Où est la main de l'homme sans tête?

Belgien 2007 · 104 min.
Regie: Guillaume Malandrin, Stéphane Malandrin
Drehbuch: ,
Kamera: Nicolas Guicheteau
Darsteller: Cécile de France, Ulrich Tukur, Bouli Lanners, Edouard Piessevaux, Jacky Lambert u.a.
Kann ihrer Wahrnehmung nicht trauen: Turmspringerin Eva (Cécile de France)

Die Sportlerin im Bett

»Im Grunde bin ich ein Sportler, ich bin der Sportler im Bett. Man verstehe mich recht, kaum sind meine Augen zu, so trete ich auch schon in Aktion. Worin keiner mir gleich­kommt, das ist der Kopf­sprung. Nicht einmal im Kino erinnere ich mich jemals einen lotrechten Kopf­sprung gesehen zu haben, wie ich ihn ausführe.«
Diese Zeilen stammen 1935 von dem belgi­schen Schrift­steller Henri Michaux – sie bilden eine spie­le­ri­sche Kampf­an­sage an das Kino auf der Leinwand durch das Kino im Kopf. Gut 70 Jahre später hat der Film diese Heraus­for­de­rung ange­nommen, in Gestalt der beiden – ebenfalls belgi­schen – Brüder Guillaume und Stéphane Malandrin: Ihr Film Où est la main de l’homme sans tête, der am vorletzten Tag des Münchener Filmfests Welt­pre­miere hatte, vermit­telt die Vision des Kopfkinos von Henri Michaux mit dem Kino auf der Leinwand.

Die Brüder Malandrin legen dabei keinen Mann, sondern eine Frau ins Bett, und zwar eine, die Turm­springen als wirk­li­chen Sport und nicht nur als Imagi­na­ti­ons­ü­bung betreibt: Eva Sanders (Cécile de France) ist Leis­tungs­sport­lerin und muss das Trauma eines Unfalls beim Sprung vom Zehn­me­ter­brett verar­beiten. Die Eröff­nungs­se­quenz des Film zeigt diesen Unfall in einer Art und Weise, die jedem Zuschauer, der auch nur einmal auf einem solchen Sprung­turm gestanden ist, Bauch­schmerzen bereiten muss. Im Film geht es fortan stets darum heraus­zu­finden, welche der Bilder, die wir sehen, sich in Evas trau­ma­ti­siertem Kopf abspielen und welche außerhalb davon.

Auf dieses Spiel zwischen Innen- und Außenraum wird früh hinge­wiesen: Im Kran­ken­haus zeigt ein Arzt Eva ein Compu­ter­bild von ihrem Gehirn mit einem seltsamen blauen Fleck in der Mitte. Der Fleck, so der Arzt weiter, sei das Schwimm­be­cken, in das sie von einem inneren Sprung­turm springen könne. Etwas verspätet lacht Eva über diesen geschmack­losen Scherz, doch faktisch ist sie – und mit ihr der Zuschauer – von nun an tatsäch­lich im Zweifel gefangen, was sich in ihrem Kopf und was sich in der wirk­li­chen Welt abspielt.

Züge eines Thrillers gewinnt dieses ganz in der Tradition der Phan­tastik insze­nierte Kippspiel zwischen Einbil­dung und Wirk­lich­keit dadurch, dass es nicht nur um Evas eigene Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung, sondern um eine Fami­li­en­ge­schichte mit tragi­schem, viel­leicht sogar krimi­nellem Hinter­grund geht. In dieser Geschichte scheint vor allem Peter Sanders (Ulrich Tukur), der ehrgei­zige Vater und Trainer Evas, eine unrühm­liche Rolle zu spielen.

Bemer­kens­wert gut gelungen ist es den Malandrin-Brüdern insbe­son­dere, die Frage nach der Zuver­läs­sig­keit von Evas Wahr­neh­mung mit einem durch­gän­gigen Span­nungs­bogen des Films zu verknüpfen. Hitch­cock­scher Suspense lauert bei jedem Abgrund, sei es auf dem Zehn­me­ter­brett oder auf dem Kirchturm der monu­men­talen Brüsseler Basilika von Koekel­berg, um die die Handlung des Films ebenso kreist wie um das Schwimm­be­cken. Überhaupt ist die Reise durch den Kopf der Turm­sprin­gerin eine Reise durch die Film­ge­schichte: Eine abge­trennte Hand, die wieder­holt im Film auftaucht, erinnert an Buñuels Un chien andalou, und hinter getönten Glastüren nimmt das Fami­li­en­drama teilweise Berg­man­sche Züge an.

Bei diesem virtuosen Vexier­spiel ist es fast ein wenig schade, dass die Spannung zwischen dem inneren Kino im Kopf der Sport­lerin und dem äußeren Kino der Welt des Sports am Schluss des Films doch noch zugunsten des Realismus aufgelöst wird – ein Realismus, der im Übrigen in manchen Zügen an das ungleich berühm­tere Brüder­paar des belgi­schen Kinos erinnert, die Dardenne-Brüder. Doch der besondere Trumpf der Malan­drins könnte darin bestehen, dass ihr Film über den realis­ti­schen Schluss hinaus wirksame Nach­bilder zurück­lässt, die das Kopfkino ihrer Zuschauer noch lange beleben.