Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit

Still Life

Großbritannien/Italien 2013 · 92 min. · FSK: ab 12
Regie: Uberto Pasolini
Drehbuch:
Kamera: Stefano Falivene
Darsteller: Eddie Marsan, Joanne Froggatt, Karen Drury, Neil D'Souza, Andrew Buchan u.a.
Gemeinsamkeit und stille Rebellion

Was ein Lächeln vermag

Was bleibt von einem, wenn man gestorben ist? Erin­ne­rungen an den geliebten Menschen, Gespräche zwischen Verwandten und Freunden über den Verstor­benen, irgend­etwas persön­li­ches. In dem Film Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit ist es eine schmale Akte mit einem Foto, die vom Sach­be­ar­beiter Mr. May mit dem Vermerk »Fall abge­schlossen« zur Seite gelegt wird. Empha­tisch geht er jetzt daran, die Beer­di­gung zu orga­ni­sieren, eine Trau­er­rede zu schreiben. Tief geknickt schreitet er hinter dem Sarg her. Hinter­blie­bene, die den Verstor­benen auf seinem letzten Gang begleiten, gibt es keine. Zerknirscht beob­achtet Mr. May kurz eine Beer­di­gung nebenan, wo sich eine große Trau­er­ge­meinde um das Grab versam­melt hat. Spät am Abend holt er in seiner aufgeräumten Jung­ge­sel­len­woh­nung eben jenes Foto aus der Akte hervor und klebt es in ein Album ein, neben zahl­rei­chen Aufnahmen anderer Verstor­bener. Einer Frau mit Katze, einem Ehepaar, einer älteren, farbigen Frau, einem Rentner und und und. Dann klappt er das Fotoalbum zu, knipst die Tisch­lampe aus. Mr. May ist ein vorbild­li­cher »Funeral Officer« der Londoner Kommu­nal­ver­wal­tung, durch und durch britisch, höflich, in seiner Wortwahl stets bedacht und absolut diskret. Dennoch, in der heutigen Zeit muss ein derart gewis­sen­haft arbei­tender Ange­stellter einer auf Schnel­lig­keit bedachten Kollegin weichen. »Beer­di­gungen sind etwas für die Lebenden. Die gibt es hier nicht. Und die Toten sind tot«, verkündet sein Vorge­set­zter knackig das Arbeitscredo. Gönner­haft betraut er Mr. May mit einem letzten Fall, dem von Billy Stoke.

Irritiert, tief ins Mark getroffen, bleibt Mr. May vor dem Wohnungblock stehen, in dem Billy Stoke gehaust hatte und einsam verstorben war. Stoke war ein Nachbar in seiner Wohn­sied­lung, das Fenster gleich gegenüber. Nach dem ersten Schrecken betritt Mr. May gemeinsam mit dem Haus­meister die Wohnung, um die letzten Habse­lig­keiten dort durch­zu­gehen und auf Hinweise nach Verwandten zu durch­stöbern. Mr. May ist kein Dauer­g­rinser, kein Ratio­na­li­sierer, keiner, der viel quatscht, sondern ein Mensch, mit einem tiefen Gefühl für Verstor­bene und dem Tod an sich in einer entseelten Gesell­schaft. Das Credo seines Vorge­set­zten wider­strebt ihm zutiefst. Eine Gesell­schaft, die nicht genau hinschaut, nur auf Zack ist, ist nicht sein Ding. Mit seinem letzten Fall regt sich Wider­stand, eine stille, aber heftige Rebellion keimt auf. Er vertieft sich in den Fall Stoke, sucht nach dessen Freunden und spürt tatsäch­lich eine Verwandte, Stokes Tochter, auf. Mr. May verlässt seinen Kokon, begibt sich auf unge­wohnte Wege. Plötzlich reist er in verlas­sene Gegenden Englands, nimmt auf den Stufen einer Kirche einen kräftigen Schluck Alkohol mit Obdach­losen, blickt weniger steif nach links und rechts, wenn er eine Kreuzung überquert. Eine Freund­schaft zu Billy Stoke, einem Frau­en­held, Vaga­bunden und Lonly Hero, entsteht, über den Tod hinaus.

Eddie Marsan nennt Mr. May’s Wandlung in dem Drehbuch als »bis zur Schmer­z­lich­keit berührend«. Unglaub­lich ausdrucks­stark spiegelt Marsan dessen innere Regungen in Seiten­bli­cken, dem Drehen des Kopfes, Heben der Augen­brauen, in den kargen Sätze und einem Lächeln wider. Kleinste Regungen, die ein reiches Innen­leben, mit all seinen Erschüt­te­rungen und Bestre­bungen erahnen lassen. Gebannt schaut man diesem Schau­spiel, Mr. May’s Wandlung, zu.

Regisseur Uberto Pasolini (Macham, Regie; The Full Monty, Produk­tion) wählt für seinen zweiten Spielfilm anfäng­lich blasse Farben, kühle, strenge Bilder. In weiter Ferne fühlt man sich an großes briti­sches Kino vergan­gener Tage erinnert, etwa The Servant von Joseph Losey. Mit der Wandlung des Prot­ago­nisten jedoch hellen die Farben auf, die Strenge der Bilder weicht. Es gerät Bewegung ins (Kamera)Spiel. Seinem Prot­ago­nisten gleich verwei­gert sich der Film in Machart und Erzähl­weise dem allgemein gras­sie­renden rasanten Still­stand; insgeheim fordert er ganz altmo­disch ein Rück­be­sinnen auf soziale Kompo­nenten eines jeden Einzelnen und stille Rebellion. Insgesamt betrachtet ist Mr. May somit ein entschleu­nigter Film, mit exzen­tri­schen Szenen und briti­schem Humor (Und manchmal wiederum blitzt Pasolinis Blick, der eines Italie­ners, auf die Kultur Großbri­tan­niens durch; etwa in den Neben­szenen, wenn es um britische Kost geht).

Am Ende vermag Mr. May sich statt einem routi­nierten Alltag wieder dem Leben zuzu­wenden – und er lächelt. Letzlich jedoch wählt Uberto Pasolini in Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit einen Schluss, der den Erzäh­lungen des Schrift­stel­lers Antonio Tabucchi gleicht: poetisch, traumhaft entrückt und von großer Wucht.