31.10.2007
Cinema Moralia – Folge 7

Zerdehnte Zeit

VIVERE
Vivere von Angelina Maccarone
(Foto: Stardust Filmverleih)

Vertrauensbildung durch Intensitätsstrategie, Angst und ihre Überwindung, ethnographische Correctness und die Sequelitis

Von Rüdiger Suchsland

Verrat an der Uckermark! Mein Gott, die Berliner Regis­seure die beuten die Uckermark so einfach aus. Sowas! Jetzt schlagen einzelne Film­kri­tiker endlich zurück und den Filme­ma­chern ihr Versäumnis um die Ohren. Nach Thomas Arslans Ferien bekommt nun Ann-Kristin Reyels in Kritiken zu hören, dass Land und Leute zuwenig in ihrem Film vorkommen, und dass Josef Hader als Öster­rei­cher erkennbar ist. Aber warum ist das eigent­lich schlimm? Wollen wir wieder Heimat­filme, oder möchte man jetzt auch ethno­gra­phi­sche Correct­ness?

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Unter Gebühr gewürdigt wurde auch der Film Vivere von Angelina Maccarone. Maccarone, Berliner Regis­seurin mit italie­ni­schen Ahnen, portrai­tiert darin drei Frauen, die die Liebe neu und dabei sich selbst entdecken. Mit viel Mut zu Zwischen­tönen erzählt sie eine warm­her­zige Geschichte aus drei Perspek­tiven, in denen jeweils eine der drei Frauen im Zentrum steht, und die auch deren subjek­tiven Wahr­heiten mit zeigt – so etwa sieht die gleiche gemein­same Szene unter­schied­lich aus, um die persön­liche Sicht der Figur wieder­zu­geben. Zwischen der ausge­brannten Gerlinde (Hannelore Elsner) und dem sorglosen Teenager Antoi­netta (Kim Schnitzer) begegnet man Francesca. Das sensible, beein­dru­ckende Spiel von Esther Zimmering in der Haupt­rolle aber macht diese zum emotio­nalen Zentrum des Films.
VIVERE spielt übrigens an einem Heilig­abend in Rotterdam. Trotzdem kommen keine Weih­nacht­männer und nur ein Holländer vor.

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Was ist ein Programm­kino? Und was ist ein Arthouse-Film? Die FFA – zur Erin­ne­rung: Das ist die »FilmFör­derAn­stalt« des Bundes – hat neulich ihre »Programm­ki­no­studie 2006« veröf­fent­licht (Unter www.ffa.de zum Download). In der Pres­se­mit­tei­lung heißt es unter der gutge­launten Über­schrift »Arthouse-Kinos im Aufwind« noch gutge­launter: »Größere Spielstätten, mehr Kino­be­su­cher – Arthouse-Kinos werden immer beliebter. … die bundes­weite Anzahl der Programm­ki­no­säle 2006 [ist] im Vergleich zum Vorjahr um 9,2 Prozent auf 660 Leinwände gestiegen. Auffal­lend ist dabei insbe­son­dere ein Anstieg der Spielstätten mit mehr als einem Kinosaal: Ende 2006 verfügen bereits 78 Prozent aller Programm­kinos über mehr als eine Leinwand. Auch beim Publikum der Programm­kinos ist ein Aufwärts­trend zu beob­achten. So konnte das Arthouse-Segment im vergan­genen Jahr mit einem zwei­stel­ligen Besu­cher­plus von 17,7 Prozent aufwarten und liegt damit deutlich über dem bundes­weiten Besu­cher­an­stieg von 7,4 Prozent.«

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So weit, so halbrichtig. Denn wenn man genauer hinschaut, sieht man, dass sich »Programm­kino« inzwi­schen auch Spielstätten schimpfen, die vor nicht langer Zeit noch den üblichen 08/15-Hollywood-Trash gespielt hätten. Und auch Cineplexe spielen Arthouse­filme, weil Hollywood so schlecht läuft.
Zweite Frage ist, ob denn das wirklich alles Arthouse­filme sind, was die FFA so nennt? Noch einmal die Studie: »Das Leben der Anderen, Wer früher stirbt ist länger tot und Deutsch­land. Ein Sommer­mär­chen – gleich drei deutsche Filme erklärten die Programm­ki­no­be­su­cher laut FFA-Studie im vergan­genen Jahr zu ihren absoluten Favoriten.« Noch Fragen?

