Selma

USA/GB 2014 · 128 min. · FSK: ab 12
Regie: Ava DuVernay
Drehbuch:
Kamera: Bradford Young
Darsteller: David Oyelowo, Carmen Ejogo, Tom Wilkinson, Giovanni Ribisi, Oprah Winfrey u.a.
Oprah Winfrey

Andere wurden totgeschlagen

Sie möchte sich nur als Wählerin regis­trieren lassen. Sie möchte nur ihr Recht als ameri­ka­ni­sche Bürgerin. Ihr Name ist Annie Lee Cooper, sie ist schwarze Ameri­ka­nierin. Der Beamte ist weiß, und alles passiert Mitte der 1960er Jahre in Selma, Alabama.
Die Frau wird drang­sa­liert und schi­ka­niert, wider­recht­lich poli­ti­sches Spezial-Wissen abgefragt – offen­kundig will der Beamte die Frau einschüch­tern, und daran hindern, ihr Wahlrecht auszuüben.

Dies ist eine der ersten Szenen in »Selma«, dem über­ra­schend gelun­genen Film einer völlig unbe­kannten US-Inde­pen­dent-Regis­seurin. Sie heißt Ava DuVernay und ist eine schwarze Ameri­ka­nerin. Annie Lee Cooper wird – in einem prägnanten Auftritt – von der US-Talk-Berühmt­heit Oprah Winfrey gespielt – ein Schachzug, der dem Film in der US-Öffent­lich­keit bestimmt nicht geschadet hat, der aber auch nicht nötig war. Winfrey und DuVernay, zwei schwarze Ameri­ka­ne­rinnen erinnern uns hier mit vielen anderen, wie weit der Weg war, den sie und ihr Land in den letzten 50 Jahren zurück­ge­legt haben.
Zugleich zeigen gerade die Ereig­nisse der letzten Monate, die Tötungen von schwarzen US-Bürgern durch Poliz­ei­waffen und höchst­wahr­schein­lich ohne den geringsten ernst­haften Anlass, welch weiten Weg Amerikas (und wir) noch zurück­legen müssen, bevor alle Menschen aller Haut­farben wirklich gleich behandelt werden.

Selma handelt von den Ereig­nissen vom Januar bis März 1965 rund um die Wahlen in Alabama und die Demons­tra­tionen in der Stadt Selma, die zu einem landes­weiten Aufstand der Liberalen Amerikas für die Rassen-Gleich­be­rech­ti­gung führten, und das Städtchen zu einem symbo­li­schen Ort machten. Man muss aber nicht viel Vorwissen mitbringen, denn dies ist kein Doku­men­tar­film, sondern am Ende ein humanes Drama.

Vor allem, aber nicht ausschließ­lich erzählt der Film die Geschichte der nord­ame­ri­ka­ni­schen Bürger­rechts­be­we­gung und ihres Anführers Martin Luther King Jr. in einer entschei­denden Phase. Unver­s­tänd­li­cher­weise ist Kings Leben noch nie verfilmt worden – eine Über­ra­schung ange­sichts der vielen Biopics über US-Präsi­denten, über Muhammad Ali auch über den Schwarz­en­führer Malcolm X.

Der britische Schau­spieler David Oyelowo spielt King: Eine ausgez­eich­nete Leistung der Anver­wand­lung und Verkör­pe­rung. Der andere Brite ist Tom Wilkinson; er ist Oyelowo eben­bürtig als US-Präsident Lyndon B. Johnson, der – meines Wissens – noch nie eine Haupt­figur in einem Polit-Spielfilm gewesen ist. Den wir zwischen den beiden Polit-Tragöden Kennedy und Nixon oft vergessen – zu Unrecht. Beider persön­liche Begeg­nungen, die den Film gliedern, sind hoch­dra­ma­ti­sche Duelle, bei denen die Funken sprühen, vor allem wenn beide sich im Oval Office des Weißen Hauses gegenüber­stehen und mühsam ihre Wut aufein­ander unter einer Schicht Anstand und Höflich­keit unter­drü­cken müssen – beide standen zusammen, das vergisst man hier gele­gent­lich, im Kampf um Gerech­tig­keit und im Ringen um poli­ti­sche Klugheit.

Überhaupt kommt LBJ hier schlecht weg, zu schlecht, er war gar nicht der Cunctator, als der er hier gezeichnet wird – im Gegenteil: Ein Mensch von großer Schnel­lig­keit, Tatkraft und Entschei­dungs­stärke. Hätte der Total­ver­sager Obama auch nur zehn Prozent vom Johnson, und fünf Prozent von dessen poli­ti­scher Klugheit, er wäre ein viel besserer Präsident.

Tatsäch­lich lässt dieser Film uns über dem Drama vergessen, wie kurz der Zeitraum war, von dem hier die Rede ist, und was das eigent­liche Problem in diesem Fall ist. Johnson war erst acht Wochen vor Selma wieder­ge­wählt worden und wurde erst wenige Tage zuvor vereidigt. Er hat bewiesen, dass er nicht zu feige war, die USA gründlich zu refor­mieren.

Noch ein Brite ist Tim Roth – er spielt den rassis­ti­schen, ölig-ungreif­baren Südstaa­ten­po­li­tiker George Wallace, Gouver­neur von Alabama. Hier begegnet man einer ameri­ka­ni­schen Pegida, einem ameri­ka­ni­schen Faschismus. Es wird klar, was Menschen damals getan haben: Andere wurden auf der Straße totge­schlagen, und weil die Weißen zusam­men­hielten, die Schwarzen kein Wahlrecht hatten, also auch keine Richter wählen und keine Geschwo­renen stellen konnten, kamen die Mörder immer frei.

Auch wenn die Gescheh­nisse von Selma selbst nur 90 Tage dauerten, geht es hier um alles: DuVernay gelingt es, in ihrem Film die aller­meisten Themen der schwarzen Bürger­rechts­be­we­gung anzu­spre­chen.

Ähnlich wie Steven Spielberg in Lincoln vermeidet DuVernay eine voreilige Verklä­rung der Haupt­figur: King erscheint neben seiner rheto­ri­schen Begabung auch deshalb als Wort­führer der Bewegung, weil er versteht, was nötig und was möglich ist: Politik als Kunst des Möglichen. Als Vermögen der Taktik.

Und Politik als Kunst des Charisma: Hier bekommt man vorge­führt, wie man protes­tiert, wie man es macht, wenn man Dinge erreichen will. Dosierte Provo­ka­tion. Also: Provo­ka­tion. »Good grass­roots work«, sagt King, ist Verhan­deln und Druck erhöhen zugleich. Aber auch dass das Mögliche nicht immer genug ist, dass Politik mitunter das Unmög­liche trotzdem versuchen muss, zeigt dieser Film.

Selma ist ein viel besserer Film, als es übli­cher­weise poli­ti­sche Biogra­fien aus Hollywood sind: Spannend, uner­wartet, eindring­lich, ein Films fürs Herz wie für den Verstand – man wird das erst richtig verstehen, wenn man hinein­geht.

Dies ist aber auch klas­si­sches Geschichts­lek­ti­ons­kino. Ein Dokudrama, sehr ehrenwert, gut, wichtig. Man vergisst immer wieder, was hier erzählt wird, und sollte es nicht vergessen. Aber als Film? Selma ist gut gemacht, selbst wenn man das vergleichs­weise geringe Budget außer Acht lässt. Aber sonst? Der Film könnte viel schlechter sein. Besser aber auch.