Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds and Snakes

The Hunger Games: The Ballad of Songbirds & Snakes

USA 2023 · 157 min. · FSK: ab 12
Regie: Francis Lawrence
Drehbuch: ,
Kamera: Jo Willems
Darsteller: Tom Blyth, Rachel Zegler, Hunter Schafer, Josh Andrés Rivera, Peter Dinklage u.a.
Coming-of-Age eines jungen Politikers...
(Foto: Leonine)

Die Dystopie, in der wir leben

Francis Lawrence liefert in seiner vierten Hunger Games-Regiearbeit trotz Überlänge ein überzeugendes, düster-dystopisches Prequel, das kaum besser in unsere Demokratie-müde Zeit passen könnte

»Seht wie flüchtig die Zivi­li­sa­tion ist!« – Dr. Volumnia Gaul in Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds and Snakes

Man kann sich für ein paar unbe­son­nene Momente schon fragen, wer das überhaupt sehen soll. 157 Minuten düsterste Dystopie, die zeigt, wie leicht das viel­leicht wert­vollste Gut unserer west­li­chen Welt, die demo­kra­ti­sche Freiheit und die ihr zugrunde liegende Zivi­li­sa­tion abhan­den­ge­kommen sind, ohne dass es jemand gemerkt hätte. Damit ist das Prequel zu den vier bishe­rigen Teilen (davon ein Zwei­teiler) des Tribute von Panem Fran­chises noch einmal hoff­nungs­loser als es die erst 64 Jahre später spie­lenden Ereig­nisse sind, in denen ja gerade nicht die Hoff­nungs­lo­sig­keit im Zentrum steht, sondern die Hoffnung auf einen System­wandel, auf eine Befreiung aus dem dikta­to­ri­schen Joch von Panem, in Person einer auch schau­spie­le­risch einzig­ar­tigen Licht­ge­stalt, mit der – wir erinnern uns – damals von Jennifer Lawrence verkör­perten Katniss Everdeen.

Diese Hoffnung ist 64 Jahre zuvor nicht einmal im Keim zu erkennen. Statt­dessen zeigt Lawrence ein Panem, also das, was nach einem verhee­renden Bürger­krieg noch von Nordame­rika übrig­ge­blieben ist, das noch von Krieg und Hungers­nöten und Armut gezeichnet ist und das über die gerade zum zehnten Mal statt­fin­denden Hunger­spiele irgendwie versucht, die eigenen Wunden zu lecken und alte Traumata aufzu­wei­chen.

Die Tribute aus den unter­le­genen Distrikten sind auch hier Todge­weihte, aber es geht ihnen nicht einmal im Vorfeld der Kämpfe gut, anders als 64 Jahre später, in der eine saubere Insze­nie­rung alles ist. Und es gibt einen alten Bekannten, der das Binde­glied zwischen Prequel und Sequel ist, Corio­lanus »Coryo« Snow (Tom Blyth), der Herrscher über Panem, der in den vier früheren Filmen so großartig ambi­va­lent von Donald Suther­land gespielt wurde. Hier ist Snow noch ein ambi­tio­nierter Niemand aus einer verarmten Ober­schicht­fa­milie, der es mit Ehrgeiz und neuen Reform­ideen für die kaum mehr populären Hunger­spiele zu Ruhm und Ehre bringen will, auch wenn er hier, zu Anfang, ganz eindeutig noch ein guter Mensch mit hehren Idealen ist.

Blyth spielt dieses Coming-of-Age eines jungen Poli­ti­kers hervor­ra­gend aus, gerade auch, weil er durch seine Antipodin, das Tribut Lucy Gray Baird (Rachel Zegler), charak­ter­lich eine immer wieder über­ra­schende und glaub­wür­dige Entwick­lung durch­stehen darf. Dabei erlaubt sich der Film, der übrigens so wie die anderen Teile auf einer Roman­vor­lage von Suzanne Collins basiert, Anspie­lungen auf die tragische Vater-Sohn Dyade Luke Skywal­kers und Darth Vaders – auch wenn es sich hier wohl eher um eine Großvater-Enkelin-Beziehung handeln dürfte. Und dann sind da all die Schlangen, die in dieser phobi­schen Inten­sität bislang wohl nur von Steven Spiel­bergs Indiana Jones durch­litten werden durften.

In Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds and Snakes befinden wir uns jedoch nicht im seligen Eska­pismus der 1980er Jahre, der Geburts­zeit der großen Block­buster und des absoluten Turbo­ka­pi­ta­lismus, in der der Kommu­nismus langsam zu wanken begann und sich der Kapi­ta­lismus als singuläres gesell­schaft­li­ches System durch­setzte, sondern wir befinden uns heute und jetzt am am Ende dieses Zeit­kon­ti­nuums, in der fast alle Heils­ver­spre­chen aufge­braucht und Makulatur geworden sind. Und in dem, wie es aussieht, kaum noch einer Interesse daran hat, die frei­heit­liche Welt zu retten, weil die von George Bush einst ausge­ru­fene Achse des Bösen, die nun eine Achse des Wider­stands ist, nicht nur immer stärker wird, sondern sich derartig geschickt verpuppt hat, dass sie sich moralisch und partei­po­li­tisch bei breiten Wähler­schichten auch in der west­li­chen Welt immer souver­äner durch­zu­setzen versteht. Man denke nur an die kürzlich veröf­fent­lichte Umfrage der Bertels­mann-Stiftung bei west­li­chen Jugend­li­chen, nach der – abhängig vom Bildungs­grad – nur mehr zwischen 40 und 77 Prozent einem demo­kra­tisch geführten Staat zustimmen.

Die Welt in Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds and Snakes entspricht in der gnadenlos zynischen und neoli­be­ralen gesell­schaft­li­chen Ausrich­tung fast schon unheim­lich dieser unserer Gegenwart. Die Distrikte sind hier wie 64 Jahre später nichts anderes als unser globaler Süden mit seinen Tributen, die in der offenen Arena unserer Welt und unter ähnlich grausamen »Kampf­be­din­gungen« den Weg durch Wüsten und Meere nehmen, um am Ende zu den Siegern zu gehören.

In Francis Lawrence’ Prequel sehen wir den Übergang zur Zemen­tie­rung dieser Zustände, könnte der hier statt­ge­fun­dene Krieg nichts anderes als unsere heutige Welt der Kriege sein, nach deren Ende die Mensch­heit sich aus purer Angst und dümmster, verblen­deter Hoffnung in eine auto­kra­ti­sche Verskla­vung rettet. Wie subtil das passiert und wie unmöglich es selbst für dieje­nigen ist, die noch Wider­stand wagen, sich nicht korrum­pieren zu lassen, auch davon erzählt Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds and Snakes.

Deshalb ist es natürlich nur zu wünschen, dass dieses Jugend­film bzw. dieses Young-Adult-Format, in dem die lite­ra­ri­schen Vorlagen ja geschrieben und vermarktet wurden, tatsäch­lich auch diese Ziel­gruppe erreicht. Denn wer, wenn nicht sie, kann noch verhin­dern, was längst schon passiert ist? Was ohne Zweifel eine der wohl schwie­rigsten Aufgaben überhaupt ist, als es ja das ist, »was wir lieben, das uns zerstört«, wie es am Ende dieses sehens­werten und der Filmreihe würdigen Prequels heißt.

Revolte aus gutem Haus

Nachrichten von der medialen Aufmerksamkeitsökonomie

Die Show muss weiter­gehen, die Spiele können beginnen. Das ist das Grund­motto dieses Film­uni­ver­sums, das bei uns Tribute von Panem heißt, im Rest der Welt die The Hunger Games.

Auch hier geht es los mit einer großen Show, mit den brutalen live-über­tra­genen Gladia­to­ren­spielen auf Leben und Tod. Aber ums Überleben geht es gar nicht, sondern um das perfekte Spektakel.

