21.02.2010
60. Berlinale 2010

Bär findet Honig

Bal
Goldener Bär für Bal
(Foto: Piffl Medien)

Nacht des Ostens: Der türkische Beitrag gewinnt die Berlinale, der Regiepreis geht an Roman Polanski – aber die Berlinale schafft sich als Festival von Rang zunehmend selber ab

Von Rüdiger Suchsland

Ein kleiner Junge, sein Leben in einer idyl­li­schen aber einsamen Natur mit Vater und Mutter – das ist, ganz äußerlich betrachtet, das Zentrum eines stillen, auf den ersten Blick einfachen, aber gar nicht so kleinen Films, der jetzt welt­berühmt werden wird: Bal (Honig) heißt der Gewinner des Goldenen Bären bei der dies­jäh­rigen, 60. Berlinale. Es ist erst der dritte ganz große türkische Preis bei einem inter­na­tio­nalen »A-Festival«, nach dem Goldenen Bären 1964 für Susuz yaz (Trockener Sommer) von Ismail Metin und Yol – Der Weg, mit dem Yilmaz Güney 1982 in Cannes die Goldene Palme gewann. Ein verdienter Preis, die den großen künst­le­ri­schen Aufschwung bestätigt, den das Filmland Türkei in den letzten zehn Jahren genommen hat. Und die ange­mes­sene Auszeich­nung für Semih Kapla­noglu, schon länger zusammen mit Reha Erdem (Bes vakit, Hayat var) der wohl beste Filme­ma­cher seines Landes – bisher aber stand er immer im Schatten des spröden Festival-Darlings Nuri Bilge Ceylan, der in Cannes schon mehrere Neben­preise gewann. Kapla­noglu erwähnte die Kollegen in seiner Dankes­rede auf der Abschluss­pres­se­kon­fe­renz, und hob hervor, dies sei »ein Preis für das gesamte Filmland Türkei«.

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Bal ist ein warm­her­ziger Film, der seit seiner Premiere zu den Favoriten auf einen Preis gehört hatte. Man kann sich gut vorstellen, dass Jury­prä­si­dent Werner Herzog, der in seinen eigenen Filmen seit jeher eine starke Beziehung zur Natur und zur Land­schaft bewies, ebenso wie ein großes Interesse dafür Tradi­tionen und unge­wöhn­liche Berufe, für das »Seltsame« diesen Film schnell ins Herz geschlossen hat, der nicht nur in einer wunder­baren Wald­land­schaft spielt, sondern auch ein altmo­di­sche Variante des Imker­be­rufs behandelt: Der Vater des kleinen Yussuf steigt immer auf riesige Baum­wipfel, um dort oben Bienen­körbe abzuernten. Zugleich ist der Film auch eine Auszeich­nung des deutschen Kinos, den produ­ziert wurde er von Bettina Brokemper und Johannes Rexin, deren Kölner Heimat­film zu enga­gier­testen, kämp­fe­rischsten und kompro­miss­lo­sesten Produk­ti­ons­firmen in der insgesamt eher biederen deutschen Branche gehört.

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Der Ansager der Preis­ver­lei­hung klingt wie ein Zuhälter.
»400 films in ten days – that’s nearly impos­sible.« sagt Anke Engelke und meint es ernst. Warum sagt Dieter Kosslick niemand, dass Anke Engelke nicht lustig ist, sondern doof, und dass sie auch nichts mit Film zu tun hat?

