Slumdog Millionär

Slumdog Millionaire

Großbritannien 2008 · 120 min. · FSK: ab 12
Regie: Danny Boyle
Drehbuch:
Kamera: Anthony Dod Mantle
Darsteller: Dev Patel, Anil Kapoor, Saurabh Shukla, Rajendranath Zutshi, Freida Pinto u.a.
Gewinn für alle Seiten: Bollywood meets Hollywood

Indisches Kino für Anfänger

Nie zuvor standen auch nur annähernd so viele Inder auf der Oscar­bühne wie in diesem Jahr. Und da Bilder sich bekannt­lich stärker in unser Gedächtnis einbrennen als jeder Zeitungs­ar­tikel, hat dies zum allge­meinen Eindruck geführt, der mehrfach Oscar prämierte Film Slumdog Millionär des Briten Danny Boyle sei ein indischer Film, ein »gefühlt« indischer Film in jedem Fall.

Und das obwohl die »Vom Chai­wallah zum Millionär«-Saga in Indien bereits vor dem Release hohe Wellen schlug und promi­nente Inder öffent­lich Kritik übten. Allen voran die lebende Legende des Hindi­films, Amitabh Bachchan, der früher selbst einmal als Show­master auf dem Stuhl der indischen Variante von »Wer wird Millionär« saß. Über seinen Blog argu­men­tierte der Patriot Bachchan, der gleiche Film von einem Inder gemacht, hätte inter­na­tional niemals so viel Lorbeeren ernten können.
Auch Slumdog Millionär kommt am mitt­ler­weile ergrauten Urgestein des Bollywood-Kinos nicht vorbei. Im Film landet der Hubschrauber von Megastars Amitabh Bachchan am Rande des Slums und zieht sofort eine Menschen­traube ehrfürch­tiger Bewun­derer an, die wirklich bis zum Äußersten gehen, um ihr Idol zu treffen – und wenn sie dafür in eine Kloake springen müssen.
Bachchans Super­star­status ist ein durch und durch indisches Phänomen, wo man ihn gott­gleich verehrt und Fans ihm Portraits, gemalt in ihrem eigenen Blut, schicken – »Wir versuchen sie davon abzu­halten«, sagte er mir einmal in einem Interview, das sich anfühlte wie die Bollywood-Variante einer Papst-Audienz. »Bollywood«, ein Begriff, unter dem Filme aus Mumbai weltweit bekannt wurden, den Bachchan sich jedoch verbittet. Er und andere indische Film­schaf­fende sehen darin eine Herab­wür­di­gung ihrer Industrie, so als sei diese nur ein billiger Abklatsch des ameri­ka­ni­schen Originals. Jour­na­listen, denen das böse B-Wort dennoch heraus­rutscht, werden höflich aber bestimmt vom Altstar auf ihren Fehler hinge­wiesen.
Bei so viel Erfolg in Indien hegt Bachchan, ganz im Gegensatz zu Anderen, keine großen Holly­woo­dam­bi­tionen. »Meistens landen wir in diesen Filmen doch nur Rollen als indischer Zeitungs­ver­käufer an der Ecke oder in irgend­einer Pizzeria. Das reizt keinen indischen Schau­spieler«, winkt Bachchan dankend ab.

Die »Times of India« griff Bachchans Kritik auf und dekla­rierte Slumdog Millionär zur Armut­s­por­no­grafie, die wirkungs­voll indisches Leid an den Westen verhökere. Und auch der in Indien haupt­säch­lich für seine Slapstick-Komödien beliebte Regisseur Priya­darshan unkte medi­en­wirksam, warum man denn neben dem ganzen Slum-Elend nicht auch Mumbais ästhe­ti­schere Seite habe zeigen können? Dabei klammert auch sein im Februar in einigen deutschen Kinos gestar­teter Film Billu Barber die Armut – hier des länd­li­chen Indiens – nicht ganz aus. Der mittel­lose Dorf­ba­bier Billu, gespielt vom Slumdog-Poli­zisten Irrfan Khan, bittet in der schwarz­hu­mo­rigen Einfüh­rung seiner Figur einen Regie­rungs­be­amten um finan­zi­elle Unter­s­tüt­zung, aber nur gesetzt den Fall, der Beamte sei nicht bestech­lich, denn ein Beste­chungs­geld könne er sich nun wirklich nicht leisten.
Der Unter­schied ist hier freilich, dass der Armut in Billu Barber eine würde­volle Einfach­heit innewohnt, sie sauberer daher­kommt, homöo­pa­thi­scher dosiert wird – und immer eindrucks­voll kontras­tiert mit dem Gegen­ent­wurf, der Welt des super­rei­chen indischen Filmstars Sahir Khan (Shah Rukh Khan), dessen Filmcrew für die Dauer eines Shootings in Billus Land­idylle ihr Lager aufschlägt.

