21.02.2008
58. Berlinale 2008

All documentaries are lies

GREEN PORNO
Streng wissenschaftlich: Green Porno

Von Spinnen, Zügen und anderem Ungetier

Von Dunja Bialas

Wer heute noch sagt, Doku­men­tar­filme müssten immer etwas mit Wahrheit zu tun haben, der hat auf der Berlinale den Groß­meister des direct cinema, James Benning, verpasst. Dieser bekannte offen: »All docu­men­ta­ries are lies«. Wer darüber hinaus denkt, dass die Elemente des Wirk­li­chen, die Fakten, Wahrheit produ­zieren, der hat dem Groß­meister des Expe­ri­men­tellen, Guy Maddin, nicht zugehört, der über seinen somnam­bulen My Winnipeg sagte: »There are no facts, but truth.« Also ein Film ohne Fakten, der aber wahr ist. (Das sollte man mal einem gewissen Nach­rich­ten­ma­gazin nahe­bringen.) Und darüber hinaus gibt es dann noch den dritten Fall, dass zwar alles auf Fakten basiert und mit ihnen auch auf Wirk­lich­keit verwiesen wird, diese aber nicht mehr wahr­heit­lich abge­bildet wird. Dies war der Fall bei Isabella Rossel­linis Green Porno-Filmen, in denen es streng wissen­schaft­lich zugehe, wie sie bei der Präsen­ta­tion sagte. Die aber in Wirk­lich­keit aber­wit­zige Kostüm­filme waren, in denen Rossel­lini selbst Insekten, Spinnen, Würmer und Schnecken bei ihrem Sexu­al­ver­halten spielt.

Präsen­tiert wurde die Green Porno-Aufklärungs­rolle im Atrium des Film­hauses, das seit zwei Jahren dem »Forum expanded« Raum gibt, also der mit expe­ri­men­tellen Filmen erwei­terten Berlinale-Sektion für den »jungen Film«. Die Filme wurden auf den Displays von Handys abge­spielt, die inmitten von liebevoll gestal­teten Pappmaché-Terrarien in Vitrinen aufge­stellt waren. Unter der Lupe betrachten konnte man drei der insgesamt acht Green Porno-Filme, die Rossel­lini für das soge­nannte „Handy-Kino“ reali­siert hat. Sie folgte dabei einer Initia­tive des Sundance-Film­fes­tival-Leiters Robert Redford, der bereits im vergan­genen Jahr mit dem „Global Short Film Project“ unab­hän­gige Filme­ma­cher dazu aufge­rufen hat, die Poten­tiale des Mobil­funks auszu­schöpfen – als Medium für ein welt­weites Publikum.

Rossel­lini hat sich bei ihren Mini-Filmen ganz auf die Anfor­de­rungen und Beschrän­kungen des kleinen Handy-Displays, des soge­nannten »dritten Screens« einge­lassen. Sein Farb­spek­trum basiert auf Grün, was sie bei der Farbwahl der Kostüme berück­sich­tigt habe, sagte sie bei der Präsen­ta­tion. Außerdem habe sie comic­ar­tige Farb­kon­traste und Gesten gewählt, sich auf ein Objekt im Bild beschränkt, auf Kame­ra­schwenks verzichtet, und sich in etwa an eine Minute Filmlänge gehalten. Genial ist hierbei natürlich, dass sie sich die Klein­ge­tiere vorge­nommen hat. So entkommt sie immerhin von ihrem Konzept her dem verklei­nernden Effekt des Handy-Displays und macht im Gegenteil Vergröße­rungs-Filme, Aufklärungs­streifen, die das im Kleinen Verbor­gene sichtbar machen.

Das klingt ja alles zunächst ziemlich attraktiv, und die Rossel­lini-Filmchen waren sehr hübsch anzusehen und obendrein auch noch witzig. Aber auch die perfekt durch­dachten Beiträge von Rossel­lini zeigten, dass Kino doch immer noch das Größte ist. Ihre Porno­film­chen wurden auch ganz normal auf der großen Leinwand gezeigt, als Vorfilme zu Guy Meddins My Winnipeg. Was auf dem Handy nur ein gespielter Witz war, wurde auf der Leinwand zu einem veri­ta­blen Vergnügen mit außer Kraft gesetzten Raum­di­men­sionen, in denen Rossel­lini eine uneitle und humorige Perfor­mance lieferte. Dennoch: verlo­ckend ist der Gedanke schon, künftig die Rossel­lini-Streifen auf dem eigenen Handy abspielen zu können. Kino als Kultur-Acces­soire und Gimmick für Anspruchs­volle. Der Download ist ein nahe­lie­gendes Modell für die Refi­nan­zie­rung solcher Film-Expe­ri­mente und das ganze Projekt insgesamt auch ein großes Geschäft, hinter dem sich der weltweite Wirt­schafs­ver­band GSMA mit über 700 GSM-Anbietern verbirgt. Noch aber kann man sein Taschen­geld nicht in GREEN PORNO inves­tieren. Bis es soweit ist, sei ein Interview auf Youtube empfohlen , das Rossel­lini anläss­lich der Sundance-Premiere gegeben hat und in dem Ausschnitte der Filme zu sehen sind.

