München – Geheimnisse einer Stadt

Deutschland 2000 · 121 min.
Regie: Dominik Graf, Michael Althen
Drehbuch: ,
Kamera: Martin Farkas
Darsteller: Jeanette Hain, Tim Bergmann, Anette von Klier, Corinna Grözinger u.a.

München – Geheim­nisse einer Stadt ist ein Filmessay, das sich in Wort­reichtum und Gedan­ken­tiefe zwischen Welt­be­spre­chung und Stadt­be­trach­tung aufspannt. Groß- und langatmig mit einlul­lend-ange­nehmer Erzähl­stimme wird die kindliche Entde­ckungs­reise in eine Stadt erzählt, zu einer Zeit, in der die Topo­gra­phie noch bruch­s­tück­haft erfahren wurde, sich nach und nach zusam­men­setzte aus den Bauklötzen und Lego­steinen zu Hause. Das Mini-München unserer Erin­ne­rungen. Die Mysti­fi­zie­rung der Stadt aus dem Kinder­blick heraus, in dem alles noch rätsel­haft-verrät­selt ist. Wie in Der Himmel über Berlin sich das Kind nicht als Kind erkennt, weiß es hier nicht, daß dies eine Stadt ist, in dem es aufwächst. Mit dem unsicht­baren Zentrum des heran­wach­senden Kindes erzählt der Film eine zweifache Initia­tion: in die Stadt und in die Liebe. Denn die Stadt ist immer auch Erfah­rungs­raum, und eine Stadt nichts wert ohne ihre Erzäh­lungen, die sich in ihrem urbanen Netz begeben.

Der Film erfindet die enzy­klopä­di­sche Großlö­sung für das Stadt­por­trät und läßt dabei das Kind zum Erwach­senen werden, dem das Erkennen der inneren Zusam­men­hänge, das Erfassen der Stadt als ein Orga­nismus, dem sich der mensch­liche Körper zuordnet, nichts mehr gilt. Das Aufspüren der Geheim­nisse bedeutet für Dominik Graf und Michael Althen das Projekt, eine Stadt in all ihren Dimen­sionen zu vermessen: der Raum, die Zeit, das Imaginäre. München präsen­tiert sich dabei zutref­fend als eine Stadt, die ganz in den fünfziger und sechziger Jahren verankert ist. Eigen­tüm­lich altbacken im Stadtbild, in dem die Nach­kriegs­ver­gan­gen­heit stets mitge­dacht werden muß. Der zeitliche Bogen, der aufge­spannt wird, reicht von den Kriegs­ge­scheh­nissen bis zur Sonnen­fins­ternis letzten Jahres. Die verdun­kelte Sonne jedoch ist ein infla­ti­onär gewor­denes Bild, das der Film gar nicht erst versucht, perspek­ti­visch auf München zu beziehen. Ortlos aber ist es unspe­zi­fisch für die Stadt und hat allen­falls als Bildzitat des Soleil Noir von Chris Marker ästhe­ti­sche Berech­ti­gung.

Wenn die Zeit die vierte Dimension des Raums ist, so ist die fünfte Dimension das Imaginäre. Und hier beginnen die Erzäh­lungen. Als Miniatur-Foto­ro­mane von Markers »Landebahn« (La Jetée) aus in den Filmessay einge­la­gert, erzählt der Film die unter der Haut der Stadt aufge­spürten Geschichten, eben jene Geheim­nisse, die sich hinter der Mysti­fi­ka­tion der Stadt verbergen. Wie die noch nie erzählte Geschichte von der Kontrol­leurin, die sich nach Liebe sehnt. Oder das, was jeder in München immer und immer wieder erleben darf: Es gibt einen gemein­samen Punkt in der Vergan­gen­heit, der einen aus schon beinahe fami­liären Gründen zusam­men­schweißt. Die Frage, die sich bei den erzählten Mini-Geschichten stellt, ist, ob das Realis­ti­sche zu erzählen nicht schon gelangt hätte. Das Störend-Vers­tö­rende an dem Film ist, wie er München hinter sich läßt, die Stadt über­trumpft mit den Erzäh­lungen, die er erfindet. So die Mini-Geschichte von den zwei Freunden, die in das Schlaf­zimmer ihrer gemein­samen Ex-Freundin einbre­chen und sich in einem wortlosen menage à trois wieder­finden. Oder die kitschige Episode von der Kontrol­leurin, die den Schwarz­fahrer laufen läßt, nachdem er sich mit ihr zum Rendez-Vous verab­redet hat. Ermüdung macht sich breit, wo immer wieder versucht wird, Geheim­nisse zu erzählen, denen das Stigma des Unwahr­schein­li­chen anhaftet. Viel­leicht ist das span­nendste an Geheim­nissen allein der Wahr­heits­wert, der ihnen zu Grunde liegt – unab­hängig davon, ob die Geschichte wahr ist oder nicht.

Die Geheim­nisse einer Stadt aber können allein dem Zuschauer gelten. Und er nimmt den Film und trägt ihn aus dem Kino mit der Frage, welches Bild er selbst wohl München geben würde, welche Geheim­nisse für ihn München bedeuten. Unzählige Kopffilme, die aus dem Kino mitge­nommen werden. Unzählige Geheim­nisse in den Köpfen der Stadt.