Der an beiden Produk­tionen betei­ligte Schau­spieler Irrfan Khan kann die indische Kritik am Oscar­ge­winner nicht nach­voll­ziehen. »Menschen, die keine Ahnung von der Funktion des Kinos in der Gesell­schaft haben, fangen an davon zu reden, dass der Film ein schlechtes Licht auf uns werfe. Das ist ein dummer Kommentar. Das spricht von Ignoranz. Ein Film ist keine diplo­ma­ti­sche Mission. Film ist ein Medium, das eine Geschichte erzählt. Oder sollen die Leute in New York jetzt anfangen, gegen Taxi Driver zu protes­tieren? Nach dem Motto: Warum zeigt Martin Scorcese nur die Bronx?«
Lobens­wert hebt der Darsteller hervor, dass sein Regisseur Danny Boyle, anders als bisherige westliche Film­pro­duk­tionen, die in Indien drehten, Inder nicht nur als Schau­spieler und Hand­langer am Set einsetzte, sondern auch in kreativen Schlüs­sel­po­si­tionen auf indische Talente vertraute. Und auch vor der großen Tradition des Hindi-Films verneigt sich der Oscar­ge­winner. Bewusst habe Boyle Elemente des Hindi-Kinos über­nommen.
Das beschränkt sich nicht auf das wohl auffäl­ligste Merkmal eines klas­si­schen Bolly­wood­films, die choreo­gra­phierte Songszene zum Schluss.

Die indischen Zutaten

Verloren und wieder gefunden...
Die drei Haupt­fi­guren, um die sich Danny Boyles Erzählung entspinnt, die Brüder Javed und Salim und die gleich­alt­rige Latika, werden vom Schicksal und Dreh­buch­autor mal hierhin, mal dorthin geworfen, mal getrennt und dann schick­sal­haft wieder zusammen geführt. Dieses Motiv war so populär im Hindi-Film, speziell der 70er-Jahre, dass sich daraus ein ganz eigenes Genre ergab, »Lost & Found« genannt. In ihm soll sich, so analy­sieren Film­for­scher, das Trauma der Teilung Indiens und Pakistans spiegeln, als eine ganze Gene­ra­tion entwur­zelt und Familien ausein­ander gerissen wurden. Das umwäl­zende histo­ri­sche Ereignis wird nur selten direkt auf der Leinwand zum Thema; die Gefühls­welt, die es umgibt, kommt jedoch im »Lost & Found«-Genre zum Ausdruck.

Schicksal
Der Glaube an eine Form der gött­li­chen Fügung liegt vielen Bolly­wood­filmen zu Grunde, speziell den epischen Liebes­dramen. Auch das reale Bollywood ist als notorisch aber­gläu­bisch bekannt. Die talen­tierte Schau­spie­lerin Kareena Kapoor konnte zeit­weilig kaum gute Rollen bekommen, da sie als »verhext« galt. Dabei verfällt die indische Film­in­dus­trie jedoch nie in Fata­lismus, sondern versucht im Gegenteil, dem Schicksal gekonnt ein Schnipp­chen zu schlagen. Dank numero­lo­gi­scher Kniffe werden beherzt Buch­staben ganz entgegen den geltenden Gesetzen der Recht­schrei­bung variiert. Aus »Singh is King« wurde so »Singh is Kinng« und einer der größten indischen Hits des vergan­genen Jahres.

