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The Girl with the Dragon Tattoo

USA 2011 · 158 min. · FSK: ab 16
Regie: David Fincher
Drehbuchvorlage: Stig Larsson
Drehbuch:
Kamera: Jeff Cronenweth
Darsteller: Daniel Craig, Rooney Mara, Robin Wright, Stellan Skarsgård, Christopher Plummer u.a.
Pippi Langstrumpf als Cyberpunk

»Warum vertrauen die Leute nicht ihren Instinkten?«

»Wenn ein Mann oder Weib ein Wahrsager oder Zeichen­deuter sein wird, die sollen des Todes sterben. Man soll sie steinigen; ihr Blut sei auf ihnen.«– 3. Buch Mose (Levitikus) 20, Vers 20

Eine zweite Verfil­mung von Stieg Larssons Mill­en­nium-Trilogie nur wenige Jahre nach der ersten hätte die Welt viel­leicht nicht gebraucht. Nur Hollywood braucht sie. Aber wenn schon, dann ist David Fincher der perfekte Regisseur für diesen Stoff. Mit den Augen des Voyeurs, der er ist, blickt er auf sie, und lässt sich auf die Grau­sam­keit, den grund­sätz­li­chen Pessi­mismus und die emotio­nale Achter­bahn­fahrt der Vorlage ein. Der am Ende gewich­tigste Einwand gegen diese Reflexion des Zusam­men­hangs von Gewalt und Erkenntnis ist, dass der Zuschauer zu sehr auf der sicheren Seite bleibt. Vorher ist der Film vor allem gutes Kino, Main­stream plus X, also deutlich über das hinaus­ge­hend, was der brave Durch­schnitts­ki­no­gänger so im Kino erwartet, aber die Grenzen dessen auch nicht sprengend. Dabei hätte Fincher die Fähigkeit, uns Zuschauern mehr zuzumuten, als wir sehen möchten, uns etwas über uns selbst zu lehren. So bleibt nur die Einsicht in die fließenden Übergänge zwischen demo­kra­ti­scher bürger­li­cher Gesell­schaft und Faschismus. Diese ist nicht neu, aber für Hollywood-Main­stream doch immer noch eine Menge.

Ein eleganter Vorspann zeigt Schwarz auf Schwarz. Dunkler Lack, Leder, Gummi, ölige, in ihrer Form zunächst unde­fi­nier­bare Körper mit einer Schuppen oder Echsen­haut ähnelnden Ober­fläche, erinnern an die abstrakte Malerei des Franzosen Pierre Soulage und chan­gieren minu­ten­lang zwischen Mensch, Tier und Pflanze. Ein Eindruck von Sinn­lich­keit vermischt mit dem der Gefahr. Dazu läuft eine Cover­ver­sion von Led Zeppelins ''Immigrant Song. Die Themen Verwand­lung, Verpup­pung und Entpup­pung werden hier unauf­dring­lich aber bildstark berührt, und man kann die Entwick­lungen gleich mehrerer Figuren des Films unter diesen Vorzei­chen verstehen.