Ein junges Mädchen wird auser­wählt, als »Tribut« in den sicheren Tod zu gehen. Aber sie rührt die Kalten Herzen der Menschen an den Bild­schirmen, denn sie singt: Sie ist der Singvogel im Titel Die Tribute von Panem – The Ballad of Songbirds and Snakes, also eine Ballade der Singvögel und Schlangen, und auch die Schlangen lernen wir bald kennen.

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Acht Jahre lang ruhte eines der erfolg­reichsten Fran­chises der Lionsgate-Studio, das in der Blütezeit der Twilight-Saga mit den ganz Großen mithalten konnte. Das Drehbuch wurde wiederum von der Autorin Suzanne Collins geschrieben. Aber alle Figuren sind neu. Genau­ge­nommen fast neu. Denn es geht um die Jugend des ambi­va­lenten schil­lernden Schurken Corio­lanus Snow.
Der neue Film ist also ein Prequel und erzählt die Vorge­schichte dieser dysto­pi­schen Saga, lange bevor die bisherige Heldin Katniss alles verändern wird.

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Die »Hunger­spiele« sind in dieser Vergan­gen­heit eher eine Bestra­fung als ein Spektakel. Doch aufgrund sinkender Einschalt­quoten wird es bei der zehnten Auflage der Veran­stal­tung anders sein: Corio­lanus und seine Mitschüler werden zu Mentoren der Tribute erklärt. Der Sieger hat bessere Chancen auf den Preis. Corio­lanus wird als Mentor für Lucy Gray Baird ausge­wählt, eine pseu­do­ex­zen­tri­sche Vaga­bundin aus »Distrikt 12«. Er sieht darin eine Chance, den Ruhm und Reichtum seines Fami­li­en­na­mens zurück­zu­er­obern. Sie, ein Todes­ur­teil.

So erzählt der Film vom Nullpunkt auch unserer gegen­wär­tigen Medi­en­spek­ta­kel­ge­sell­schaft: Die Massaker-Spiele werden in eine Reality-Show verwan­delt, in der Berühmt­heit genauso wichtig ist wie körper­liche Fähig­keiten. Es handelt sich um einen symbo­li­schen Prozess, an dessen Ende das Ergebnis steht, dass es nicht mehr ausreicht, dass sich die Teil­nehmer gegen­seitig umbringen. Viel wichtiger ist: Sie müssen dabei ein über­zeu­gendes Narrativ und einen über­zeu­genden Charakter schaffen.

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Es ist auch ein Film ohne Stars. Kein Donald Suther­land, keine Jennifer Lawrence, die vor knapp zehn Jahren in vier Teilen durch die dysto­pi­sche Zukunfts­welt der »Hunger Games« geführt hatte, sondern weit­ge­hende No-Names, wie Tom Blyth, der den Kiddies von heute viel­leicht aus einer HBO-Serie bekannt ist und der 22-jährige YouTube-Star Rachel Anne Zegler, die immerhin in Steven Spiel­bergs West-Side-Story-Remake debü­tierte.

Zugleich ist es wieder ein weiteres Prequel, das dem Publikum zu erklären versucht, warum ein Bösewicht zum Bösewicht wurde. Ein gefähr­li­cher drama­tur­gi­scher Schachzug, weil es naheliegt, in Unge­reimt­heiten zu verfallen, und man nach irgend­wel­chen Begrün­dungen sucht, nach den Traumata eines Böse­wichts, der genau das eigent­lich nicht sein darf. Ballad of Songbirds and Snakes verfällt in viele drama­tur­gi­sche Klischees und versucht, Snow zu vermensch­li­chen, indem er ihm Familie, exis­ten­zi­elle Krisen und zwischen­mensch­liche Bezie­hungen verleiht. Aber man ertappt sich immer wieder dabei, die Stirn zu runzeln bei dem Gedanken, dass die Figur dieses hübschen Bubis zu einem Mann wird, dessen »Atem nach Blut riecht«, wie es in den Romanen heißt.