Masala
Anders als im west­li­chen Kino mischt das indische mutig Drama, Komödie, Action, soziale Botschaft und Liebes­ge­schichte mitein­ander zu einer für westliche Cineasten manchmal nur schwer verdau­li­chen Melange. Das Ergebnis nennt sich angelehnt an die Gewürz­mi­schung »Masala« und soll alle Geschmä­cker des Publikums anspre­chen. Ein Gebot, dem auch Slumdog Millionär wirkungs­voll folgt.

Gangster
Entgegen des sich hart­nä­ckig haltenden Klischees, das Hindi-Kino setze in erster Linie auf Liebes­filme (das war mal so) und roman­ti­sche Alpen­ku­lisse (meist nur noch in B-Movies), gehören indische Gangster schon lange zu den Arche­typen des Hindi­films. Hinter vorge­hal­tener Hand raunt man sich zu, dies läge nicht zuletzt auch daran, dass die indische Mafia, die »Bollywood«-Mafia, hinter den Kulissen die Fäden in der Hand halte. Bevor in den 90er Jahren das Film­ge­schäft in Indien als Industrie anerkannt wurde, gab es keine Bank­kre­dite für Film­pro­duk­tionen, die folglich aus anderen Quellen schöpfen mussten. Manche der Mafiosi beschränkten sich angeblich nicht nur auf die Rolle des Geld­ge­bers, sondern nahmen auch Einfluss auf die Dreh­bücher. Düstere Gangs­ter­dramen, vor allem aus der Feder von Ram Gopal Varma, feierten in Indien Erfolge, und das obwohl der Regisseur häufig auf die beliebten Song­ein­lagen verzichtet.

Bollywood meets Hollywood

Mag sein, dass Slumdog Millionär eine neue Tür hin zum Hindi-Kino aufge­stoßen hat, welches bisher hinter Bollywood-Klischees, Shah Rukh Khan und RTL2 dem Gros der Zuschauer verschlossen geblieben war.
Viel­leicht ist es auch ein Anhalts­punkt dafür, dass sich die Trenn­li­nien immer weiter verwi­schen und unsere Sehge­wohn­heiten sich schließ­lich genauso globa­li­sieren, wie die indischen Stars es heute schon vormachen. Ein Schau­spieler wie Irrfan Khan springt jetzt schon zwischen Hollywood (The Namesake, A Mighty Heart) und Bollywood mühelos hin und her, ebenso wie Bolly­woods größter weib­li­cher Star Aishwarya Rai-Bachchan, die gerade noch mit ihrem Holly­wood­film Der Rosarote Panther 2 auf der Berlinale zu Gast war. Die Schwie­ger­tochter von Amitabh Bachchan resü­mierte dort, man sei mehr und mehr mit einem »globalen Publikum« konfron­tiert. »Wir haben Fernseher und können uns durch Hunderte von Kanälen zappen. Dadurch haben wir die Möglich­keit, ganz fremde Kulturen zu entdecken.«

Auch der zweifache Oscar­preis­träger, Komponist A.R.Rahman, wird es Irrfan Khan und Aishwarya Rai-Bachchan bald gleichtun, denn erste Angebote aus Hollywood liegen Indiens Musik­genie schon vor. Derzeit arbeitet er aber noch an einem Song für Blue, in dem die Austra­lierin Kylie Minogue ihr Bollywood-Debüt geben wird.
Ein Team um den indischen Regisseur Anurag Kashyap, dem Enfant terrible des indischen Films, besuchte Regisseur Danny Boyle in England, um sich, beein­druckt von Slumdog Millionärs visuellem Stil, Kamera-Tipps zu holen für ihre moderne Neu-Inter­pre­ta­tion des klas­si­schen Devdas-Stoffes: Dev D. Indiens ureigener tragi­scher Held trägt nach zahl­rei­chen Bollywood-Reinkar­na­tionen inzwi­schen Jeans und verfällt den (west­li­chen) Desi­gner­drogen.
Und zur Jahres­mitte verspricht uns Irrfan Khan ein weiteres Crossover-Projekt. In Hissss kommen indische Darsteller unter einer ameri­ka­ni­schen Regis­seurin (Jennifer Lynch) zusammen, um eine indische Geschichte zu erzählen. Von einer grusligen »Nagin« wird sie handeln, einem halb­men­sch­li­chen Schlan­gen­wesen, das nach eigenem Gutdünken die Gestalt wechseln kann. Indiens Antwort auf Werwölfe und Vampir­f­le­der­mäuse soll dabei in Fusion mit dem ameri­ka­ni­schen Creature-Film zum Horror­streifen mit inter­na­tio­nalen Ambi­tionen werden.
Im inter­na­tio­nalen Film wächst so zusammen, was eigent­lich gar nicht zusammen gehört, dem Publikum aber neue, aben­teu­er­liche und exotische Sehgenüsse verspricht. Will­kommen im globalen Kino. Mit Filmen irgendwo zwischen evolu­ti­onärer Zelluloid-Neugeburt, Fran­ken­stein­schem Monster und sympa­thi­scher Prome­na­den­mi­schung.