Dann wird chro­no­lo­gisch erzählt, wie der alte Multi­mil­lionär und Fami­li­en­pa­tri­arch Hendrik Vanger (Chris­to­pher Plummer) den bekannten inves­ti­ga­tiven Jour­na­listen Mikael Blomkvist engagiert, einen melan­cho­li­schen Anti­ka­pi­ta­listen, der vorzugs­weise im Milieu der Reichen und Mächtigen Schwedens recher­chiert und deren düstere Geheim­nisse zutage fördert. Durch einen verlo­renen Verleum­dungs­pro­zess verwundbar geworden, soll Blomkvist – unter dem Vorwand, eine Chronik über diese Familie abzu­fassen, die einst mit Stahl und Holz reich wurde, die Eisen­bahnen baute und heute von Dünger lebt –, den Fall von Vangers Nichte Harriet recher­chieren, die vor über 40 Jahren spurlos verschwand. Dazu zieht er auf die Privat­insel des Vanger-Clans – eine eiskaIte Hölle im hohen Norden. Im Zuge seiner Ermitt­lungen beginnt Blomkvist die Zusam­men­ar­beit mit der jungen Priva­ter­mitt­lerin Lisbeth Salander – einer vielfach gepiercten Hackerin mit Punk­outfit. Parallel zu Blomkvists ersten Recher­chen hatte der Film bereits deren vorhe­riges Schicksal erzählt: Die wieder­holte Verge­wal­ti­gung durch den Vormund, an dem sie alttes­ta­men­ta­ri­sche Rache nimmt, und diverse Kind­heits­trau­mata, die erst in den folgenden Romanen von Stieg Larssons Mill­en­nium-Trilogie aufgelöst werden. Beider Fähig­keiten ergänzen sich, gemeinsam mit Salander gelingt der Durch­bruch, und die Entde­ckung mehrerer Kapital-Verbre­chen im doppelten Sinn: Die Ermittler kommen einer Mordserie auf die Spur, der seit den 1940er Jahren Frauen zum Opfer fielen. Bald wird deren anti­se­mi­ti­scher und christ­li­cher Hinter­grund klar, den der Origi­nal­titel von Buch wie schwe­di­schem Film (»Männer, di$e Frauen hassen«) deut­li­cher macht, als seine verschlei­ernd diffuse deutsche Abschwächung Verblen­dung, oder die ameri­ka­ni­sche Poeti­sie­rung The Girl With The Dragon Tatoo.

Gewalt und Erkenntnis

Ein vor langer Zeit verschwun­denes Mädchen, Korrup­tion und Verrat, Behör­den­skan­dale, die vertuschten Nazi-Sympa­thien mancher Schweden, und mitten­drin zwei ungleiche Ermittler, die Licht in all dies Dunkel zu bringen suchen, und dabei doch nicht zuletzt mit ihren eigenen, privaten Traumata wie beruf­li­chen Problemen zu kämpfen haben – der erste Band der »Mill­en­nium«-Trilogie, ist wie die Folge­ro­mane einer der großen Best­seller der letzten Jahre. Und da Holly­woods Gier nach frischen Ideen derzeit uner­sätt­lich scheint, über­rascht es nicht wirklich, dass auch dieses schwe­di­sche Krimiepos nur wenige Jahre nach seiner einhei­mi­schen Verfil­mung und trotz deren inter­na­tio­nalem Erfolg jetzt schon neu verfilmt wurde.

Eher über­ra­schend war es, dass der Film auch in der Holly­wood­ver­sion und trotz US-Darstel­lern weiterhin in Schweden spielt, und dass sich David Fincher für diesen Stoff inter­es­sierte. Zwar sind spätes­tens seit Zodiac (2007) die Zeiten vorbei, in denen man von jedem Fincher-Film noch eine glei­cher­maßen präzise wie über­ra­schende Deutung unserer Gegenwart erwartet, erhofft, dass man nach dem Kino­be­such mit anderen Augen auf die eigenen Verhält­nisse blickt, wie das einst bei Sieben (1995) der Fall war, bei The Game(1997) und bei Fight Club (1999). Aber auch wenn Fincher im zurück­lie­genden Jahrzehnt deutlich an provo­ka­tiver Energie, künst­le­ri­scher Radi­ka­lität und Origi­na­lität verlo­renen hat, ist der 1962 geborene Regisseur immer noch einer der besten und inter­es­san­testen Filme­ma­cher seiner Gene­ra­tion. Und tatsäch­lich bietet Verblen­dung doch eine ganze Menge, und wirkt nach nur kommer­ziell erfolg­rei­chen, stilis­tisch konven­tio­nellen Werken wie Der seltsame Fall des Benjamin Button und The Social Network für Fincher fast wie die Rück­wen­dung zu eigenen Ursprüngen. Denn Finchers Filme gingen anfangs immer unter die Haut, sein Interesse galt der Erfor­schung des Unbe­wussten seiner Gegenwart: ihrer unaus­ge­spro­chenen Ängste und heim­li­chen Begierden – und der Rolle, die deren Reflexion, deren Analyse in diesem Unbe­wussten spielt. So lassen sich alle Fincher-Filme auf einer Achse zwischen den Polen Gewalt und Erkenntnis verorten. Und um all dies geht es nun auch hier.