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Bourne 3, Piraten Der Karibik 3, Shrek 3, Spider-Man 3 , Stirb langsam 4, Ocean’s 13Harry Potter 5, der auf fünften Mal auf dem Besen über die Kino­lein­wände reitet, ist nur die Spitze eines Eisbergs. In den Kinos der Welt ist in diesem Sommer endgültig die Seque­litis ausge­bro­chen, die Fort­set­zungs­manie. Und 2007 ist das Jahr der dritten Teile.
Nicht immer sind da aller guten Dinge wirklich drei. Etwa Shrek der Dritte langweilt viele Fans der ersten Teile. Weil man es vermeint­lich aber eben trotzdem »gesehen haben muss« sind solche Fort­set­zungen aber wirt­schaft­lich eine sichere Bank für die ange­schla­genen Groß-Studios, denen zuletzt an den Kino­kassen oft die Felle wegschwammen.
Zudem lockt das Publikum die wohlige Sicher­heit in der Unüber­sicht­lich­keit des Lebens. Man glaubt, beim Sequel nicht die Katze im Sack zu kaufen, sondern zu wissen, was einem im Kino bevor­steht.

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»Harry Potter« ist einfach eine Marke. Dann gibt es halt Nummer 3 und 5 und 7. Man weiß dann schon: Folge 3 wird ziemlich ähnlich sein wie Folge 1 und 2 und man sucht diese Ähnlich­keit auch wieder. Man sucht Vertraut­heit, man sucht Wieder­ho­lung. Es ist eine Sehnsucht nach einer Ritua­li­sie­rung damit verbunden und damit, dass es Teil von einem wird. Das es zu einem gehört. – so kommen­tiert kühl der Kultur­wis­sen­schaftler Wolfgang Ullrich von der Karls­ruher Hoch­schule für Gestal­tung. In seinem Buch »Haben­wollen. Wie funk­tio­niert die Kons­um­kultur?« (S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2006) hat er zuletzt auf die Ähnlich­keiten von Kunst­be­trieb und Warenwelt hinge­wiesen. Und Filme, und nicht nur sie, sind, so Ullrich eine Marke: »Marke heißt Vertrau­ens­stif­tung. Ich weiß genau, was mich erwartet, ich muss nicht Angst haben, dass es der große Flop wird. Natürlich: Wenn das Marketing es schafft, mit einer Marke wieder entspre­chende Phan­ta­sien zu verbinden, dann heißt das, dass ich entspre­chende Phan­ta­sien erzählt bekomme, dann bin ich besonders cool oder trendy. Deshalb: Wenn ich dann jedes Jahr wieder so nen Harry Potter Film konsu­miere, kann das, was mit dieser Marke verbunden ist, auch auf mich über­tragen. Das ist nicht nur irgend ein Stück Kultur. Es gehört zu mir. Damit ist es eine Inten­si­täts­stra­tegie, wenn man diese Fort­set­zungen schafft.«

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Der derzei­tige Boom der Sequels im Kino ist aber darüber hinaus auch Indiz für einen grund­sätz­li­chen Struk­tur­wandel der Film­in­dus­trie: Block­buster werden Franchise-Produkte und funk­tio­nieren wie ein Label. Der Begriff des Fran­chi­sing passt hier auch deshalb, weil die genannten Filme immer nur eine (und nicht immer zentrale) Säule in einer ganzen Produkt­pa­lette sind: für DVD’s und Fernseh-Rechte, Sound­tracks und Compu­ter­spiele, Figuren und anderes Spielzeug, Klamotten, Fast-Food- Happy Meals, etc sind sie vor allem gehobene Werbe­trailer. Und Analog zur Kolo­ni­sie­rung der Innen­s­tädte mit Franchise-Unter­nehmen wie zum Beispiel McDonalds, H&M, Saturn, werden auch immer mehr Kinos von immer weniger Filmen erobert – und über Wochen dominiert. In einem Multiplex läuft derselbe Film oft in drei, vier Kinos zugleich.

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Die »Seque­litis« und der Fran­chise­boom sind zugleich Ausdruck eines grund­le­genden Wandels unserer Kultur. Auch Best­sel­ler­au­toren werden zunehmend zur Marke, und wenn zum Beispiel das das Guggen­heim-Museum inzwi­schen sechs Filialen besitzt, der Louvre in Abu Dhabi eine Depen­dence aufmacht, oder das New Yorker MoMa über den Sommer in Berlin seine Impres­sio­nisten zeigt und dabei immer darauf achtet, dass der Name MoMa nicht vergessen wird, so ist das auch nichts prin­zi­piell anderes.
Auch die Kunst globa­li­siert sich, und eine bekannte Marke bedeutet hier Umsatz­ga­rantie. Und während die Macher ideenarm und risi­ko­scheu lieber auf die sichere Bank setzen, ob Impres­sio­nisten oder Harry Potter, ist auch das Publikum zufrieden: Wenn sich das Immer­gleiche wieder­holt, ist man immerhin vor störenden Über­ra­schungen gefeit – aller­dings auch vor Entde­ckungen. Doch irgend­wann geht es auch mit Harry Potter zuende und mit Ocean 22 muss man wahr­schein­lich nicht rechnen.

