Niemals Selten Manchmal Immer

Never Rarely Sometimes Always

USA 2020 · 102 min. · FSK: ab 6
Regie: Eliza Hittman
Drehbuch:
Kamera: Hélène Louvart
Darsteller: Sidney Flanigan, Talia Ryder, Théodore Pellerin, Ryan Eggold, Sharon Van Etten u.a.
Unaufdringliche, empathische Bilder
(Foto: Universal)

Leben und Menschlichkeit, ganz nah

Eliza Hittmans Niemals selten manchmal immer ist ein brandaktueller Film, der durch die Politik der Bilder zu einem leise-dringlichen Manifest der Weiblichkeit und der (körperlichen) Selbstbestimmung wird

Die Reisen, auf die Eliza Hittman mitnimmt, sind immer uner­war­tete. Es sind Reisen in die Welt der jungen Erwach­senen, die die jüdisch-ameri­ka­ni­sche Regis­seurin wie durch ein Brennglas einfängt, auf ihre ganz und gar eigene Weise. Keine verkitschten Coming-of-Age-Mythen, sondern ein stetes Lavieren: zwischen der Freiheit und den Ketten der Erwar­tungen, zwischen Lebens­lust und Angst. Wer bin ich, wohin will ich? Es sind Fragen, die uns viel­leicht niemals loslassen, die aber wohl zu keiner Zeit so dringlich, ja: so schmerz­lich sind wie in jenen jungen Jahren des Umbruchs und Aufbruchs zwischen gestern und morgen.

Von diesen Zeiten erzählt niemand so durch und durch ehrlich, so unprä­ten­tiös-einneh­mend wie Eliza Hittman. Gerade einmal drei Filme hat sie gebraucht, um sich als eine der wich­tigsten ameri­ka­ni­schen Inde­pen­dent-Regisseur_innen zu etablieren. In ihrem Lang­film­debüt It Felt Like Love erzählte sie von einer Teenagerin, die ihrer sexuell erfah­renen besten Freundin nach­zu­ei­fern versucht und sich auf einen für seine Promis­kuität bekannten Mann fixiert. In Beach Rats geht es um das heimliche schwule Erwachen eines Halb­starken im sozial schwachen Teil Coney Islands in einer Gesell­schaft voll toxischer Männ­lich­keit und Homo­phobie. In Niemals Selten Manchmal Immer nun, für den sie auf der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausge­zeichnet wurde, erzählt sie von einer ungewollt schwan­geren Teenagerin, die abtreiben will.

Ganz konkret wird die Kunst der Regis­seurin in jenem Moment in Niemals selten manchmal immer, der einem schlicht den Atem raubt. Da sitzt die 17-jährige Autumn (Sidney Flanigan) endlich in der Klinik, die die gewünschte Abtrei­bung vornehmen kann. Vor dem Eingriff muss sie stan­dar­di­sierte Fragen mit »Niemals, selten, manchmal, immer« beant­worten, in denen es um ihr Sexleben, um häusliche und sexuelle Gewalt geht. »Waren sie schon einmal sexueller Gewalt ausge­setzt?« lautet eine der Fragen, die die Sozi­al­ar­bei­terin aus dem Off stellt, während Hélène Louvarts Kamera in einer minu­ten­langen unge­schnit­tenen Kamera Autumns Gesicht einfängt. Es wird zum Spiegel für all den Schmerz, den sie erfahren hat, der jedoch auch hier nicht ganz konkret wird. Selten kommt uns das Kino so nahe.

Hittman ist die Stimme der jungen Erwach­senen, ihre Filme sind pure huma­nis­ti­sche Kine­ma­to­grafie. Sie vermag mit Bildern mehr zu erzählen, als es alle Worte dieser Welt jemals tun könnten. Gemeinsam mit der großar­tigen Hélène Louvart, mit der sie seit Beach Rats zusam­men­ar­beitet, treibt sie diese Kunst in Niemals selten manchmal immer auf knis­terndem, ausge­schos­senem 16mm-Material zur Perfek­tion: mit unauf­dring­li­chen, empa­thi­schen Bildern, die mühelos zwischen Natu­ra­lismus und zutiefst filmi­schen Momenten chan­gieren.

Vieles in dem Film bleibt unaus­ge­spro­chen, braucht nicht ausge­spro­chen werden. Schwei­gendes Einver­nehmen schon, als Autumns Cousine Skylar (Talia Ryder) von ihren Plänen erfährt. Dann die wortkarge Odyssee der fantas­tisch von den beiden Newco­me­rinnen gespielten Frauen: von Autums Heimat­kaff in Penn­syl­vania, hinein in den Groß­stadt­dschungel New Yorks, durch das Gewusel der hier überhaupt nicht mythisch-verträumten Metropole, vorbei an gottes­fürch­tigen Abtrei­bungs­geg­nern, hinein in die Praxen mit all dem medi­zi­ni­schen Instru­men­ta­rium und jenen sensiblen Menschen wie besagter Sozi­al­ar­bei­terin, die tagein, tagaus für ihre Pati­en­tinnen da sind.

Niemals selten manchmal immer ist Hittmans poli­tischster Film. Wenn sie auf der Berlinale-Pres­se­kon­fe­renz davon spricht, »dass Frauen in unserem Land sehr am Rande der Gesell­schaft stehen«, ist das ein direkter Wink in Richtung Regierung Trump, die gegen das in den USA gesetz­lich veran­kerte Recht auf Abreibung poltert. Die Odyssee ihrer Heldin ist ein Finger­zeig, denn trotz gesetz­li­cher Legi­ti­ma­tion wird es Frauen gerade in länd­li­cheren Regionen nicht leicht gemacht. Hittman deutet das in ihrem Film an durch jene nicht bösartige, aber doch bevor­mun­dende Frau­en­ärztin, die die Schwan­ger­schaft fest­stellt und Autumn dazu bringen möchte, an dem Kind fest­zu­halten.

Hittman hat einen brand­ak­tu­ellen Film gemacht, der durch die Politik der Bilder zu einem leise-dring­li­chen Manifest der Weib­lich­keit und der (körper­li­chen) Selbst­be­stim­mung wird. Auch eine wie selbst­ver­ständ­lich durch einen fremden Mann getät­schelte Schulter ist eine Gren­zü­ber­schrei­tung. Mit schmerz­li­cher Nüch­tern­heit fängt der Film ein, was heute als toxische Männ­lich­keit allge­gen­wärtig ist.

Nie sind die Filme von Eliza Hittman den Weg des geringsten Wider­standes gegangen oder haben sich selbst­ver­liebt um sich selbst gedreht. Ihr Kino geht dahin, wo es weh tut, es strotzt vor Leben und Mensch­lich­keit, es will uns nahe kommen, um uns ein tieferes Verständnis zu vermit­teln: Coura­gierte Filmkunst at it’s best.