Der Aufklärer liest keine Bücher mehr

In mancher Hinsicht nimmt dieser Film also Motive von Sieben und Zodiac wieder auf: Ein Seri­en­mörder wird gejagt, zwei ungleiche Ermittler sind auf seiner Spur und setzen sich mit den Zeichen ausein­ander, die der Mörder halb mit Absicht, halb unfrei­willig hinter­ließ. Im Gegensatz zu Zodiac, in dem Fincher vor allem die radikal-skep­ti­sche Behaup­tung illus­trierte, dass Wahrheit nie gefunden werden kann, scheint er hier wieder wie in Sieben opti­mis­ti­scher gegenüber der Möglich­keit von Aufklä­rung. Ort der Suche ist nun aber mehr das Internet als die Biblio­thek, und als Mittel der Erkenntnis werden hier die Bilder gegenüber den Texten (der einzige Text, der eine Rolle spielt, ist das Alte Testament) klar privi­le­giert. Ein guter Detektiv muss nicht mehr wie bei Umberto Eco (und Sieben) die klas­si­schen Texte kennen, sondern genau und immer wieder hingucken, »bis die Bilder sprechen«, mit ikono­gra­phi­schem Scharf­sinn entschlüs­seln, was sie wirklich »sagen«. Dieser Aufklärer liest keine Bücher mehr, sondern schaut Bilder an, arbeitet mit Photo­gra­phien und diversen neuen Techniken ihrer Bear­bei­tung – der »visual turn« (Horst Bredekamp) hat sich also auch im Seri­en­mörder-Thriller vollzogen.

»Warum vertrauen die Leute nicht ihren Instinkten?«, fragt gegen Ende der Talking Killer, du gibt selbst die Antwort: »Die Angst vor Gesichts­ver­lust ist noch größer als die vorm Schmerz.« Das Drehbuch stammt vom renom­mierten Autor und Gele­gen­heits­re­gis­seur Steven Zaillian. Schon Niels Arden Oplevs Verfil­mung straffte den Roman, und stellte verschie­dene Hand­lungs­ele­mente um. Fincher hält sich an diesen Film, nicht an die Buch­vor­lage, insofern ist The Girl With The Dragon Tatoo tatsäch­lich ein Remake und keine Neuver­fil­mung. Aber er nutzt den Spielraum für Verbes­se­rungen und Eigen­s­tän­dig­keit weidlich aus, den Oplev ihm über­lassen hatte. Im Vergleich zu Oplev erzählt Fincher aller­dings ein paar Dinge logischer, strin­genter. Seine Farb­pa­lette ist pastellig, dunkel und dezidiert europäisch anmutend; ein heller Noir aus dem Schnee. Alles in allem ist Finchers Version visuell viel konse­quenter, einfalls­rei­cher und eindring­li­cher. Zudem profi­tiert sie von dem exzel­lenten Auftritt von Rooney Mara als Salander, die den von Noomi Rapace noch überragt. Mara wurde unter Dutzenden von Kandi­da­tinnen ausge­wählt. Unter ihnen so bezwin­gende Einfälle wie Natalie Portman, Eva Green, Ellen Page, Léa Seydoux, Emily Browning, Sophie Lowe, Sarah Snook, Katie Jarvis, so proble­ma­ti­sche wie Mia Wasi­kowska, Keira Knightley, Emma Watson, Kristen Stewart, Evan Rachel Wood, und so absurde wie Scarlett Johansson, Carey Mulligan und Anne Hathaway. Mara spielt Salander – eine Figur, die von der »New York Times« folgen­der­maßen bespro­chen wurde: »Lisbeth Salander, Larssons feenhafte und kämp­fe­ri­sche Heldin ... ein burschi­koses Mädschen, das aussieht wie Audrey Hepburn, aller­dings mit Piercings und Täto­wie­rungen, die erbar­mungs­lose Härte von Lara Croft verbindet mit dem kühlen, unsen­ti­men­talen Intellekt von Spock.« – als ein Instinkt­wesen, hart und zugleich ungemein verwundbar, eine erotisch aktive Cyber-Punk-Figur und Rächerin, die im selben Moment immer eine Gezeich­nete ist, ein Opfer – ohne dass das eine das andere erklärt oder gar recht­fer­tigt. Larsson beschrieb sie als erwach­sene Variante von Pippi Langs­trumpf. Dagegen war Michael Nyqvist seiner­zeit inter­es­santer, als der konven­tio­nell und passiv bleibende Daniel Craig mit seinem Hunde­blick.