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Die Vertreter und Fans des deutschen Kinos wurden ansonsten enttäuscht: Denn zumindest Benjamin Heisen­bergs Der Räuber hatte bis zum Schluss verdien­ter­maßen zu den Favoriten gehört. So ist dies für den deutschen Film die erfolg­lo­seste Berlinale des Jahr­tau­sends, erstmal seit Dieter Kosslicks Berufung gab es gar keinen Preis für einen deutschen Beitrag. Statt­dessen war diese Preis­ver­lei­hung die Nacht des Ostens, des ganz nahen Europas, des mittleren und des fernen, jeden­falls wenn man den Regie­preis für den Halbpolen Roman Polanski dazu rechnet: Der Haupt­preis ging wie der Preis für den besten Erstling (Sebbe von Babak Najafi) an einen isla­mi­schen Regisseur, zwei Bären gingen an Japan (Cater­pillar von Koji Wakamatsu) und China (Wang Quan'an und Na Jin für Apart Together), die rest­li­chen vier an zwei Filme aus Rumänien (If I Want to Whistle, I Whistle von Florin Serban) und Russland (How I Ended This Summer von Alexei Popo­grebsky). Diese zwei Filme bekamen jeweils einen Preis zuviel – mögli­cher­weise ein Indiz für eine Spaltung innerhalb der Jury.

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Die größte Über­ra­schung war der Preis für Polanski: So verdient er für die Regie von The Ghost Writer ausge­zeichnet wurde, so sehr muss der Preis auch als Botschaft der Soli­da­rität mit dem in der Schweiz inter­nierten Regisseur und als Affront gegen das US-Auslie­fe­rungs­be­gehren und die Schweizer Verhaf­tung verstanden werden, als poli­ti­sches Statement für die Freiheit der Kunst und der Künstler. So wurde die Berlinale dann noch ihrem Ruf als einem besonders plakativ poli­ti­schen Festival gerecht.

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Zu Henri 4 sagt eine Kollegin: »Ich würde den gern in der Origi­nal­fas­sung sehen.« Aber was ist denn hier die Origi­nal­sprache? Im Zwei­fels­fall Esperanto.
Was dann so geredet wird: Produ­zentin Regina Ziegler, die dem Festival den Film ins Programm gedrückt hat, sei ganz unsicher, was sie mit dem Film machen sollen. Jetzt wurde auch noch der Start vorge­zogen. Das Blödeste, was ein Produzent machen kann. Denn schlechter kann es nicht mehr werden. Manche Schau­spieler haben sich, wie man hört, geweigert, Pres­se­ar­beit zu machen.

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Insgesamt fällt die Bilanz des Gesamt­fes­ti­vals einmal mehr mau aus: An die enttäu­schenden Wett­be­werbe, die eher Kino-Moden nach­rennen – drei Jahre nach Cannes liefen und gewannen nun auch in Berlin rumä­ni­sche Filme – als sie zu begründen und Neues zu entdecken, hat man sich unter Dieter Kosslick leider gewöhnen müssen. Schwerer wiegt der generelle Bedeu­tungs­ver­lust des Festivals im Vergleich zu Cannes und Venedig: »Jahrmarkt« und Verzicht auf Cine­philie bemängelt die FAZ, von einem »irrele­vanten Programm« schrieb das US-Bran­che­ma­gazin Variety. Kosslick hat das Festival künst­le­risch und kultur­po­li­tisch herun­ter­ge­wirt­schaftet. Am fran­zö­si­schen Cannes geht heute nichts mehr vorbei. Das war früher, unter dem sper­ri­geren, aber mit der inter­na­tio­nalen Branche viel besser vertrauten Moritz de Hadeln anders.

Kosslick verwech­selt den berech­tigten Wunsch, ein populäres Festival zu veran­stalten, mit haltungs­losem Popu­lismus. Er spricht von »Kino­kultur«, doch zeigt er Filme unter schlechten Vorführ­be­din­gungen in Revue­palästen wie dem Fried­rich­stadt­pa­last – nur weil man hier besonders viele Karten verkaufen kann. Statt dem sehr offenen Berliner Publikum Heraus­for­de­rungen zuzumuten, statt ein Kino zu pflegen, das auch irritiert und sucht, zeigt er viel Fern­seh­ware wie Henri 4, die das Publikum von den wirk­li­chen Entde­ckungen ablenkt. Kosslick verbindet Provin­zia­lismus mit Bauern­schläue: Er redet vielen nach dem Mund, tut so, als wolle er es allen Recht machen, tatsäch­lich bedient er aber vor allem die künst­le­risch ahnungs­losen Politiker, die Groß­in­dus­tri­ellen der Film­branche und die Sponsoren in den Fern­seh­an­stalten. Es ist nur allzu typisch, dass ein Film wie der Preis­träger Bal hier­zu­lande erst gefördert und nach Berlin einge­laden wurde, nachdem der Regisseur in Cannes und Venedig seine ersten Erfolge feiern konnte.