Weitere Film­emp­feh­lungen (auf Deutsch erschienen):

Indische Gangster:

Sarkar
Ram Gopal Varmas düstere Hommage an Der Pate mit Amitabh Bachchan als Macht­mensch mit Fami­li­en­sinn im Zentrum.

Company
Die Mafia als Unter­nehmen in einer globa­li­sierten Welt. Die Geschichte um ehemals befreun­dete Gangster, die zu Feinden werden, basiert zum Teil auf realen Figuren aus der indischen Unterwelt.

Maqbool
Shake­speares »Macbeth«, verpflanzt ins indische Gangs­ter­mi­lieu. Sehens­werter Film mit Irrfan Khan in der Haupt­rolle des ehrgei­zigen Maqbool.

Amitabh Bachchan:

Sholay (erscheint am 27.3.)
Indiens »Curry-Western« aus den 70ern verbindet in bester Masala-Manier Action, Drama, Liebe, Humor und Songs zu einem absoluten Kultfilm.

A.R.Rahman:

Lagaan – Es war einmal in Indien (für dieses Jahr ist eine Neuauf­lage ange­kün­digt)
Für den Oscar nomi­nier­tern Film im Histo­ri­en­ge­wand, in dem unter­drückte indische Bauern zu den Kricket­schlä­gern greifen und in einem schick­sal­haften Spiel gegen ihre engli­schen Kolo­ni­al­herren antreten.

Dil Se – Von ganzem Herzen
Ein Mann (Shah Rukh Khan) verliebt sich in eine geheim­nis­volle Fremde, die sich als Selbst­mord­at­ten­tä­terin entpuppt. Der Sound­track gehört zu Rahmans besten und speziell der Song »Chaiyya Chaiyya« ist auch im Westen schon fleißig zitiert worden (etwa in The Inside Man).

Das ganze Leben ist ein Quiz

Wenn man auf die Essenz des Kinos kommt, alle Plots und Charak­tere, alle Stars und Themen beiseite lässt, weil man zum puren Kern des Mediums vorstoßen will, was bleibt dann? Bewegung in der Zeit. Und Bewegung im Raum. Das Drei­di­men­sional-werden des zwei­di­men­sio­nalen Lein­wan­d­raumes. Heute auch durch den Ton, der längst »surround« zu hören ist, vor allem aber seit jeher durch die Imagi­na­tion des Betrach­ters im Kinosaal.

Genau dieses seltene Entfes­seln der Vorstel­lungs­kraft zu erreichen, ist das Geheimnis von Slumdog Millio­n­aire. Eine gutge­launte, fröhliche, nie unter Niveau präsen­tierte Geschichte, voller Energie und Leiden­schaft, mitreißend insze­niert, dynamisch und clever erzählt, Opti­mismus und Lebens­freude ausstrah­lend – kaum ein Zuschauer wird sich dem Zauber dieses Films völlig entziehen können. Ein Film zudem, der ganz visuell daher­kommt, mit einer Kamera – vom briti­schen »Dogma«-Kame­ra­mann Anthony Dod Mantle –, die rastlos, wild expres­sio­nis­tisch, und ständig in Bewegung bleibt – mal in Zeitlupe, als wär’s ein Wong Kar-wai-Melo, manchmal rasant und kinetisch wie in einem asia­ti­schen Gangs­ter­film.