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Was bei Rossel­lini über­raschte, war, dass sie sich so akribisch an die wissen­schaft­li­chen Fakten gehalten hat bei ihren Biologie-Comics. James Benning dagegen ist ein Filme­ma­cher, bei dem man am wenigsten vermuten würde, dass für ihn die vorge­fun­dene Wirk­lich­keit nicht der Maßstab seiner Filme wäre, er sie zur „Lüge“ umböge. Denn was kann ein Filme­ma­cher wie Benning schon groß dazu­er­finden in seinen Film­m­edi­ta­tionen, in denen sich fixe Ansichten von ameri­ka­ni­schen Land­schaften auf stoische Weise ablösen. »All is true« sagen seine Bilder, hier die Kamera in starrer Einstel­lung, dort das Gefilmte, ein See, ein Himmel oder ein Zug, je nach dem Sujet, das er seinen mono­the­ma­ti­schen Filmen gibt. Dass aber gerade dieses »all is true« seiner Bilder, in denen die Kamera einfach auf die Land­schaften draufhält, nicht greift, wenn es darum geht, Aussagen über die Wirk­lich­keit mittels seiner Filme zu formu­lieren, war auch in seinem neuesten Film RR der Fall, der im Forum präsen­tiert wurde. RR ist die Abkürzung für Rail Road, und Benning hat in über hundert Minuten gezeigt, wie 43 Züge durchs Bild rattern, meist überlange Güterzüge, so wie es nur die ameri­ka­ni­schen Weiten zulassen, ein Perso­nenzug ist dabei und dann noch, wie ein humo­ri­sches Augen­zwin­kern, ein einzelner Trieb­wagen, der einsam und verloren durch eine Ebene fährt. Sein »Train­spot­ting« aber gilt weniger den Zügen selbst, als einer medialen Aufmerk­sam­keit. Seine Bilder sind Erzäh­lungen darüber, wie sich durch die Bewegung eines Objekts innerhalb einer starren Ansicht der Bild­cha­rakter selbst foto­gra­fisch wandelt. Während die Waggons der Züge die Kino-Leinwand durch­fahren, ergeben sich Ausblen­dungen von Teilen des Bildes, dann wieder Einblicke, ganz im Rhythmus der Waggon­an­ord­nungen. Paral­lelen tun sich auf zur Vorführ­ap­pa­ratur eines Films, wenn in den Waggon­zwi­schen­räumen in regel­mäßigen Abständen ein Haus erscheint, ganz wie auf der Licht-Bühne beim Film­trans­port, die das Frame des gerade proji­zierten Bildes verortet. Benning filmt unmar­kierte Land­schaften wie eine steinige Wüste, durch die sich langsam ein Güterzug hindurch­quält, Indus­trie­land­schaften, in denen banale Pfützen in Szene gesetzt werden, aber auch land­schaft­lich anhei­melnde Schie­nen­füh­rungen an Küsten entlang oder weiß-in-weiß durch Schnee­land­schaften hindurch. Jedes seiner Zug-Bilder sind kleine Kurzfilme und jede Einstel­lung verdiente eine eigene Bild­be­schrei­bung, so unter­schied­lich, varia­ti­ons­reich und durch­dacht sind sie. Höhepunkt des Films ist eine spek­ta­kuläre Stre­cken­füh­rung, wenn der nicht enden wollende Güterzug »Santa Fé« erst in den Flucht­punkt des Bildes hinein­fährt, um einige Minuten später auf einer Brücke von links wieder ins Bild hinein­zu­fahren, während seine Waggons immer noch auf der z-Achse dahin­rollen, er also gewis­ser­maßen über sich selbst hinweg­fährt, und dies minu­ten­lang. RR ist für Benningsche Maßstäbe ein Action­film, der auch immer wieder hoch­gradig selbst­re­flexiv ist, wenn z.B. ein Auto an einer herun­ter­ge­las­senen Schranke hält, und der Fahrer dann warten­der­weise zeit­gleich zum Zuschauer den Zug passieren lässt. Was ganz beiläufig die Frage nach dem ästhe­ti­schen Potential von banalen Ereig­nissen aufkommen lässt, das, wie Benning uns zeigt, immer ein Frage des Stand­punktes und der medialen Vermitt­lung ist. Und deshalb, so Benning, ist eben auch jeder Film, der angeblich Wirk­lich­keit wieder­gibt, eine Lüge. Denn er trifft für sich selbst genommen überhaupt keine Aussage über vorge­fun­dene Wirk­lich­keiten. Benning nimmt dies als Selbst­ver­s­tänd­lich­keit und synchro­ni­siert deshalb meist auch seine Bilder nach. Er gibt jeder Einstel­lung eine Tonspur, die enthält, was ihm selbst im Zuge seiner Bild­re­cherche wieder­fahren ist oder was ihm typisch für den Ort erscheint. Zwar ist sein Bild immer direct, sein Ton ist es in den meisten Fällen nicht.

