21.02.2018
68. Berlinale 2018

Die Berlinale ist eine gefähr­dete Marke

Berlinale Zukunft
(Foto: reuters)

Die Berlinale kann gar nicht besser sein. Oder doch? Sechs Thesen zur Berlinale – Berlinale-Tagebuch, Folge 5

Von Rüdiger Suchsland

»Am Schluß hat er doch wieder alles richtig gemacht. Obwohl im dritten Jahr unter dem Festi­val­chef Dieter Kosslick der Elan etwas zu erlahmen schien, der Wett­be­werb insgesamt an Höhe­punkten arm und an Enttäu­schungen reich war und nur noch zwei deutsche Filme zu sehen waren, von denen einer auch noch gnadenlos durchfiel, sind mit dem über­ra­schenden Sieg von Fatih Akins GEGEN DIE WAND letztlich alle wieder versöhnt.«
Michael Althen, FAZ 16. Februar 2004

»Die Berlinale besitzt gegen­wärtig nicht einmal die Spur einer künst­le­ri­schen Vision. Der Wett­be­werb, am Samstag mit der Preis­ver­lei­hung zu Ende gegangen, war der schlech­teste seit Menschen­ge­denken. Mit der Situation des Weltkinos lässt sich dies kaum erklären, immerhin war die Auswahl früher als sonst abge­schlossen und mit Stolz präsen­tiert worden.«
Daniel Kothen­schulte, Frank­furter Rundschau, 16. Februar 2004

»Irgend­wann müssen Flit­ter­wo­chen enden. Bei der Verbin­dung Dieter Kosslick/Berlinale haben sie immerhin drei Jahre gedauert. Es waren drei Fest­spiel­jahr­gänge, in denen eine Kombi­na­tion aus dem Show-Talent des Leiters, seinen Neue­rungen sowie glück­li­chen Händchen bei der Film­aus­wahl einen Zustand perma­nenter guter Laune erzeugten. Doch im Jahr Kosslick IV umwehte die Berlinale Eises­kälte, im wört­li­chen Sinn mit dichtem Schnee­treiben und im über­tra­genen durch das doppelte Mißver­gnügen von Cineasten und Glamou­risten. Es waren nicht genug da – weder gute Filme noch Stars der A-Klasse. ... So schleppten sich diese 55. Film­fest­spiele dahin, ohne den nötigen Funken an Empörung oder Begeis­te­rung.«
Hanns-Georg Rodek, Welt, 19. Februar 2005

»Ein Festi­val­leiter, der sein sozi­al­de­mo­kra­ti­sches Herz gern mal nach außen stülpt und sich in den letzten Jahren durch die offensive Poli­ti­sie­rung seines Wett­be­werbs profi­lierte, verwech­selt Enga­ge­ment mit Event-Rhetorik, wenn er ein solches Machwerk zum Auftakt eines ›Afrika-Schwer­punkts*g erklärt. Ohnehin verlor sich dieser poli­ti­sche Anspruch bei Filmen, die ihre Themen – vom Völker­mord in Ruanda bis zur unter­drückten Frau im England der Fünfziger – zwischen kläg­li­cher Form­lo­sig­keit und purer Konven­tion verrieten. Im Profi­lie­rungs­duell der großen Festivals hat die Berlinale nur eine Chance, wenn sie ganz offensiv auf die Filme setzt. Wenn sie sich vom para­si­tären Event­jour­na­lismus, von kindisch am Image des Festivals vorbei zielenden Spon­so­ren­for­de­rungen, aber auch von den schein­hei­ligen Star­dis­kus­sionen der so genannten seriösen Presse eman­zi­piert. Es mag sich paradox anhören, aber nur wenn das Festival souverän auf seiner filmäs­the­ti­schen Kompetenz beharrt, kann es auch im Glamour­ge­wese selbst­be­wusst mitmi­schen, ohne sich erpressbar zu machen.‹«
Katja Nicodemus, ZEIT 24.2.2005

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Manchmal genügt es, in alten Texten zu Blättern, und sie einfach noch einmal hervor­zu­holen. Daher, leider aus sehr aktuellem Anlass, ein Text von mir aus dem Jahr 2012, aus Anlaß eines Berliner Sympo­siums zum Zustand der Berlinale.
Er ist unver­än­dert, es gibt keinen Grund, auch nur ein Wort zu ändern.