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Die Treppe in Odessa. Gesichter in Groß­auf­nahme von Klagenden, Ster­benden, Blutü­ber­strömten. Die zerschos­sene Brille. Das schrei­ende Kind, nieder­ge­tram­pelt von herz- und gesichts­losen Kosaken. Der Kinder­wagen, der furchtbar langsam, aber immer schneller die Stufen hinun­ter­rollt. Die drei stei­nernen Löwen, die sich schnell hinter­ein­an­der­ge­schnitten, zu erheben scheinen. Die riesigen Kano­nen­rohre des Panzer­kreu­zers, in die die Kamera hinein­blickt. Die Fahne, deren gleißendes Rot das Schwarz­weiß des Films förmlich zerreißt. Jeder hat ein paar dieser Bilder im Kopf, seit Sergej Eisen­steins Panzer­kreuzer Potemkin im Januar 1926 im Moskauer Bolschoi-Theater urauf­ge­führt wurde, und von da an um die Welt ging.
Eine Inten­si­täts­stra­tegie anderer Art: Eine Kino-Ikone, der Prototyp für sugges­tive Montage, für absolut moderne, an Foto­grafie und Malerei der europäi­schen Avant­garde geschulte Kame­ra­auf­nahmen und ein revo­lu­ti­onäres Massen­kino, das zumindest scheinbar den Gegentyp der schon damals senti­men­ta­li­sie­renden indi­vi­dua­lis­ti­schen Holly­wood­storys bildete.

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Sieht man noch einmal hin, erkennt man, dass auch Eisen­stein seine Massen immer indi­vi­dua­li­siert, dass es Personen mit Einzel­schick­salen sind, die hier fürs Allge­meine stehen. Und auch künstlich erzeugte, jeden­falls mani­pu­lierte Gefühle sind Eisen­stein nicht fremd. Dieser Regisseur kannte alle Tricks, und neben vielem anderen ist Panzer­kreuzer Potemkin ein erstaun­lich cooler Film.
Jetzt hat Transit Classics in einer »Deleuxe Edition« die zur Zeit beste Rekon­struk­tion des Films besorgt – in hervor­ra­gender Bild- und Tonqua­lität mit Ernst Meisels Musik der deutschen Fassung, die im Gegensatz zu den drei russi­schen Verto­nungen in Zusam­men­ar­beit mit Eisen­stein entstand (Sergej Eisen­stein: Panzer­kreuzer Potemkin. Das Jahr 1905; UdSSR 1925; Rekon­stru­ierte Fassung mit neube­ar­bei­teter Musik; Transit Classics – Deleuxe Edition). Das Bonus­ma­te­rial besteht aus einem ziemlich infor­ma­tiven Booklet und einer Doku­men­ta­tion, die dagegen doch eher etwas für Spezia­listen ist, sich arg mit Fein­heiten der Restau­ra­tion aufhält und dabei das Ganze des Films etwas aus dem Blick verliert.

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»Rhythmus, Rhythmus, Rhythmus« – so hieß das künst­le­ri­sche Credo, nach dem Eisen­stein seinen Film in aus heutiger Sicht unglaub­li­chen nur sechs Monaten in der zweiten Jahres­hälfte 1925 schrieb, drehte und schnitt. Es war Eisen­steins zweiter Film nach STREIK, und der Regisseur beherrscht seine Mittel perfekt: Bilder nahe der Abstrak­tion, die die Welt in Linien und Muster gliedern, schräge Perspek­tiven, vor allem ein Schnitt, der die Zeit zerdehnt bis sie zu reißen scheint, und damit auch das Modell für Hitchcock und alle ihm nach­ei­fernden Suspense-Thriller bildet.

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Ein Propa­gan­da­film? Man schreibt das so leicht hin. Die Bilder selbst zeigen etwas anderes. Sie zeigen einen Film über Angst und ihre Über­win­dung. Und über die mora­li­sche Frage, ob Truppen aufs eigene Volk schießen dürfen und Soldaten auf ihre Kameraden.

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Noch einmal Wolfgang Ullrich: »Es gibt zwei Tendenzen. Das hat natürlich eine Unifor­mie­rung zur Folge. Franchise gibt es klare Regeln… Es gibt ande­rer­seits genauso die Tendenz, dass die Künstler aus spezi­fi­schen Regionen eine besondere Chance haben Anselm Kiefer ist das Label für deutsche Kunst in Amerika oder Jeff Wall regis­trieren wir hier als den großen Kanadier. Grade das Regionale, Lokale oder das Indi­vi­du­elle … das hat auch seine Faszi­na­tion.«

(To be continued)

Rüdiger Suchsland