05.09.2017
74. Filmfestspiele von Venedig 2017

Ein Oscar für Sienna Miller!

The Private Life of a Modern Woman
Solche Filme kann es in Deutschland nicht geben. Warum eigentlich nicht?
(Foto: Quiver Distribution)

Toback, Schuld und Sühne: The Private Life of a Modern Woman ist der bisher beste Film am Lido – Notizen aus Venedig, Folge 8

Von Rüdiger Suchsland

»I've somehow made a mess out of life and I want my work to cover it up.«
James Toback, in The Private Life of a Modern Woman

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Mit Split­screen geht es, nicht zum ersten Mal bei Toback, wieder los: Die Eröff­nungs­titel stehen auf den breiten Schwarz­fel­dern, auf den zwei bis drei Screens, die sich in ständiger Bewegung befinden, von rechts nach links, von unten nach oben, die auch mal größer werden oder kleiner, sieht man das Gesicht von Sienna Miller, schlafend auf dem Bett, dazu Ausschnitte aus dem berühm­testen Gemälde von Hiero­nymus Bosch: »Der Garten der Lüste«. Dazu läuft Schost­a­ko­witschs 7. Symphonie.

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Aus verschie­dene Perspek­tiven – durch den Split­screen vergleich­zei­tigt – bewegt sich die Kamera, wir sind immer noch in den ersten Minuten des Films, durch ein loftähn­li­ches Appart­ment in New York.
Miller liegt auf dem Bett, es klingelt, sie bekommt Besuch von einem Mann, der offenbar ein Ex-Lover ist. Erst scheint alles friedlich, dann eskaliert die Szene, er zieht eine Pistole, bedroht sie, dann ringen sie um die Waffe, dazwi­schen immer wieder Bilder mit ihr im Bett, sie versucht, ihn zu beruhigen, dann im Hand­ge­menge ein Schuß, er ist tot.
Ein Traum? Nein! Sie steht auf, das ist offenbar nach dem Vorfall, über ihrem Bett hängt ein Bild von Brahms, dessen »Deutsches Requiem« wir später hören werden, neben ihrem Bücher­regal steht, auch kein Zufall, ein Bild von Dosto­jewski.
Nach kurzem Zögern verfrachtet sie die Leiche in einem großen Koffer.

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Auf dem Off hören wir ihre Stimme einen Text lesen, der ist lite­ra­risch, es könnte etwas von ihr Geschrie­benes sein, oder ihr innerer Monolog, ein »stream of conscious­ness«.
Es klingelt wieder, wieder ein Ex-Lover, diesmal einer, der eine Disser­ta­tion über »Murder in Dickens and Dosto­je­weski« geschrieben hat. Sie streiten sich, sie will ihn loswerden. Dazu Musik von Schost­a­ko­witsch, von Bach, dazu die fort­wäh­rend bewegte Kamera, die lauert, zittert, atmet.
Den nächsten Besucher spielt Toback selbst. Es kommt zu einer wunder­baren Passage aus impro­vi­sierten, – »invention, not impro­vi­sa­tion« korri­giert mich Toback später, als ich ihn danach frage – inter­view­ähn­li­chen Szenen. Eine Art Frage­bogen: »Have you been leading a secret life?«, »What are you writing?«, »Do you feel rage at the core of your being?«, »Did you ever consider comitting suicide?«. Dabei immer wieder Flash­backs, eine groß­ar­tige One-Woman-Show von Sienna Miller vor latent hyste­ri­schem Hinter­grund.