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Ein Film­fes­tival wie die Berlinale ist vieles und muss vieles sein. Sie ist ein Markt­platz, ein Schau­fenster des Weltkinos, sie ist eine spezielle Bühne des europäi­schen und des deutschen Films. Sie ist heute selbst Film-Kopro­du­zent, Film­aka­demie, Film­mu­seum. Sie ist ein Aufmerk­sam­keits­ver­s­tärker, eine Fachmesse, ein Publi­kum­se­vent, nach eigenem Selbst­ver­s­tändnis ein beson­derer Ort für den poli­ti­schen Film.
Wie wichtig ist in diesem Geflecht von Funk­tionen das, was die Berlinale früher vor allem war und – viel­leicht sogar nach eigenem Vers­tändnis – auch immer sein soll: Ein Ort für Entde­ckungen neuer Trends und Tendenzen, unbe­kannter Regis­seure und über­se­hener oder unter­re­prä­sen­tierter Film­re­gionen und Kine­ma­to­gra­fien?
Ist, anders gefragt, die Berlinale so gut, wie sie sein kann? Stimmen Selbst­dar­stel­lung und Wirk­lich­keit der Berlinale überein? Das sind die Leit­fragen.

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1. Die cine­philen Erwar­tungen an das Festival werden regel­mäßig enttäuscht.

Wer von der Berlinale erwartet, einen von ästhe­ti­schen Maßstäben geprägten Quer­schnitt durch das Weltkino zu bieten und so einen Blick auf die Zukunft des Kinos zu ermög­li­chen, kann mit dem Programm nicht glücklich werden. Die Versäum­nisse des Festivals in dieser Hinsicht kris­tal­li­sieren sich im Wett­be­werb, dem erklärten Aushän­ge­schild des Festivals, setzen sich in den anderen Sektionen und neu einge­führten Reihen aber ebenso fort. Auch über das Panorama und das Forum muss gespro­chen werden, Reihen, die viele Kriti­ker­kol­legen gerne aufsuchen, die aber jeden­falls nicht besser geworden sind in den letzten Jahren.
Die Programm­aus­wahl scheint sich deswegen mit Kunst schlecht zu vertragen, weil es dort vor allem um Proporz und Ausge­wo­gen­heit geht. Einen inter­es­santen Beleg hierfür kann die Analyse des Katalogs bieten: Man überprüfe die Wett­be­werbs­filme nicht daraufhin, aus welchen Ländern sie kommen, von welchen Regis­seuren sie gemacht wurden und worum es in ihnen geht, sondern achte darauf, wer ihr Welt­ver­trieb ist, wer sie produ­ziert und, sehr wichtig: wer sie gefördert hat. Statt also zu sagen, drei deutsche Filme sind im Wett­be­werb, müsste man melden: acht Filme von Match Factory oder neun von der Film­stif­tung NRW geför­derte Filme. Das sind die Zahlen. Natürlich kann man darauf antworten, Wild Bunch hat sehr viele Filme in Cannes. Nur macht es das besser?
Die Frage ist: Wie verstehen wir den Wett­be­werb richtig, wie haben wir ihn überhaupt zu bewerten? Ist der Wett­be­werb nur ein Showcase für die deutschen Förder­leis­tungen und für das, was mit deutschen Steu­er­gel­dern gemacht wird, oder für das, was deutsche Welt­ver­triebe einge­kauft haben? Oder geht es um andere Dinge? Das klingt nach Verschwörungs­theorie, viel­leicht spielen solche Kriterien auch gar keine Rolle. In den letzten vier bis fünf Jahren sprechen die Zahlen jedoch dafür. Und auch die zum Teil entspre­chend vernetzten Jurys.

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2. Der deutsche Film hat die Berlinale nicht nötig.

Zum einen müsste man fragen, ob die Berlinale deutschen Produk­tionen wirklich hilft. Wir wissen, dass diese, wenn sie unmit­telbar nach der Berlinale anlaufen, nicht sehr gute Zahlen an der Kasse machen, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Zum anderen ist zu bezwei­feln, ob ein gewisser Boom des deutschen Films wirklich dem Enga­ge­ment der Berlinale zu verdanken ist. Oder ob umgekehrt nicht deshalb mehr deutsche Filme auf der Berlinale laufen, weil es eben auch mehr gute deutsche Filme gibt als früher.

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3. Wohl­fühl­filme sind keine poli­ti­schen Filme.