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RR war unbe­stritten ein Höhepunkt der Berlinale (nicht zuletzt auch deshalb, weil die Präsen­ta­tion im Delphi stattfand und selbiges ausver­kauft war. Und das bei einem »Benning«, dem angeb­li­chen Kassen­gift. Da kann man nur hoffen, dass Berlin Maßstäbe für die jetzt im Münchener Film­mu­seum statt­fin­dende Retro­spek­tive gesetzt hat).

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Einen Film von Benning zu sehen ist immer ein Erlebnis. Aber er ist ein Altmeister, dem der Ruf seiner Filme voraus­eilt, und eigent­lich keine wirkliche Entde­ckung mehr. Tirador dagegen, ein phil­ip­pi­ni­scher Filmvon einem Regisseur mit dem spre­chenden Namen Brillante Ma. Mendoza, der mit doku­men­ta­ri­schen Mitteln den Alltag von Klein­kri­mi­nellen in Manila insze­niert, war dieses Jahr die Entde­ckung im Forum des Jungen Films. Tirador ist ein Ensem­ble­film, der in losen Szenen und in schmut­zigem Hand­ka­mera-Stil ein Pandä­mo­nium zeichnet, in dem die Existenz der verarmten »Tiradors«, also derje­nigen, die sich als Taschen­diebe durchs Leben schlagen, immerzu ins Kata­stro­phale kippt. Es ist schon kaum erträg­lich mitan­zu­sehen, wie eine Gruppe von Jugend­li­chen Crack in einem Keller­ver­schlag raucht, während einer ein Baby auf dem Arm hält, das nicht aufhören will zu schreien. In der nächsten Szene aber liegt das Baby nackt in seiner Wohnung, von seinen Fäkalien umgeben, die Mutter betritt die Wohnung und entdeckt, dass das Kind seine eigene Scheiße frisst. Es gibt immer eine Stei­ge­rung in die Kata­strophe hinein. Oder wenn einer jungen Frau die gerade erhaltene Zahn­pro­these, die sie sich durch Prosti­tu­tion hart erar­beitet hat, beim Putzen in den Schlamm der Gosse fällt, und sie sie verzwei­felt und ohne Erfolgs­aus­sicht zu suchen beginnt. Meist werden die Szenen an diesen Tief­punkten abge­bro­chen. Hier geht eine Welt zugrunde und immer tiefer ins Chaos hinein. Und was der Film inhalt­lich insze­niert, wird formal äußerst konse­quent umgesetzt. Selten hat man unruhige Plan­se­quenzen, schnelle Schnitte und dichte Close-Ups ästhe­tisch so berech­tigt und richtig erlebt wie in Tirador.

Tirador wurde mit dem Caligari-Filmpreis ausge­zeichnet. Der Film ist ein kraft­volles Beispiel für das doku­men­ta­ri­sche Inde­pen­dent-Kino von den Phil­ip­pinen, das jungen Filme­ma­chern wie Khavn de la Cruz oder Raya Martin zu einer unge­se­henen inter­na­tio­nalen Aufmerk­sam­keit verholfen hat. Und er ist »Garagen«-Kino, der mit den einfachsten tech­ni­schen Mitteln und mit Laien­dar­stel­lern gedreht wurde, in provi­so­ri­schen Kino-Scheunen aufge­führt wird und von einer großen Lust zeugt, das Leben erzäh­le­risch auf die kata­stro­phale Spitze zu treiben. Er ist gesättigt von Wirk­lich­keit, von der realen Existenz der armen, über Jahr­zehnte vernach­läs­sigten und geschun­denen Bevöl­ke­rung, dessen Stil­mittel gewollte Effekte des Realen sind, um das Doku­men­ta­ri­sche in die Fiktion hinein­zu­bringen.

