Tishe!

Russland 2002 · 86 min.
Regie: Victor Kossakowsky
Drehbuch:
Musik: Alexander Popow
Kamera: Victor Kossakowsky
Blick aus dem Fenster

Alltag in St. Peters­burg: Straßen­köter räkeln sich auf dem Asphalt. Eine alte Frau stopft uner­klär­li­cher­weise Schnee in ihre Einkaufs­ta­schen. Ein ange­trun­kenes Liebes­paar turtelt im Regen, bis beide ins knöchel­tiefe Wasser purzeln. Ein junger Mann mit Blumen­strauß wartet auf das Mädchen in roten Hosen – und wird von einem schnüf­felnden Hund seiner Lässig­keit beraubt. Ein Bautrupp rückt an. Mit einer riesigen Elek­tro­säge fräsen die Männer den Asphalt auf. Einer arbeitet, die andern schauen zu. Dann wird eine wind­schiefe Absper­rung aufge­stellt. Und damit ist erst­einmal Schluss. Kurze Film­mo­mente, die mehr vom Leben in Russland vermit­teln, als ein Wälzer von Scholl-Latour. Die Komik der Situation vers­tärken der leichter Zeit­raffer und Klavier­musik als wär’s ein Film mit Buster Keaton.

Ein Jahr lang hat Victor Kossa­kowsky sein aufmerk­sames Kame­ra­auge auf die Straße vor seinem Fenster gerichtet. Dabei entdeckt er Komisches, ebenso wie Rätsel­haftes und stößt auf uner­war­tete Schönheit. Anmutig Baum­woll­flo­cken tanzen Schwa­nensee in einer Pfütze. Nahauf­nahmen von Schlag­löchern wirken wie Satel­li­ten­bilder ferner Planeten.

1822, wenige Monate vor seinem Tod, schreibt E.T.A. Hofmann seine letzte Erzählung: Des Vetters Eckfenster – ein Dialog zwischen dem Ich-Erzähler und dessen lahmen Cousin, der, obschon ans Haus gefesselt, regen Anteil am Leben nimmt. Wer genau hinschaut, dem genügt ein Blick aus dem Fenster. Flüchtige Eindrücke von vorü­ber­ge­henden Passanten reichen aus, um daraus ganze Lebens­läufe zusam­men­zu­fa­bu­lieren. Unge­wöhn­lich für Hoffmann ist, dass er in dieser Geschichte aufs phan­tas­ti­sche Element verzich­tete. Als wolle er seine Leser für den bevor­ste­henden Verlust seines regen Geistes entschä­digen, indem er sie dazu animiert, den eigenen Blick zu schärfen und der Vorstel­lungs­kraft Flügel zu verleihen. »Wahr­haftig, lieber Vetter, du hast mich jetzt schon besser schauen gelehrt«, sagt der Ich-Erzähler zum Vetter auf dem Kran­ken­bett.

Kossa­kowsky hat sich von Hoffmanns Vermächtnis inspi­rieren lassen. Wie der Dichter verführt er uns dazu, genau hinzu­sehen und Geschichten zu erfinden von geheim­nis­vollen Universen hinter den Dingen dieser Welt.

Immer wieder taucht der Bautrupp auf und reist die Straße aufs Neue auf während empor­stei­gender Nebel sie umwabert. »Irgendwie verwan­delt sich diese realis­ti­sche Geschichte ins Surreale«, sagt Kossa­kowsky. Und so wird das Loch in der Straße zum Schlund, der Welt zu verschlingen droht.

Ein cine­as­ti­scher Glücks­fall.