L'Amour du monde – Sehnsucht nach der Welt

L'amour du monde

Schweiz 2023 · 79 min. · FSK: ab 12
Regie: Jenna Hasse
Drehbuch: , ,
Kamera: Valentina Provini
Darsteller: Clarisse Moussa, Esin Demicran, Marc Oosterhoff, Adèle Vandroth, Pierre Mifsud u.a.
Großes Mädchen, kleines Mädchen
(Foto: Mindjazz)

Wenn die Reiher rufen

Jenna Hasse zeigt in ihrem Debüt L’amour du monde den Sommer am Genfer See als einfühlsames Coming-of-Age

Ein Kinder­heim in Aubonne am Genfer See. Einige Erzieher/innen kümmern sich liebevoll um die paar Kinder, die noch da sind und hier den Sommer verbringen. Die 14-jährige Margaux schaut sich neugierig um, als sie ihr Praktikum antritt. Sie wirkt gelang­weilt, aber immer noch ange­nehmer als im Hotel-Appart­ment herum­zu­ho­cken, das sie mit ihrem Vater teilt, der sich aber mehr um seinen Bankjob und seine neue Lebens­ge­fährtin kümmert als um die einsame Tochter. Im Heim fällt Margaux sofort die ungestüme Juliette auf, die vor nicht allzu langer Zeit ihre Mutter verloren hat. Ihr Vater hat sie ins Heim abge­schoben und kündigt manchmal sein Kommen an, erscheint dann aber nicht. Zwischen der 14-Jährigen und der Sieben­jäh­rigen entsteht eine zarte freund­schaft­liche Bindung. Das hindert Juliette aber nicht daran, beim gemein­samen Spazier­gang im Wald auszu­reißen und in den See zu springen. Zum Glück kann der Fischer Joël sie aus dem Wasser ziehen. Ohne sich abzu­spre­chen, verschweigen die drei den Vorfall gegenüber den Erziehern. Danach begleitet Margaux den etwa doppelt so alten Joel, der nach dem Tod seiner Mutter aus Indo­ne­sien heim­ge­kehrt ist, mehrfach auf Boots­fahrten. Indo­ne­sien wird für sie zu einem Sehn­suchtsort.

Ihr erster langer Spielfilm wurde bei der Berlinale in der Sektion Gene­ra­tion Kplus mit einer Special Mention bedacht. Benannt hat die Regis­seurin und Schau­spie­lerin Jenna Haase, die am Genfer See aufwuchs, ihren Film nach dem Roman »L’Amour du Monde« (1925) des Schweizer Schrift­stel­lers Charles-Ferdinand Ramuz, der ebenfalls am Genfer See spielt. Flirrende Bilder sonniger Sommer­tage am Seeufer schaffen eine verträumte Atmo­sphäre, in der die drei Prot­ago­nisten ihren Gedanken nach­hängen und von einer besseren Zukunft träumen.

Trotz der Alters­un­ter­schiede begegnen sich Juliette, Margaux und Joel fast auf Augenhöhe. Es wird zwar nie thema­ti­siert, aber es zeigt sich rasch, dass die Drei ein geheimes Band verbindet: der Schmerz über die gestor­bene oder abwesende Mutter. Ob bewusst oder unbewusst, das unge­wöhn­liche Trio kann sich ein Stück weit wech­sel­seitig trösten und stärken. Margaux wird für die Halbwaise fast zur großen Schwester oder gar zur Ersatz­mutter, während Juliette in dem Mädchen endlich eine Person findet, die ihr zuhört und Zuwendung schenkt. Während sich bei Margaux erste Zeichen des eroti­schen Erwachens zeigen, steht Joel vor der Entschei­dung, ob er wieder ins ferne Asien zieht, wo niemand auf ihn wartet, oder ein Stel­len­an­gebot als Fischer am wohl­ver­trauten See annimmt.

Alle drei haben ihr Päckchen zu tragen, sind unzu­frieden mit dem Beste­henden. Sie sind gleichsam Seelen­ver­wandte, die nach Akzeptanz, Gebor­gen­heit und Heimat suchen. Bei Margaux und Joel kommt noch das Fernweh hinzu. Anderswo kann es nur besser sein als im lang­wei­ligen Hier und Jetzt, scheint sie zu denken. Als sie zu Joel sagt: »Ich möchte mit dir nach Indo­ne­sien gehen«, fragt er abgeklärt: »Wieso willst du ans andere Ende der Welt?«

Juliette wäre schon viel geholfen, wenn sie wenigs­tens ihre Trauer über­winden könnte. Wie sehr sie unter dem Verlust der Mutter leidet, verdeut­licht Hasse in einer faszi­nie­renden Schlüs­sel­szene. Als der Fischer von einer indo­ne­si­schen Legende erzählt, wonach Reiher die umher­ir­renden Seelen von Verstor­benen sind, und Juliette am Ufer einen Reiher sieht, sagt sie ganz leise: »Viel­leicht ist der Reiher ja meine Mutter.«

Dass die Nach­wuchs­re­gis­seurin ein Händchen für visuelle Poesie hat, beweist sie in einer weiteren meta­pho­ri­schen Sequenz. Die einsame Margaux, die gerade mit den Mühen der Adoles­zenz hadert, besucht das kleine Kino des Orts und sieht den Fantasy-Aben­teu­er­film Die Herrin von Atlantis (1932) von Georg Wilhelm Pabst, in dem Brigitte Helm eine verfüh­re­ri­sche Herr­scherin verkör­pert. Im Hotel­zimmer ange­kommen, tanzt sie hinge­bungs­voll, erprobt laszive Posen und beob­achtet das Spiel der Schatten auf einer Wand.

Die stil­si­chere Insze­nie­rung des dünnen Plots, der ohne drama­ti­sche Höhe­punkte auskommt, ist geprägt durch wenig Dialoge, ruhige Land­schafts­auf­nahmen und sanfte Gitar­ren­klänge, die die entspannte Atmo­sphäre unter­strei­chen. Hasse kann visuell erzählen und ihre Kame­ra­frau Valentina Provini bleibt oft nah dran an den Prot­ago­nist/innen und kann so deren Gefühls­lagen erkunden. Besonders gut gelingt das bei der jungen Clarissa Moussa, die die Margaux verkör­pert und schon in Hasses erstem Kurzfilm En Août (2014) eine Haupt­figur namens Margaux gespielt hat – augen­schein­lich ein Alter Ego der Autorin und Regis­seurin. Insgesamt ein bemer­kens­werter Einstand der Regis­seurin, die 1989 in Lissabon geboren wurde, in der Schweiz aufwuchs und in Brüssel Schau­spiel studierte. Auf ihre nächsten Arbeiten darf man gespannt sein.