Patch­workto­tale: Der Müll, die Stadt und der Tod

Frage 1: Wie nennt man die Haupt­stadt des 21. Jahr­hun­derts?
A: Shanghai;
B: Metro­polis;
C: Mumbai;
D: Bombay
Antwort: D. Bombay! Bombay, nicht Mumbai. Mumbai sagen nur Hindu-Funda­men­ta­listen und Leute, die keine Ahnung haben. In dieser Stadt gibt es keine Vergan­gen­heit, nur Gegenwart und Zukunft.

Ein Film, der lauter Bilder anein­an­der­reiht, die sich einbrennen ins Hirn: Kinder spielen Cricket auf einem Flugfeld... Ein Junge springt in die Sicker­grube einer öffent­li­chen Toilette, weil er sich nur so befreien kann. Über und über mit Exkre­menten bedeckt, kommt er dann auf einen öffent­li­chen Platz, wo sich die Menschen um einen Bollywood-Star scharen... Eine Gruppe von Menschen jagt eine andere Gruppe. »The're muslims, get them!« hört man, es folgt brutalste Prügel, Feuer. Ein Pogrom. Und die Polizei guckt weg... Das war 1993. Die Täter: Hindu-Funda­men­ta­listen. ... Drei Kinder im Regen. Es ist der Endlos-Regen des Monsun. Sie sind allein­ge­lassen. Und landen auf einer Müllkippe... Slum­mäd­chen, die zur Prosti­tu­tion gezwungen werden... Straßen­kinder, die man erblindet, weil sie dann mit ihrem Gesang mehr Geld erbetteln können... Ein Quiz­studio, ein korrupter Show­master... Folternde Polizei... Betrü­ge­ri­sche Brüder... Zwei Jungen, die auf einem Zug durchs Land fahren... Der Bahnhof vom Bombay...

Der Film zeigt Realität. Es ist kein schmei­chelndes, schön­fär­be­ri­sches Portrait Indiens, sondern das Bild eines Landes, in dem glänzende Moder­nität mit archai­scher Bruta­lität einher­geht. Heute wird SLumdog Millio­n­aire in ganz Indien gefeiert, als handle es sich um einen rein indischen Film. Zunächst aber wurde er verteu­felt. Von den Natio­na­listen, den Hindu-Funda­men­ta­listen, von jenen, die ihre eigenen Landleute, indische Schrift­steller und Jour­na­listen, mit dem Tode bedrohen, wenn sie auf Englisch schreiben, wenn sie »Bombay« statt »Mumbai« sagen. Von den anderen, den welt­of­fenen, prowest­li­chen Kräften, wird der Film bejubelt. Denn er zwingt ganz Indien, hinzu­sehen, zwingt eine Gesell­schaft, sich auch ihren Schat­ten­seiten zu stellen. Denn Slumdog Millio­n­aire mag Gute-Laune-Kino sein, aber es geht weit über den harmo­nie­trie­fenden glatten Bollywood-Durch­schnitt hinaus. Boyle zeigt die Patch­workto­tale der Slums von Bombay, zeigt den Müll, die Stadt und den Tod, zeigt die Angst, den Dreck und die Not, zeigt Prosti­tu­tion, Korrup­tion und Elend.

Ein indischer Film, also: Frucht­bare Multi­kulti-Plura­lität

Frage 2: »Das Natio­nal­wappen Indien zeigt drei Löwen. Was steht darunter geschrieben?«
A: The Truth Alone Triumphs;
B: Lies alone Triumphs;
C: Fashion alone Triumphs;
D: Money alone Triumphs;
Antwort: A. The Truth Alone Triumphs

Acht Oscars können lügen. Die Academy-Awards sind kein Argument für diesen Film, aller­dings auch keines gegen ihn. Inter­es­sant ist die Preis­ver­gabe dieses Jahres aller­dings schon gewesen. Und zwar durch die Eindeu­tig­keit, mit der Slumdog Millio­n­aire sich durch­setzte, acht Oscars gewann, und so nebenbei in nahezu allen wichtigen Kate­go­rien den Riesen-Apparat und PR-Etat des zehn Mal so teuren Der seltsame Fall des Benjamin Button aus dem Rennen warf. Denn trotz betei­ligtem Hollywood-Geld ist dies ganz und gar ein Außen­sei­ter­film. Mehrfach von den Studios abgelehnt und von Benjamin Button-Produzent »Warner Bros.« weiter­ver­kauft, dann schließ­lich mit vergleichs­weise geringen Mitteln produ­ziert – wie schon in den letzten Jahren trium­phierte damit beim Oscar ein Inde­pen­dent-Film über Riesen­block­buster, die trotz Rekord­ein­nahmen an der Kinokasse nur tech­ni­sche Preise noch gewinnen.