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Der ziemlich resi­gna­tiven Vermutung einer Kriti­kerin, viel­leicht sei Kosslicks popu­lis­ti­scher, anti­neu­gie­riger Kurs, und die Reduktion von Kino auf Volksfest und Enter­tain­ment, »bei dem der cinephile Anspruch zugunsten guter Stimmung in den Hinter­grund tritt«, für das Festival womöglich »der einzig gangbare Weg in die Zukunft«, könnte man entgegen, dass Cannes es besser macht. Auch dort sind die Kinos voll, auf den Lein­wänden aber läuft auch in schlechten Jahren kompro­misslos Anspruchs­volles. Man muss nur auf jene Liste schauen, die derzeit das erste vage »Lineup« für den Wett­be­werb von Cannes zusam­men­fasst, um zu begreifen, was der Berlinale derzeit fehlt: Terrence Malick, Alejandro Gonzales Iñarritu, Sofia Coppola, Abdel­latif Kechiche, Jodie Foster, Roberto Rodriguez, Woody Allen, Julian Schnabel oder Abbas Kiaros­tami. Alle diese Regis­seure haben das Weltkino schon voran­ge­bracht. Keiner hat es schlicht und einfach nötig, seinen Film auf der Berlinale zu zeigen.

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Wer einmal den Wett­be­werb der Berlinale wirklich verstehen will, wer vor allem eine Erklärung dafür sucht, warum sich wieder irgend­eine Belang­lo­sig­keit im Wett­be­werb findet, der sollte sich einmal die Kataloge der letzten Jahre ansehen und auf vier Fragen hin über­prüfen: Welche Welt­ver­triebe sind in welcher Stärke vertreten? Wer hat die inter­na­tio­nalen Filme gefördert? Welche anderen Produk­tions- und Sender­gelder reprä­sen­tieren die Wett­be­werbe außerdem? Schließ­lich: Welche Jury­mit­glieder sind welchen Welt­ver­trieben und Finan­ciers wie verbunden? Verschwörungs­theo­re­tiker können hier auf ihre Kosten kommen.

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In den letzten Jahren lassen sich weitere Verän­de­rungen ausmachen: Obwohl die Berlinale öffent­lich finan­ziert ist, wächst die Bedeutung und damit der Einfluss von Sponsoren und von Ticket­ein­nahmen. Letzteres hat zur Folge, dass das Programm viel deut­li­cher auf Publi­kums­wirk­sam­keit hin designed wird: Ein Para­de­bei­spiel ist die neu einge­führte und ausge­wei­tete Berlinale-Special-Reihe: Filme, die Dieter Kosslick offen­kundig für zu schlecht für den Wett­be­werb hält, deren Vorfüh­rung aber als indus­trie­po­li­tisch nützlich und publi­kums­wirksam einge­schätzt wird, wie Hilde oder John Rabe im Jahr 2009, wie Henri 4 oder Die Friseuse laufen an Orten wie dem Fried­rich­stadt­pa­last weit­ge­hend unter Ausschluss der akkre­di­tierten Besucher.

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Damit einher geht die wachsende Bedeutung des Marketing und des »Bedienens« der Medien mittels PR-Aktionen: Die Berlinale muss jeden Tag weit mehr, als nur ein einziges Event schaffen. Das geschieht mittels Stars, Nach­richten, Attrak­tionen. Sollten auch noch die Filme attraktiv sein – um so besser. Ziel­gruppe sind primär die Medien als Durch­lauf­er­hitzer, und durch sie dann einer­seits die Fach­be­su­cher und ande­rer­seits das normale Publikum, dem die Medi­en­re­zep­tion meist das direkte Festi­val­er­lebnis ersetzt. All das hat eine Konfek­tio­nie­rung der Erfahrung von Festivals zur Folge. Die Festival-PR-Maschinen produ­zieren bereits im Vorfeld eine unun­ter­bro­chene Markt­schreierei, ein Bombar­de­ment aus Pres­se­mit­tei­lungen, die mit Spon­so­ren­namen und Selbstlob garniert sind, ein perma­nenter Super­lativ.