Statt­dessen sollen wir Mitleid mit dem verarmten Waisen­kind aus reicher Familie haben, das zum grausamen Auto­kraten wird: Mit dieser Entste­hungs­ge­schichte versucht Ballad of Songbirds and Snakes wenig über­zeu­gend, die Entste­hung von Sozio­pa­thie und Korrup­tion zu erklären. Corio­lanus ist eine emotional und psycho­lo­gisch unvoll­s­tän­dige, flache Figur, die sich mit rasantem Tempo von Empathie zu Hass entwi­ckelt.

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Dies ist definitiv wieder ein Film, der sich an Teenager und Anfang-20-jährige richtet, und der die Revolte der Jugend gegen die Erwach­se­nen­welt zum Thema macht und ins Zentrum setzt. Die Erwach­se­nen­welt ist böse und korrupt, aber natürlich auch faszi­nie­rend, man möchte dabei sein.
Nur dass auch die Medien böse sind, dürften die meisten heute Jungen nicht teilen.

Der Film stellt uns einen Helden vor, der versucht, seine Zukunft zu gestalten, nachdem er das Sicher­heits­netz seines reichen Vaters im Krieg verloren hat. Als Sohn der Herr­scher­schicht des Kapitols hat er immer noch den Ehrgeiz von jemandem, der alles haben kann, aber er weiß, dass er doppelt so hart kämpfen und gleich­zeitig den Schein wahren muss, um nicht als minder­wertig angesehen zu werden.

Seine größte Heraus­for­de­rung besteht darin, die Kämpferin aus einem der ärmsten Distrikte mit den geringsten Aussichten auf den Sieg bei den Spielen zum Erfolg zu führen, also in einer medialen Aufmerk­sam­keitsö­ko­nomie zu siegen.

Nicht, dass sie viel Aufmerk­sam­keit bräuchte. Rachel Zeglers Lucy Gray ist ein Wirbel­sturm, der sich sowohl die Menschen in Panem als auch uns Zuschauer fesselt. Ein wunder­barer Gegenpol zu Jennifer Lawrence’ Katniss: Sie ist frecher, aber trotzdem emotional und verletz­lich.

Die Musik spielt in der Saga wieder eine große Rolle, mehr denn je dank der Country-Songs von Lucy Gray.

Visuell greift Regisseur Francis Lawrence sehr effektiv auf Elemente aus verschie­denen ikono­gra­phi­schen Feldern zurück: Es dominiert die Ästhetik der Sowjet­union, gemischt mit einigen faschis­ti­schen Elementen, als vertraute, abgrün­dige Vergan­gen­heit. Das Drehbuch wiederum amal­ga­miert Shake­speare-Refe­renzen mit jenen zu Huxley, Orwell und der Harry-Potter-Saga. Doch alles bleibt seicht, gefüllt mit über­trie­benen Erwach­senen-Charak­teren, wie Casca High­bottom (Peter Dinklage), dem Schöpfer der Hunger­spiele, der einen myste­riösen Groll gegen Corio­lanus hegt; Dr. Volumnia Gaul (Viola Davis), die leitende Direk­torin der Veran­stal­tung, die sich ebenso mysteriös gönner­haft gwegenüber ihm verhält; und Lucretius »Lucky« Flickerman (Jason Schwartzman), einem frus­trierten Magier, der zum Meteo­ro­logen und zum Moderator der Spiele geworden ist.

In jedem Fall ist dies alles das Gegen­s­tück zum Marvel-Universum, das vor allem eine große Compu­ter­show ist.

Der Rest sind die Böse­wichter und die soge­nannten Weis­heiten eines bitter-philo­so­phi­schen Medi­en­uni­ver­sums: »Von Natur aus wohnt in uns allen das Gute. Wir können die Grenze zum Bösen über­treten – oder nicht.«

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Der Film hat einige starke Momente, doch leider reicht das nur dazu, zwei Drittel des Films inter­es­sant zu machen, und immer wieder gibt es größere Leer­stellen in einem mit zwei­ein­halb Stunden eine Stunde zu langen Film.

Das ist der Preis, für einen Film, der möglichst vielen Teenies ihr Taschen­geld abknöpfen will.

Letzt­end­lich ist es Regisseur Francis Lawrence gelungen, The Hunger Games wieder aufleben zu lassen – nicht mehr und nicht weniger.