Hacker & Piraten – Zwei Outlaws voll­stre­cken das Gesetz

Finchers Interesse an der Dialektik von mora­li­sie­render Gesell­schaft und mora­li­scher Verderbt­heit, der Verschlin­gung von Gut und Böse führt dazu, dass er die Handlung nicht senti­men­ta­li­siert, dass er sich auf die Grau­sam­keit, den grund­sätz­li­chen Pessi­mismus und die emotio­nale Achter­bahn­fahrt der Vorlage einlässt, gele­gent­lich gar mit den Augen des Voyeurs auf sie blickt. Fincher ist der perfekte Regisseur für diesen Stoff. Er reichert ihn noch an, gleicht seine Schwächen aus, indem er die Handlung musi­ka­lisch, rockig erzählt. David Fincher drückt auf die Tube, das ist schon richtig. Aber er ist weit mehr als ein Tech­no­krat der Bild­ge­walt. Die Kunst dieses trotz seiner zwei letzten Filme noch immer wich­tigsten ameri­ka­ni­schen Regis­seurs seiner Gene­ra­tion ist es, Bewegung nicht mit Action zu verwech­seln, und Po nicht mit Main­stream. Dass führt auch dazu, dass er jenen unter­grün­digen Erzähl­strang, der dem schwe­di­schen Faschismus gilt, nicht unter­rückt. Im Gegensatz zur schwe­di­schen Verfil­mung fallen hier die Namen bekannter schwe­di­scher Nazi-Größen wie Sven Olof Lindholm, Per Engdahl. Und Hendriks alter Nazi-Bruder sagt den Satz: »Warum die Vergan­gen­heit verste­cken? Ich bin der ehrlichste Mann Schwedens.« Und die Söhne waten in jeder Hinsicht in den Fußstapfen ihrer Väter. Der Film bewahrt damit die These des Buches, dass die bürger­liche Gesell­schaft im Kern eine faschis­ti­sche Gesell­schaft ist.

Gewalt wird zum Mittel dieser schmerz­li­chen Erkenntnis. Und Erkenntnis, Infor­ma­tionen und das daraus erwach­sende Wissen, entfalten hier ihre ganz eigene Gewalt. Trotzdem, und dies liegt wohl an der Vorlage, geht dieser Film nicht ganz so weit, wie Fincher schon gegangen ist. Der Zuschauer bleibt am Ende auf der sicheren Seite, geht letztlich selber kein Risiko ein. Dabei hat Fincher die Fähigkeit, dem Zuschauer mehr zuzumuten, als die meisten seiner Kollegen, und ihn etwas über sich selbst zu lehren. Immerhin widerlegt Fincher dieje­nigen, die ihn unter den Verdacht stellen, Gewalt zu ästhe­ti­sieren, und eine konser­va­tive, gar reak­ti­onäre poli­ti­sche Agenda zu vertreten: Immerhin sind seine Helden Anar­chisten, die an ihre Infor­ma­tionen mit den Methoden der Hacker und Internet-Piraten kommen. Ausge­rechnet zwei Outlaws voll­stre­cken am Ende das Gesetz.