Verstärkt wird dies über so genannte »Medi­en­part­ner­schaften«. Fern­seh­sender, die oft genug auch an den gezeigten Filmen beteiligt sind, fungieren einer­seits als Berlinale-Sponsoren, ande­rer­seits berichten sie dann in Sonder­pro­grammen über die Berlinale, mit Kosslick-Auftritt und so – wie distan­ziert und unab­hängig, davon kann sich jeder selbst über­zeugen. Ein anderes Beispiel ist jetzt die DVD-»Berlinale-Edition›, die in der »Cine­ma­thek« einer süddeut­schen Tages­zei­tung erscheint – garniert mit dem Berlinale-Logo.‹«

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Die gern beschwo­rene Floskel vom »Publi­kums­fes­tival« ist übrigens sehr relativ zu verstehen: Wer Wett­be­werbs­filme sehen will, bekommt zwar leicht Karten, wenn es sich um schlecht Bespro­chenes handelt. Aber selbst für gut ange­kom­mene Gene­ra­tion-Filme muss man stun­den­lang anstehen – um oft genug mit leeren Händen heim­zu­kehren.

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Soll man wenn die Welt immer schlechter wird, das auch sagen, oder ist man dann nur ein blöder Spiel­ver­derber? Oder, noch schlimmer, einer, der die neuen Zeiten nicht checkt, also so jemand wie Amelie Fried, wenn sie in der Brigitte erklärt, warum twittern doof ist?

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Die Festivals haben in den Städten der Zukunft weiterhin ihren Platz als Inseln der Kommu­ni­ka­tion – aber nur, wenn dort etwas geboten wird, was sich spürbar vom Fern­seh­pro­gramm und dem DVD-Regal unter­scheidet.
Warum geht es bei der Berlinale vor allem um Eintritts­zahlen? Ist Erfolg nicht anders messbar? Ein Festival ist die Ausnahme von der Regel des Kino­be­triebs. Festivals haben wie jede öffent­lich geför­derte Kultur­ver­an­stal­tung eine Verant­wor­tung für das Ganze, die über Selbst­er­hal­tung hinaus­geht. Daraus folgt: Die Berlinale tut dem Kino und unserer Leiden­schaft für Filme einen schlechten Dienst, weil sie nicht über sich selber hinaus ausstrahlt.

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2013 läuft der Vertrag von Dieter Kosslick aus. Zwölf Jahre wird Kosslick dann im Amt sein – viel­leicht ist das dann einfach genug? Dieje­nigen, die über seine Verlän­ge­rung oder eine Neube­ru­fung entscheiden, sollten jetzt schon anfangen, sich entspre­chende Gedanken über die genannten Fragen zu machen: Welche Vorstel­lung hat die Berlinale von sich selbst? Zumindest sollte man sagen, was man will, woran die Öffent­lich­keit ist. Ein »Publi­kums­fes­tival« machen auch München oder Hamburg, zwei Film­fes­ti­vals, die in der Branche schon national völlig unbe­deu­tend sind. Dass dann die Berlinale mit dem über zehn­fa­chen Etat von München ein besseres Festival auf die Beine stellt, und doppelt soviel Filme zeigt, ist keine Kunst. Relevanz ist etwas anders: Wer Cannes und Venedig, oder auch nur kleinen feinen Festivals wie San Sebastian und Gijon oder Markt­plätzen wie Toronto ernsthaft Konkur­renz machen will, muss mehr bieten. Dazu muss man nicht Moden und Trends nach­laufen, sondern sie selbst ins Leben rufen.