Argentinien 2014 · 122 min. · FSK: ab 12 Regie: Damián Szifrón Drehbuch: Damián Szifrón Kamera: Javier Julia Darsteller: Darío Grandinetti, Osmar Núnez, Leonardo Sbaraglia, Ricardo Darín, Erica Rivas u.a. |
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Rache und Anarchie der Braut – der Einfluss von Almodóvar ist sichtbar |
Ein Geier, ein Haifisch, ein Gorilla, ein Löwe – eine Abfolge dieser und vieler anderer Tiere, mit stolzem Blick in ihrer natürlichen Umgebung sieht man zu Beginn des Films, während die Darstellernamen über die Leinwand flimmern. Wir sind alle wilde Tiere – unter anderem dies sagen uns die Bilder. Denn dieser Film ist zwar eine Komödie, sehr sehr lustig, wie es sein muss, die sich aber auch immer wieder zur schrillen Groteske steigert. Sie erzählt von amoklaufenden Autofahrern, einer mordlustigen Köchin und einem traumatisierten Künstler.
Anfangs scheint alles zu sein wie immer im Kino: Romina und Ariel, Braut und Bräutigam, küssen sich, die Familien und Freunde haben sich nach der Kirche in einem schicken Restaurant versammelt, die ersten Gänge des Hochzeitsmahls werden aufgetragen. Es drohen lange Reden von Vätern und anderen Gästen, der gemeinsame Walzer der Brautpaares, das Anschneiden der Hochzeitstorte. Alles schon hundertmal gesehen, im Kino noch öfters als in Wirklichkeit. Doch noch nie, jedenfalls nicht seit Robert Altmans A Wedding, ist im Kino eine Hochzeit derart vollkommen aus dem Gleis geraten, wie diese jüdische Hochzeit in Argentinien.
Durch Zufall und genaue Beobachtungsgabe erfährt Romina nämlich mitten auf der Feier, dass ihr frisch Angetrauter erst kürzlich mit einer Bürokollegin ins Bett ging – und dazu auch noch die Frechheit hatte, diese zur Hochzeit einzuladen. Erschüttert, zugleich fest entschlossen, sich die Party nicht verderben zu lassen, nimmt die Braut Rache: Sie tanzt in höllischem Tempo mit allen möglichen Gästen, und befördert dabei »ganz zufällig« den ungeliebten Hochzeitsgast ins Krankenhaus. Irgendwann schläft sie auf der Dachterasse mit dem vollkommen überrumpelten Koch, und vor allem macht sie ihrem Gatten in wenigen Stunden klar, wer in Zukunft zuhause das Sagen hat. Bestechend ist Erica Rivas in der Rolle der schönen, ungemein energiegeladenen Braut, in der sie wie die legitime Nachfolgerin von Anna Magnani wirkt.
Als das in diesem Film passiert, ist der Zuschauer schon auf alles gefasst. Denn diese Hochzeit ist nur die letzte und allerbeste Geschichte von Wild Tales – Jeder dreht mal durch! (Relatos salvajes), einer so geistreichen wie in ihren Facetten unerwarteten Komödie, die in mehreren überaus schrägen Episoden ein Panorama des modernen Argentinien bietet – aber nicht nur Argentiniens, sondern der ganzen Welt: Wild Tales ist eine Comedie Humaine, die ein Bild des ganzen Lebens bietet, seiner alltäglichen Absurditäten und Ungerechtigkeiten.
Auf diskrete und unaufdringliche Weise wird hier toughe, abgründige, zugleich sehr sehr lustige und kompromisslose Kritik an unser aller Gegenwart geübt.
Alle sechs Episoden handeln auf die eine oder andere Art von Rache, mal ausgetüftelt, meist spontan. Alle sechs schildern sonderbare Begegnungen von ungleichen Menschen. Autos, die Druckkammern des Normalmenschen, spielen in gleich drei von ihnen eine zentrale Rolle. In einer versucht eine reiche Familie, die Unfallfahrt ihres Sohnes zu vertuschen. Der Chauffeur soll die Schuld übernehmen. In einer zweiten bekämpfen sich zwei egomane Autofahrer auf einer einsamen Landstraße bis
aufs Blut – wortwörtlich.
In der dritten wird einem von Argentiniens Star Ricardo Darin gespielter Familienvater immer wieder der Wagen abgeschleppt. Konfrontiert mit der sturen Absurdität des bürokratischen System weiß der Sprengstoffexperte irgendwann nur noch einen Ausweg: Er setzt sich mit Dynamit-Stangen zur Wehr.
Die einzelnen Teile ergeben trotzdem ein Ganzes. Alles wird vereint durch die Haltung des Films, die respektlos und subversiv die Welt nicht mehr ernst nehmen will, sondern sie als Narrenschiff zeigt, das mit Zynikern und Charaktermasken beladen ist. Dabei ist alles psychologisch recht triftig – dieser Film zeigt keine Karikaturen, sondern Menschen aus Fleisch und Blut.
Wild Tales ist ein amoralischer Riesenspaß im Hier und Jetzt, eine schrille Groteske in karnevaleskem Stil, dabei überaus originell in Ton und Haltung. Dies ist eine moderne Komödie, eine bitterböse schwarze Farce, die sich traut, die Dummheit und Niedertracht ihrer Figuren mal nicht mehr menschelnd aufzufangen, wie es zum Beispiel ein Woody Allen immer tut – und es sich sich deutsche KritikerInnen immer wünschen, um dann einen weiteren Besinnungsaufsatz über dessen Humanismus und nachsichtige Milde schreiben zu dürfen. Dieser Film ist so fies, wie es den Figuren und ihrem Benehmen gebührt, und er entlarvt nebenbei die Behauptung, ein guter Film müsse seine Figuren lieben, als leeres Gerede.
Regie führte der bislang international fast völlig unbekannte Argentinier Damián Szifrón. In Wild Tales, seinem ersten Spielfilm nach zahlreichen TV-Serien, zeigt er seine Klasse, kombiniert Slapstick mit Wortwitz, Situationskomik mit Anarchie. Damit hat er es im letzten Frühjahr sofort in den Wettbewerb von Cannes geschafft, wo dieser Film zur Überraschung des Jahres wurde. Szifrón ist zuhause mit »Los Simuladores« bekannt geworden, einer Serie,
die das argentinische Fernsehen revolutionierte. Ganz bestimmt wird man noch von diesem Regisseur hören. Produziert haben den Film Pedro Almodóvar und dessen Bruder, und auch dieser Einfluss ist spürbar.
Denn manchmal erinnert Wild Tales an die übersprudelnden, barock-übervollen, »verrückten« Komödien Almodóvars aus den 80er und 90er Jahren. Immer wieder dreht der Regisseur den Spieß um und tanzt auch mit dem Publikum einen höllischen Walzer.