Slumdog Millio­n­aire ist in seiner ästhe­ti­schen Identität wie von seiner Hand­schrift her ganz und gar kein originärer US-Film, sondern etwas Neues: Er mischt gleich­be­rech­tigt (britisch-)europäi­sche, indische, und US-ameri­ka­ni­sche Elemente. Handlung und Figuren sind ganz und gar indisch, die Vorlage auch. Ein Beispiel also für frucht­bare Multi­kulti-Plura­lität, dafür, das globa­li­siertes Kino keines­wegs herzlos sein muss. Im Gegenteil ist Slumdog Millio­n­aire ener­ge­tisch und leiden­schaft­lich, ein Film, der nun zum Jung­brunnen für ein erschöpftes Hollywood werden könnte, dem außer Fort­set­zungen und Remakes bewährter Erfolgs­for­meln derzeit wenig einfällt. Die dies­jäh­rigen Oscars belegen unver­kennbar: Der Blick der USA geht nach Europa und nach Asien.

In Asien hat man das verstanden. Treffend kommen­tiert die »Times of India« und reagiert damit auch auf einhei­mi­sche Natio­na­listen und Feinde des Westens: »Gemacht haben den Film Hindus, Muslims, Christien, Malayer, Punjabis, Tamilen, Leute aus Goa, britisch-indische Misch­linge, indophile Briten, Reiche, Arme ... Kritiker werden weiterhin schimpfen, der Film sei nicht 'wahrhaft' indisch, und die Westler, die ihn gemacht haben, hätten schlicht und einfach den düsteren Unterleib der indischen Armut ausge­beutet. Aber vor der Geschichte zählt nur die Substanz: Ein Film, der durch eine indische Geschichte inspi­riert ist, der indische Darsteller und ein über­wie­gend indisches Team hatte, gewinnt acht Oscars. ... Der Held des Abends war A R Rahman, der heimliche Gott der Musik. Als er mit gleich zwei Oscars nach Hause ging, konnte die Welt sehen, warum er der Inbegriff einer unver­gleich­li­chen Plura­lität ist. In einem scharfen Kommentar, der höchst­wahr­schein­lich auf dieje­nigen zielte, die Indien einst ausein­an­der­rissen und versuchen heute das Gleiche zu tun, sagte Rahman, der sowohl religiöse wie regionale Grenzen über­schreitet, 'Ich hatte in meinem Leben immer die Wahl zwischen Liebe und Hass. Ich wählte die Liebe und ich bin hier.'«

Dieser Satz Rahmans ist nicht einfach ein glatter Showbiz-Kommentar, es ist ein eminent poli­ti­sches Statement in einem Land, indem alle Unter­hal­tung poli­ti­siert ist. Dies ist ein toller Film über Indien, ein Hohelied auf Bombay und die Mytho­logie dieser Stadt. Aber er ist noch mehr: Formal erzählt Slumdog Millio­n­aire das Erfolgs­mär­chen eines Jungen aus dem indischen Slum, tatsäch­lich handelt es von der wach­senden Bedeutung Indiens.

Betrug und Wunsch­träume

Frage 3: Aus welchem Film stammt der folgende Satz: »I don’t cheat clients. Virgin they want, virgin they get.«
A: Der Tiger von Eschnapur;
B: Salaam Bombay!;
C: Monsoon Wedding;
D: Slumdog Millio­n­aire;
Antwort B: »Salaam Bombay!«, Mira Nairs Film über Straßen­kinder in Bombay ist die offen­kun­dige Referenz für diesen Film, zugleich das Werk, von dem er sich am Deut­lichsten absetzt. Gegen dessen Neorea­lismus setzt Boyle Pop.