Dass die Berlinale eine Plattform für poli­ti­sche Filme sei, gilt neben der Förderung des deutschen Films als ihre Stärke. Doch bei Ersterem ist natürlich die Frage, was für ein Poli­tik­be­griff da zugrunde liegt. Meine persön­liche Ansicht ist, dass es sich dabei doch sehr oft um Wohl­fühl­filme handelt, um politisch korrekte, senti­men­tale Werke, die mora­li­sieren, nicht poli­ti­sieren. Deren poli­ti­sche Haltung selten provo­ziert, aber oft wohlfeil ist. Der Begriff des Poli­ti­schen wird im typischen Berlinale-Beitrag ziemlich plakativ dahin­ge­hend inter­pre­tiert, was für Themen zum Beispiel in den Nach­richten sind. Ein irani­scher Film ist dann deswegen politisch, weil wir alle viel über den Iran lesen und hören, weil es dort etwa die gefälschten Wahlen gab. Aber macht das einen Film schon politisch? Viel­leicht macht es ihn inter­es­sant, und man kann ihn durchaus im Wett­be­werb zeigen. Nur sollte man das noch nicht „politisch“ nennen. Zumal dann in der Auswahl andere Arbeiten durchs Raster fallen.
Gerade wenn man fragt, welche Filme die Berlinale eigent­lich entdeckt hat – sei es im Wett­be­werb oder in anderen Reihen –, fällt einem wenig ein, das – um ein Beispiel zu nennen – gleich­wertig wäre mit den Rumänen, die vor allem in Cannes liefen. Einzelne Filme­ma­cher liefen womöglich im Forum, aber man war weit davon entfernt wahr­zu­nehmen, dass in Rumänien eine ganz eigene, ästhe­tisch starke Kine­ma­to­grafie entstanden ist. Cannes ist das nicht nur durch die Goldene Palme für 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage (2007) gelungen, sondern bereits im Jahr davor mit einer klugen Program­mie­rung, die das Land in den Vorder­grund gerückt hat. Ich erinnere daran, dass früher im Forum Länder-Schwer­punkte liefen, ich kann mich an keinen Länder­schwer­punkt unter Christoph Terhechte erinnern, außer im ersten Jahr mit China.

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4. Die Berlinale kommt als Film­pro­du­zent in einen Selbst­ver­s­tänd­nis­kon­flikt.

Der von der Berlinale ins Leben gerufene World Cinema Fund mag ökono­misch eine Erfolgs­ge­schichte sein, künst­le­risch läuft es oft genug auf Neoko­lo­nia­lismus heraus und auf Förderung eines Arthouse-Main­stream (andere sagen Wellness-Arthouse), der radikale Gegen­ent­würfe und wirklich alter­na­tive Film­spra­chen beiseite drängt und oft genug nur mittel­mäßige Filme produ­ziert. Zudem wird die grund­sätz­liche Proble­matik kaum reflek­tiert, dass ein Film­fes­tival, das als Plattform und Präsen­ta­ti­onsort, vor allem aber als unab­hän­giger Kurator für fertige Filme auftreten soll, nun selbst zum Film­pro­du­zenten wird.

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5. Die Berlinale ist nicht populär, sie ist popu­lis­tisch.

Mir scheint, die Leitung verwech­selt den berech­tigten Wunsch, ein populäres Festival zu veran­stalten, mit haltungs­losem Popu­lismus. Die gern beschwo­rene Floskel vom „Publi­kums­fes­tival“ sollte etwas rela­ti­viert werden.
Der Gegensatz zu Cannes, der damit sugge­riert wird, ist zum einen so nicht ganz richtig, da es durchaus möglich ist, auch in Cannes an Karten zu kommen, ob in paral­lelen Vorstel­lungen oder nach dem Festival. Die Berlinale ist auch bei Weitem nicht das einzige Festival, das viele Zuschauer anzieht. Cannes ist zudem ein sehr spezi­eller Fall – auf fast allen sonst wichtigen Festivals gibt es natürlich für jedermann die Möglich­keit, Karten zu kaufen, und die wird in Locarno, in San Sebastian, selbst in Venedig (obwohl der Lido ein proble­ma­ti­scher Ort ist), auch viel genutzt. Zudem ist die Möglich­keit, »für jede Vorstel­lung und jeden Film eine Karte zu bekommen, auch im Fall der Berlinale eher theo­re­tisch. Wer einmal in der Schlange vor einer regulären Kasse stun­den­lang für Karten anstand, weiß davon ein Lied zu singen. Oft ist er enttäuscht worden, die Karten­ver­gabe ist zumindest ein Glücks­spiel. Ein Publi­kums­fes­tival ist auch Hamburg oder München.
Zum anderen: Ist großer Publi­kums­zu­lauf immer nur etwas Gutes? Denn wenn wir ökono­misch denken, geht es ja auch darum, dass die Leute, sobald ein Film regulär startet, die Karten dem Kino­ver­leiher bezahlen und sie an der Kinokasse kaufen. Manche Filme­ma­cher, viele Produ­zenten, Verleiher und Kino­be­treiber berichten, wenn ihre Filme auf der Berlinale laufen, „machen wir in Berlin keine Zahlen mehr“. Ein Film­fes­tival sollte eine Fachmesse bleiben, nicht Ersatz des regulären Kino­be­suchs.
Schließ­lich heißt „Publi­kums­fes­tival“ auch nicht, dass alle Karten bekommen. Man braucht nur an die Kollegen zu denken, die Fach­ak­kre­di­tie­rungen haben, teilweise drei Stunden anstehen und keine Karte bekommen. Der Argu­men­ta­tions-Komplex „Publi­kums­fes­tival“ ist vor allem Marketing und ein bisschen Schön­fär­berei, die für die Sponsoren und die zustän­digen Politiker recht gut klingt.«

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6. Das Marketing nach einer Event-Logik lenkt vom eigent­li­chen Kern des Festivals ab.