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Vor allem um emotio­nale Effekte ging es dagegen der Wett­be­werbs-Doku­men­ta­tion Standard Operating Procedure von Errol Morris. Sein Film befasst sich mit den skan­dalösen Folte­rungen, die im Jahre 2003 im Gefängnis von Abu Ghraib von US-Soldaten durch­ge­führt wurden, und die 2004 durch Fotos an die Weltöf­fent­lich­keit gerieten und eine Welle des tiefen Entset­zens hervor­riefen. Morris versam­melt die Folterer von damals, sofern sie ihm verfügbar waren (einige von ihnen sind noch in Haft und waren nicht befragbar), vor seiner Kamera. Er lässt sie schildern, wie es zu den Ernied­ri­gungen und dem Miss­brauch der iraki­schen Inhaf­tierten kam. Der Gefan­ge­nen­miss­brauch wurde ganz bewusst einge­setzt, um Geständ­nisse zu provo­zieren, so die einstigen Folterer, und sie hätten schon existiert, als sie im Gefängnis ihren Dienst antraten, hätten also „einfach dazu­gehört“. Was sie als system­im­ma­nent ausweist und damit auch nur zum „standard operating procedure“, zu einem Standard-Vorkommnis mache und zu einem Routine-Fall, wie er im Rahmen einer Haft nun einmal passiere, urteilte später das Tribunal, das über die Ausmaße der Folte­rungen Gericht hielt. Dem Unbe­greif­li­chen dieser Norma­lität geht Morris nach. Deutlich wird (und vom Gericht anerkannt ist), dass die damals sehr jungen und uner­fah­renen Solda­tinnen selbst zu Opfern des unter den Soldaten herr­schenden Macht­ge­fälles und damit zu unre­flek­tierten Mittä­te­rinnen wurden. Erstaun­lich ist, auch für die Prot­ago­nisten, dass überhaupt mit Fotos über die Folte­rungen Zeugnis abgelegt wurde, sie teilweise sogar mit drei verschie­denen Kameras doku­men­tiert wurden. Laut Aussagen von den Befragten, zu denen unter anderem Lyndie England gehört, wurden sie anfangs vor allem für das eigene Fotoalbum gemacht. Erst später, als sich die Folte­rungen immer weiter zuspitzten, bis zum Tod eines iraki­schen Gefan­genen, sollten die Fotos gezielt doku­men­tieren, dass in Abu Ghraib gefoltert wurde. Morris unterlegt die Zeugen­aus­sagen mit einem unheil­vollen Score, ganz, um das Schre­ckens­po­ten­tial der Berichte emotional noch weiter auszu­loten, als würden die Worte der Täter und Täte­rinnen nicht schon selbst das Entsetzen hervor­rufen können. Dies ist der sehr ameri­ka­ni­sche Doku­men­tar­stil, in dessen Fänge Morris leider tappt. Im Glauben nach der Wahrheit über die Ereig­nisse lässt Morris noch einmal im Staats­an­walt-Stil mittels der Fotos und Täter­be­richte die Gewalt­taten rekon­stru­ieren. Standing Operating Procedure aber ist trotz dieser ratio­na­lis­tisch-aufklä­renden Bemühung ein Horror-Film, ein wenn auch sorgsam reflek­tiertes, so doch äußerst unbe­hag­lich stim­mendes Snuff-Movie. In ihm tritt das eigen­ar­tige ikono­gra­phi­sche Potential der Fotos nochmals deutlich hervor, als ob dem Obszönen eine ureigene Symbol­kraft des Bösen inne­wohnte. Und gerade dies ist der imaginäre Über­schuss, der sich auch den aufklä­re­ri­schen Bemühungen von Morris entzieht. Die Wahrheit über die Taten, so Morris, ist auffindbar, durch die verglei­chende Analyse der Berichte und Fotos. Sein Film ist ein weiterer Beitrag zu den ameri­ka­ni­schen Aufklärungs­filmen über den »uncom­for­table truth«. Der tieferen, viel­leicht anthro­po­lo­gi­schen Wahrheit aber darüber, wie solche Hand­lungen passieren können und was diese Bilder in uns auslösen, wird auch in diesem Film nicht nach­ge­gangen. Übrig bleibt am Ende wieder nur das blanke Entsetzen und der Skandal.

Dunja Bialas