Was Du nicht siehst

Deutschland 2009 · 92 min. · FSK: ab 12
Regie: Wolfgang Fischer
Drehbuch:
Kamera: Martin Gschlacht
Darsteller: Ludwig Trepte, Frederick Lau, Alice Dwyer, Bibiana Beglau u.a.
Im Pool des Nachbarn

Drei sind einer zuviel

Sommer­spiele: Ein Psycho­thriller als Meis­ter­werk des Under­state­ment

Langsam, in sanfter Bewegung fährt die Kamera nach vorne. Ein Sehn­suchts­blick auf ein kühl-graues roman­ti­sches Nebelmeer, so scheint es für einen ganz kurzen Moment, bevor er nach unten abknickt, taumelt, und einen Blick in den Abgrund öffnet. Diese abgrün­dige erste Kame­ra­fahrt erzählt in gewisser Weise schon die ganze Geschichte dieses Films. Was Du nicht siehst heißt er, wie ein Kinder­spiel, aber darum handelt es sich keines­wegs, und mit seinen 17 Jahren ist die Haupt­figur Anton eigent­lich schon zu alt zum Spielen. Mit seiner Mutter und deren neuem Freund reist er in den Urlaub in die Bretagne. Eine Patchwork-Familie, deren nicht ganz perfekte Bezie­hungen von der rauen Land­schaft Nord­west­frank­reichs gespie­gelt werden, mit ihrer mal schroffen, mal lieb­li­chen Küste, mit den diffusen Dünen in denen sich unver­hofft alte Welt­kriegs­bunker auftun, wie fremde Raum­schiffe, die aus einer anderen Galaxie gelandet sind und erinnern, dass es ein Jenseits der Gegenwart gibt. Vieles ist hier Zeichen, und fast alles hat mehr als eine Bedeutung in diesem Film, der zwar ein Debüt ist, aber von großer Reife in der Weise, wie hier Bilder gemacht werden (Kamera: Martin Gschlacht) und von Menschen erzählt wird, die nicht leicht zu fassen sind, die sich selbst nicht fassen können.

»Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwin­delt einem, wenn man hinab­sieht« schrieb Büchner, und dieses Abgrün­dige im Mensch­li­chen ist es, das den Regisseur Wolfgang Fischer ganz offen­kundig inter­es­siert. Fischer studierte Psycho­logie und Malerei, eine unge­wöhn­liche Kombi­na­tion für einen Film­re­gis­seur, die aber seinem Debüt sehr zugute kommt, das elegant die Waage hält zwischen Menschen­be­ob­ach­tung und einer dichten Atmo­s­phä­ren­ge­stal­tung.

Die drei, Stief­vater, Mutter, Kind, beziehen ein hübsches Feri­en­haus nahe der Küste. Bald lernt Anton auch die Nachbarn kennen, Katja und David, ein Geschwis­ter­paar, das dort am Pool den Sommer verbringt, und mit denen er bald unzer­trenn­lich wird. Drei sind aber gleich mehrfach einer zu viel in diesem Sommer­spiel, das bald rätsel­hafte Züge entfaltet und eskaliert. Es gibt ein paar Anklänge an die Thriller von Haneke oder an Lynch. Und wie bei diesen Regis­seuren treibt auch Fischers Film manchmal ein Spiel mit den Zuschauern, das diese nicht gewinnen können, weil der Film ihnen immer zwei Schritte voraus ist.

Doch in seiner zweiten Erzähl­schicht handelt alles von anderen Dingen: Denn es ist eigent­lich egal, was von diesen Nach­bars­ge­schwis­tern zu halten ist, wichtig ist das, was sie für Anton verkör­pern und was ihm auf seiner alptraum­haften Odyssee durchs Zwielicht passiert, die zugleich eine Reise ins Terrain des Erwach­sen­wer­dens, des sexuellen Erwachens und der subtilen Verfüh­rung ist: In dem wilden ruchlosen David trifft dieser nette, sehr bürger­liche Sohn auf einen Widerpart, der zugleich auch eine Wunsch­vor­stel­lung verkör­pert. Mit Nietzsche kann man hier vom Apol­li­ni­schen und Diony­si­schen sprechen. Einmal gehen die drei Gleich­alt­rigen zusammen in den Wald. Diffus fällt das Licht durch die Baum­wipfel, lässt sie sattgrün leuchten, während Dunst­schwaden aus der Sumpf­land­schaft aufsteigen. Die zwei Jungen und das Mädchen lachen, raufen, lassen sich für einen Augen­blick einfach fallen. Eine seltsame, märchen­hafte Unbe­fan­gen­heit liegt über diesem Geschehen, die Ahnung eines »Zurück zur Natur« – der Wald ist hier wie in Malicks Badlands ein magischer, von para­die­si­scher Unschuld geprägter Ort. Doch dann wird er auch zum Platz der Entschei­dungen und der Erkenntnis, und der Angst. Überhaupt weiß Fischer, wie man in Bildern erzählt, und dass man im Kino nicht alles zerreden darf, oder auspsy­cho­lo­gi­sieren, sondern dass gerade die Unge­wiss­heit ins Innere der Seele führt. Und weil dies am Ende primär ein Film über Angst ist, sieht man irgend­wann auch Antons ödipale Bindung an seine Mutter in anderem Licht. Sie, von Bibiana Beglau gespielt, wirkt hier wie die Königin einer antiken Tragödie. Vor ihr agieren mit Alice Dwyer, Ludwig Trepte und Frederick Lau drei der inten­sivsten und viel­sei­tigsten Darsteller der jungen Gene­ra­tion.

Das Spiel des Titels dreht sich um etwas, was alle sehen, aber in seiner wahren Bedeutung nicht erkennen können. Déjà-vu kann in diesem Spiel nur radikale Verun­si­che­rung bedeuten. So ist Fischer ein kleines Meis­ter­werk des Under­state­ment gelungen. In seinem Spiel mit Mehr­deu­tig­keiten und wilder (Natur-)Symbolik erinnert er an einen verges­senen Teil unserer Film­ge­schichte, an die Sehge­wohn­heiten des expres­sio­nis­ti­schen Kinos, die uns verloren gegangen sind. Was Du nicht siehst ist ein Vexier­spiel, das Bilder entwirft, die im gleichen Augen­blick immer etwas enthüllen und etwas verbergen, ein Psycho-Thriller, wie man ihn zu selten sieht im deutschen Kino und gern mehr sehen würde.