Die Berlinale ist vortreff­lich in eine zeit­ge­mäße Event-Kultur einge­bettet und funk­tio­niert nach Mecha­nismen der Ver-Marktung: Unter Dieter Kosslick hat die Bedeutung von Sponsoren und Medi­en­part­nern noch erheblich zuge­nommen.
Obwohl die Berlinale vor allem mit öffent­li­chen Geldern finan­ziert ist, wächst die Bedeutung und damit der Einfluss von Sponsoren und von Ticket­ein­nahmen. Letzteres hat zur Folge, dass das Programm viel deut­li­cher auf Publi­kums­wirk­sam­keit hin designt wird: Ein Para­de­bei­spiel ist die neu einge­führte und seitdem ausge­wei­tete Berlinale-Special-Reihe: Filme, die Dieter Kosslick offen­kundig für zu schlecht für den Wett­be­werb hält, deren Vorfüh­rung aber als indus­trie­po­li­tisch nützlich und publi­kums­wirksam einge­schätzt wird, wie Hilde oder John Rabe im Jahr 2009, wie Henri 4 oder Die Friseuse 2010, laufen an Orten wie dem Fried­rich­stadt-Palast weit­ge­hend unter Ausschluss der akkre­di­tierten Besucher.
Damit einher geht die wachsende Bedeutung des Marketing und des „Bedienens“ der Medien mit PR-Aktionen: Die Berlinale muss jeden Tag weit mehr als nur ein einziges Event schaffen. Das geschieht mittels Stars, Nach­richten, Attrak­tionen. Sollten auch noch die Filme attraktiv sein – umso besser. Ziel­gruppe sind primär die Medien als Durch­lauf­er­hitzer, und durch sie dann zum einen die Fach­be­su­cher und zum anderen das normale Publikum, dem die Medi­en­re­zep­tion meist das direkte Festi­val­er­lebnis ersetzt. All das hat eine Konfek­tio­nie­rung der Erfahrung von Festivals zur Folge. Die Festival-PR-Maschinen produ­zieren bereits im Vorfeld eine unun­ter­bro­chene Markt­schreierei, ein Bombar­de­ment aus Pres­se­mit­tei­lungen, die mit Spon­so­ren­namen und Selbstlob garniert sind, ein perma­nenter Super­lativ.
Verstärkt wird dies über soge­nannte Medi­en­part­ner­schaften. Fern­seh­sender, die oft genug auch an den gezeigten Filmen beteiligt sind, fungieren einer­seits als Berlinale-Sponsoren, ande­rer­seits berichten sie dann in Sonder­pro­grammen über die Berlinale, mit Kosslick-Auftritt und so weiter – wie distan­ziert und unab­hängig, davon kann sich jeder selbst über­zeugen. Ein anderes Beispiel ist jetzt die „DVD-Berlinale-Edition“, die in der „Cine­ma­thek“ einer süddeut­schen Tages­zei­tung erscheint – garniert mit dem Berlinale-Logo.

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Fazit: Die Berlinale ist im schärfer gewor­denen Verdrän­gungs­wett­be­werb der Film­fes­ti­vals quali­tativ eine gefähr­dete Marke. Das ist längst keine Einzel­mei­nung mehr und auch kein Kriti­ker­vor­ur­teil. Während sie in die dubiose Breite von Kuli­na­ri­schem Kino und Berlinale Special für fett geför­derte Fern­seh­filme expan­diert, während die Neben­reihen immer öfter die besseren Filme enthalten, zeigt ausge­rechnet der Wett­be­werb als Aushän­ge­schild die künst­le­risch entbehr­lichsten Filme. Die Berlinale wird durch Verbrei­te­rung, Nivel­lie­rung und popu­lis­ti­sches Design des Programms ihrer Rolle als Kurator immer weniger gerecht. Sie verändert sich insgesamt zu ihrem Nachteil.
Unter den gegen­wär­tigen Bedin­gungen, nach denen es zum Direktor keine perso­nelle Alter­na­tive zu geben scheint, in denen Verträge ohne öffent­liche Debatte und Ausschrei­bung par ordre du mufti verlän­gert werden und die Träger des Festivals an der so anti­quierten wie über­holten Idee eines allmäch­tigen Direktor/Diktators fest­halten, gilt leider trotzdem mehr denn je: Die Berlinale kann gar nicht besser sein.