Ein Mann hängt in einem Poli­zei­re­vier von der Decke. Poli­zisten foltern ihn: So wird Jamal Malik, ein Muslim aus Bombays Slum, der Held dieses Films einge­führt. Und es bleibt eine Geschichte aus den Slums. Von Menschen, die in Hütten aus Wellblech und Abfall wohnen, deren Dächer mit Plas­tik­tüten vom Super­markt geflickt werden, deren Abwas­ser­lei­tung ein schmut­ziges Rinnsal ist, das zwischen den Gassen fließt, von Frauen die nachts arbeiten, von Vätern, die drogen­süchtig sind, von Kindern, die Müll sammeln oder auf den Strich gehen. Aus dem Elend, das wir allzu gern verdrängen, von dem wir wegzappen in die künst­li­chen Paradiese unserer seichten, verlo­genen Fern­seh­un­ter­hal­tungs­shows. Solcher Shows wie »Wer wird Millionär?«

Die gibt es weltweit, natürlich auch in Indien. Dort heißt sie »Kaun Banega Crorepati«. 20 Millionen Rupien ist da der Haupt­preis. Umge­rechnet 313.000 Euro. Und eines Tages gewinnt diesen Jackpot der, von dem alle das, vor allem hier, am wenigsten erwarten würden, und dem alles es, vor allem in Indien, am meisten gönnen: Jamal (Dev Patel), ein bettel­armer unge­bil­deter, 18-jähriger Junge aus den Slums der »Maximum City« Bombay, der jetzt als Teebur­sche (»chai wallah«) in einem Call-Center arbeitet. Daran, dass sein Wunsch­traum wirklich wird, kann ihn auch seine Herkunft nicht hindern. Nicht die Polizei. Nicht der Show­master, ein betrü­ge­ri­scher Aufsteiger, zum Verwech­seln ähnlich dem Schau­spieler und Bollywood-Superstar Amitabh Bachchan sehend, der die Sendung jahrelang mode­rierte – und dessen Name hier die Antwort auf die erste Quizfrage ist.

Peinliche Befragung

Slumdog Millio­n­aire, der neueste Film des Briten Danny Boyle, geschrieben nach dem Roman des indischen Ex-Diplo­maten Vikas Swarup (der im Original »Q & A« heißt, auf deutsch als »Rupien! Rupien!« bei Kiepen­heuer & Witsch erschienen), macht nichts weiter, als zu erzählen, wie es dazu kam. Er hat dafür einen wunder­baren Rahmen gefunden, ein Poli­zei­verhör, das das »Q & A« auf der Showbühne spiegelt und verdop­pelt, inter­pre­tiert und enthüllt.

Denn woher soll einer, der kaum schreiben und lesen kann, schon die Antworten auf kompli­zierte Fragen aus Literatur, Musik, Politik wissen? Also verhaftet ihn die Polizei nach dem Erreichen der letzten Frage, und unter­zieht ihn einer zweiten pein­li­chen Befragung, verhört ihn mit Hilfe von Elek­tro­s­hocks, in der Gewißheit, einem großan­ge­legten Betrug auf der Spur zu sein. Doch Jamal kann Frage für Frage erklären, wie er die Antworten im tagtäg­li­chen Exis­tenz­kampf gelernt hat. Und anhand dieser Fragen erzählt Slumdog Millio­n­aire Jamals Lebens­ge­schichte. Das ganze Leben ist ein Quiz, und die Rück­blicke bündeln sich am Ende zum Showdown der Fern­seh­sen­dung. Ein großes Drama, das auch in sich ähnlich funk­tio­niert, wie die Millionärs-Show im Fernsehen, die man auch nicht ernst nehmen kann, und dann doch gebannt vor ihr hängen bleibt.