Man fragt sich bei alldem: Wie sehr ist sie in der Rolle? Wie sehr ist sie in ihren Antworten Sienna Miller? Diese unauf­gelöste Spannung ist extrem fruchtbar.
Toback kommt dazwi­schen aber auch umgekehrt zu eigenen Geständ­nissen: »I've somehow made a mess out of life and I want my work to cover it up.«, The thing, that I pity the most, is that time goes by., »I feel like I just got away with something my whole life«, »I could share some things with you.«
Super super! Es mag Zufall sein, dass Toback diese Figur spielt, aber es ist im höheren Sinne kein Zufall sondern eiserne Notwen­dig­keit.
Wer sonst? Der Film wäre ohne ihn schlechter geworden

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Und dazu braucht man vom Werk von James Toback nichts zu wissen. Viel­leicht eher von Godards Zwei oder drei Dinge und anderen seiner Filme. Man muss bei diesem Interview immer auch wieder mal an RP Kahls unver­ges­senen Mädchen am Sonntag denken. Der Film zeigt, wie es weiter­gehen könnte, wie eine Fort­set­zung dieses Films aussehen könnte.

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Sie schafft den Koffer mit der Leiche in ihr Auto, fährt raus in die Wälder wo sie den Koffer in einem See versenken wird. Dazu erklärt ein innerer Monolog in der dritten Person, warum sie keine Mörderin ist, erklärt ihre Notwehr. Es fällt der Satz, wie leicht eine Schuß-Waffe losgeht: »It was as not she had killed him, the gun had.«

Handeln heißt Entscheiden, blitz­schnell. Und nicht später bedauern: »Now she was beyond the moment. The dyce had rolled. But this all happened in just five minutes.« Es war ein Lebens-Augen­blick, der dauer­hafte Konse­quenzen für sie hat: »From this moment on she knew, she would follow her most urgent reaction the rest of her life. Every other path would lead to chaos and madness and anni­hi­la­tion.«

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Dann folgen Alec Baldwin als Polizist, ein Columbo-Moment, ein Abend­essen mit Mutter und dementem Großvater, im Hinter­grund ist Breughels »Triumph des Todes« zu sehen.
The Private Life of a Modern Woman verbindet ganz Klas­si­sches mit Ultra­mo­der­nität. Ein Film der Fragmente und Vignetten, der nie geschlossen ist, sondern offen und neugierig. Es kann alles passieren. Und es passiert viel.
So ist dies der inter­es­san­teste Film im bishe­rigen Venedig-Programm. Konse­quent und ökono­misch. Keiner anderer Film macht aus seinen Mitteln so viel. Aber Toback weiß, wie es geht. Sienna Miller sollte für diesen Auftritt im Gefolge von Interview und Factory Girl, wo sie ähnliche Figuren spielt.

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Der Mann ist 72, sieht aber aus, wie Mitte 50. Er hat seit 15 Jahren keinen Spielfilm mehr gemacht. Immerhin die Doku­men­tar­filme Tyson und Seduced and Abandoned, einen im Grunde unglaub­lich lustigen, aber auch traurigen Film über das Scheitern eines eigenen Film­pro­jekts: Abgrün­dige Cinema Verité, in der Toback gemeinsam mit Alec Baldwin über den Cannes Markt geht, und versucht irgend­wel­chen dubiosen Russen und arabi­schen Scheichs das Projekt zu verkaufen.

Im Q&A nach dem Film erzählt Toback in Blazer mit Gold­knöpfen, dass dieser Film in neun Drehtagen entstand, ohne Geld, weil wieder mal ein Geldgeber absprang. Dann geht es um einen Lieb­lings­autor, Dosto­jewski, um Schost­a­ko­witsch, den »Dosto­jewski of music«, um das schuldig werden.

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Dies ist vor allem ein Film über Angst, die Angst sich zu verlieren, die das unter­grün­dige Thema des Films ist. Die Handlung ist die einer Kurz­ge­schichte, das philo­so­phi­sche Gewicht das eines Romans – von Dosto­jewski oder Dickens. Oder Flaubert. Mit anderen Worten: Old-school-exis­ten­tia­lismus. Genau so soll es sein.
Solche Filme kann es in Deutsch­land nicht geben. Warum eigent­lich nicht?

(to be continued)