutsche' zur Verfügung gestellt hatte...«
Dann aber erzählt er eine Anekdote, die alles verrät über den früheren Umgang mit Kopien und die Haltung der Archivare den Filmen gegenüber: Nitro­ko­pien im Gepäck mitzu­führen war wegen Explo­si­ons­ge­fahr streng verboten, weshalb Eisner diese im Nachtzug unterm Bett trans­por­tierte – der Zoll traute sich damals noch nicht, unter der Bettdecke einer Dame nach­zu­gu­cken. Natürlich brachte Eisner nie ganze Filme mit, sondern oft einzelne Rollen von verschie­denen.
An Eisners »Die dämo­ni­sche Leinwand« und deren Murnau-Buch lobt er, sie hätten »weniger zur Wissen­schaft von der Film­ge­schichte beigetragen als zu ihrer konkreten Erschließung.« Da beschreibt Patalas vor allem seine eigene Position: »Ohne Eisners detail­ver­ses­sene Beschwörung des Weimar-Kinos wäre es nicht zu dessen Rekon­struk­tion seit den siebziger Jahren gekommen.«

+ + +

Später erst, im Rückblick, habe ich auch seine Texte mehr schätzen gelernt. Etwa seine Total­ab­rech­nung mit der SZ-Film­kritik aus dem Jahr 2005: Die einge­bet­tete Film­kritik. Sie mündet in die auch 13 Jahre später aktuelle Auffor­de­rung: »No more bullshit please!«
Der Mann hatte Prin­zi­pi­en­treue.

(to be continued)