Brit-Masala: Die Neugeburt des europäi­schen Kinos aus dem Geist Asiens

Zugleich touris­tisch begeis­tert und ernsthaft inter­es­siert in seinem Blick taucht der Film tief in die Wirk­lich­keit Indiens ein, in Korrup­tion und Elend, Rassismus und Ausbeu­tung. Über die Länge eines Spiel­films gelingt so ein durchaus diffe­ren­ziertes Portrait des Subkon­ti­nents. Trotzdem bleibt Slumdog Millio­n­aire immer unter­haltsam, ein fiebriger <a href=»http://en.wikipedia.org/wiki/Masala_(film_genre)«>Masala-Film</a>, der allen Glanz und alle Tugenden indischen Kinos bündelt. In dieser Verbin­dung von Sozi­al­rea­lismus und Enter­tain­ment liegt das Geheimnis dieses über­ra­schenden Welter­folgs – und hierin ist der Film am klas­sischsten, erinnert an das enga­gierte Kino von Capra oder die Komödien von Preston Sturges aus den 30er und 40er Jahren.

Regie führte Danny Boyle (Train­spot­ting, A Life Less Ordinary, 28 Days Later). Boyle erzählt, mit Tempo, Rhythmus, und viel Charme. Boyle verbindet seinen gewohnten clip­ar­tigen Stil, in dem jede Zehn­tel­se­kunde voll­ge­stopft ist mit visuellen und Ton-Infor­ma­tionen, mit der Extra­va­ganz des Spek­ta­kel­kinos von Bollywood – und ist so selbst das beste Beispiel für die Neugeburt des europäi­schen Kinos aus dem Geist Asiens.

Jamal im Glück

Der Film ist ein toll insze­niertes großes Drama, verbindet die Bild­spra­chen von West und Ost, Bollywood trifft Hollywood. Aber auch Rossel­lini und manch' indischer Meister wird hier anzitiert. Man findet auch zahl­reiche Anspie­lungen an Klassiker der Literatur – vor allem an Dickens, den Poeten des Lumpen­pro­le­ta­riats im Europa des 19.Jahr­hun­dets. Jamal ist ein Oliver Twist unserer Zeit, ein gewitzter Junge aus dem Slum, der das Glück des Gerechten hat.

Wie Dickens' Romane ist Slumdog Millio­n­aire ein Märchen, aber ebenfalls wie bei Dickens eines voller Realitäts­be­züge. Er taugt auch als kulturüber­grei­fende Gesell­schafts­sa­tire. Vor allem aber ist dies nun die Vorlage zu einem wunder­baren Film, Danny Boyles bestem seit Train­spot­ting, jenem verfilmten Brit-Pop über Thatchers Kinder. Einem Film, der seine opti­mis­ti­sche Märchen­bot­schaft mit einem pessi­mis­ti­schen Befund verbindet. Denn Boyle ist, darüber kann man nicht zweifeln, Pessimist. Er konsta­tiert das Kolo­nia­lismus, die nicht-europäi­sche Zukunft Asiens, ihre andere Moderne mit derselben Nüch­tern­heit, mit der sich ein Graham Greene zeit­le­bens auf letzte Reisen durch die Kolonien begeben hat; seine Bilder erinnern bei allem Pop-Appeal hin und wieder an den bitteren Doku­men­ta­rismus, mit dem der Chinese Jia Zhang-ke und sein Kame­ra­mann Yu Lik-wai, eine Art Danny Boyle Asiens, die Mond­land­schaften des neuen China fest­halten, die Städte zum letzten Mal filmen, die bald vom Dreischluch­ten­stau­damm verschlungen sein werden (z.B. Still Life).

Ein Fake, der funk­tio­niert

»Who Wants to Be a Millio­n­aire?« so heißt die Show, im Kino wie im Leben; und wer würde diese Frage nicht bejahen, selbst wenn es diesmal nur um Rupien geht, um 20 Millionen, umge­rechnet also unter 400.000 Euro. Wie jedes gute Märchen, wie jedes Leben, ist Slumdog Millio­n­aire eine Verlust­ge­schichte. Fort­schritt gibt es allen­falls für ein Land und die Mensch­heit, nie für den Einzelnen. Ein Film, dem man ungemein viele Zuschauer wünscht – damit so etwas im Kino nicht die Ausnahme bleibt. Slumdog Millio­n­aire mag bis zum gewissen Grad ein Fake sein, aber es ist ein schöner Fake. Ein Fake, der funk­tio­niert. Denn er bringt alles, was Kino bringen muss. Große Oper und großes Melodram.