Wendy and Lucy

USA 2008 · 80 min. · FSK: ab 6
Regie: Kelly Reichardt
Drehbuch: ,
Kamera: Sam Levy
Darsteller: Michelle Williams, Walter Dalton, Will Oldham, Larry Fessenden, John Robinson u.a.
Wendy trotzt den Verhältnissen

Prekäre Freiheit

Kelly Reichardt zeigt das Amerika der Ränder

Eine junge Frau geht über eine grüne, frisch­ge­mähte Wiese, begleitet von einem Hund. Sie summt leise vor sich hin, und ihr Summen ist die einzige Musik, die wir hören werden. Die Kamera folgt beiden ein paar Minuten, langsam von links nach rechts streifend, und fängt so gleich das unge­wöhn­liche Paar des Titels ein. Woher die junge, burschi­kose, zugleich entschlossen und unsicher wirkende Wendy und ihr Hund, der Mischling Lucy kommen, wird nie genau gesagt. Ganz klar ist nur, wohin sie wollen: Nach Alaska, wo es zwar schon lange kein Gold mehr, aber immerhin noch Arbeit gibt. Hier, in einem Nest irgendwo in Oregon, sind beide nur auf der Durch­reise.

Dann geht das Auto kaputt, und sie müssen einen Weile bleiben. Später verliert Wendy Lucy, und versucht zunehmend verzwei­felt, den Hund wieder­zu­finden. Es ist ein wunder­barer Auftritt von Michelle Williams, der das Zentrum dieses Films bildet. Herz­zer­reißend ist immer wieder der Ausdruck auf ihrem Gesicht, gerade weil sie sich nicht gehen lässt, immer wieder zu Geduld zwingt, nicht betteln und nicht weinen will – und sich doch das, was sie alles nicht tut, in ihrem Gesicht abzeichnet.

Die Regis­seurin Kelly Reichardt, einer der aufstei­genden Sterne des US-Inde­pen­dent-Kinos, erzählt von der Freiheit jener, denen die Welt offen­steht, denen aber jedes Sicher­heits­netz fehlt. Wendy hat nur ihr Auto, das jetzt kaputt ist, und ein paar hundert Dollar in der Tasche. »Du hast keine Chance, also nutze sie« – der flotte Sponti-Spruch geht einem nach diesem Film nicht mehr ganz so leicht über die Lippen.
Neben dieser prekären Freiheit zeigt Reichardt das auch vom Inde­pen­dent-Kino oft über­se­hene Amerika der häss­li­chen Ränder: der ausran­gierten Bahn­stre­cken, der leeren Park­plätze, der Müll­kippen, der Super­markt­ver­la­de­stellen. In Zaum gehalten wird es von einem anderen, zweiten Amerika: dem der Sicher­heits­leute, Poli­zisten, ungnä­digen Park­wächter, über­eif­rigen Verkäufer, die nur ihre Regeln kennen, aber nicht mehr deren Sinn, und skru­pel­losen Auto­händler. Kalt, aber vor allem unendlich müde und still, ohne jeden Glamour, statt­dessen erschöpft, erscheint dieses Land, und auch Wendy, die auf ihre stille Art voller Energie und Leben ist, prallt an dieser Erschöp­fung ab. Die Großzügig­keit, die in schlichter Mitmensch­lich­keit liegt, reprä­sen­tiert hier nur noch ein alter Park­wächter, ein Übrig­ge­blie­bener aus dem ameri­ka­ni­schen Jahr­hun­dert. Ansonsten herrschen Krämer­geist und Effi­zi­enz­denken, und effizient war Humanität noch nie.

So gesehen erzählt Wendy and Lucy einfach von Obdach­lo­sig­keit und ja, es wäre jetzt sehr leicht, den Film als Menetekel in Zeiten der Banken­krise zu deuten, als Erzählung, was einem passiert, wenn man rausfällt aus dem »sozialen Netz«, und so gesehen ist es natürlich nicht allein die USA, die hier gezeigt wird, sondern die neueste Ausfor­mung der modernen Gesell­schaft als solche.

Aber da ist doch mehr: eine Poesie der Zurück­hal­tung; sanft und eindring­lich, sachlich und ohne Nostalgie. Eine sehr freie, direkte Form des Filme­ma­chens, die in ihrer schlichten Lust am Beob­achten, ihrem Cinema-Verité-Touch, auch an die Filme des Kanadiers Denis Coté denken lässt.

Wendy and Lucy ist ein mate­ria­lis­ti­scher Film, in dem Sinn, dass er sich ganz auf die Basis des Lebens besinnt, auf Essen, Trinken, Schlafen, auf Wärme und Kälte. Man spürt dies alles ganz konkret und sinnlich in diesem Film, während der Überbau, in diesem Fall der ameri­ka­ni­sche Traum, kaum vorhanden ist, nicht als Ruine, aber auch nicht in Spuren­ele­menten der Hoffnung – es sei denn man möchte das Ende des Films so verstehen. Da springt Wendy, nachdem sie fast alles verloren hat, in einen fahrenden Güterzug, und rollt zwischen Holz­sta­peln im Dreck in die Nacht, gen Alaska. Damit zitiert Reichart ein filmi­sches Zeichen aus der Zeit der Großen Depres­sion, als die Tramps und Wander­ar­beiter zu Tausenden auf Güterzüge aufsprangen und so illegal übers Land fuhren, von Gele­gen­heits­ar­beit zu Gele­gen­heits­ar­beit, und als das seiner­zeit noch sozial enga­gierte Hollywood dezidiert Partei für sie nahm, selbst in Komödien wie Preston Sturges Sullivan’s Travels. Die Hoffnung auf Besserung, die unaus­ge­spro­chen in diesen Augen­bli­cken liegt, mag uns trösten. Aber das Bild selbst sagt nicht mehr als: Weg, nur weg!