Memento

USA 2000 · 113 min. · FSK: ab 16
Regie: Christopher Nolan
Drehbuch:
Kamera: Wally Pfister
Darsteller: Guy Pearce, Carrie-Ann Moss, Joe Pantoliano, Mark Boone Junior u.a.
Der Mann ohne Gedächtnis

part I

Man kann lernen, in diesem Film, wie das Erinnern funk­tio­niert. Wie es dich austrickst, dich anschmiert, dich an der Nase herum führt. Aber auch: wie man selbst die Hand im Spiel hat, die Dinge mani­pu­liert in der Erin­ne­rung, wie man alles sich so hindreht, wie man es – insgeheim – haben will. Der Zweck heiligt die Mittel. Man kann sich diesen Film, Memento, ganz brav, als Puzzle­spiel einrichten, ein bisschen Detektiv spielen und am Ende angeben, ob auch wirklich alles zusam­men­passt. Oder.

Leonhard Shelby ist einem Mörder auf der Spur. Dem Typ, der seine Frau umge­bracht hat. Im Hand­ge­menge hat auch Shelby selbst was abge­kriegt, jetzt hat er kein Kurz­zeit­ge­dächtnis mehr. Medi­zi­nisch gesehen. Man könnte sagen, und das wäre dann fast roman­tisch, dass sein Leben endet mit dem Tod seiner Frau, alles subsu­miert sich in diesem Moment und nichts, was danach geschieht, ist von Bedeutung. Leonhard jagt den Killer, den die Cops nie zu fassen kriegten. Sein Handicap: dass er sich nicht erinnern kann an die Fort­schritte, die er dabei macht. Aber Leonhard weiß sich zu behelfen, mit Pola­ro­id­fotos, Notizen, Täto­wie­rungen. Eine Rächer­ge­schichte also, inklusive femme fatale und undurch­sich­tigem Freund­feind. Alles ziemlich straight. Soweit.

Fragmente, Bruch­s­tücke, Impres­sionen. Rück­blenden? Memento bricht die Chro­no­logie der Handlung auf. Das allein kein Verdienst. Die Ordnung der Dinge auf den Kopf stellen heißt letztlich nur die Ordnung der Dinge bestä­tigen. Der Reiz des Detek­tiv­spiels: Rekon­struk­tion (der Ordnung). Ordnung ist Kontrolle. Ist Sicher­heit. Versi­chert uns unseres Platzes in der Welt. Leonhard Shelby, in seinem früheren Leben, war Versi­che­rungs­agent.

Man kann sich selbst beim Arbeiten, beim Ordnen beob­achten während man Memento sieht. Merkt, wie man die Puzzle­teile zusammen zu fügen versucht, wie man dieses ordnende Instru­ment der Erin­ne­rung anstrengt, um zwischen Gegenwart und Vergan­gen­heit das Gesehene auf die Reihe zu kriegen. Wie man seinen eigenen Stand­punkt zu bestimmen sucht im Verhältnis zur Geschichte. Man hat uns nun beige­bracht, dass man zur Orien­tie­rung das gesamte Areal im Auge haben muss, am besten aus der Vogel­per­spek­tive. Roter Punkt in der Land­schaft: Sie befinden sich hier.

Und von hier aus: weiter im Detek­tiv­spiel, Schnit­zel­jagd, am Ende wird’s schon aufgehen. Man kann, wie gesagt, die Geschichte aufdrö­seln, die Puzzle­teile schön zusam­men­setzen. Man muss nur wollen. Dann wird man, und das ist jetzt schon ein Verdienst, zumindest einen cleveren, span­nenden Thriller zu sehen bekommen, der reichlich an Über­ra­schendem bereit­hält.

Oder. Sich auf das Chaos einstellen. Das geht. Es gibt, wunder­ba­rer­weise, den Moment in diesem Film, da man sich bewusst entscheiden kann gegen den Ordnungs­drang. Die Wahr­neh­mung annähern an den Zustand des Prot­ago­nisten. I have this condition. Irgendwo zwischen deja vu und nie gesehen. Nicht mehr wissen, was man gerade, vor fünfzehn Minuten, gesehen hat. Nicht wirklich wissen, wo man ist auf dem Spiel­brett. Und wie das Spiel­brett überhaupt aussieht. Erin­ne­rungs­lü­cken. Kontroll­ver­lust. Die Angst, was verpasst zu haben, den Schlüssel zum Ganzen. Die Angst, überhaupt. Memento ist ein Horror­film.

Memory is treache­rous. Manchmal, wenn man nach Jahren einen Film wieder sieht, ein Buch wieder liest, stellt man fest, dass man alles ganz anders in Erin­ne­rung hatte. Sehen wir, was wir sehen? Beein­flusst das Wahr­ge­nom­mene überhaupt den Text, den wir uns dazu ins Gedächtnis schreiben? Oder erzählen wir nur immer wieder neu, was wir längst wissen. Über­schreiben, korri­gieren, über­ar­beiten wir lediglich einen ersten Entwurf? Unheim­li­cher Gedanke, das. Erin­ne­rung als Laufrad, Gedächtnis eine Hamster Factory und wir die Hamster. Tatsäch­lich sind wir Autisten. Der Blick bleibt immer nach innen gerichtet.

Filme sind jeden­falls nie gut oder schlecht. Objektiv betrachtet. Weil: es gibt nicht zwei Menschen die den selben Film sehen, wenn sie den selben Film sehen. Subjektiv betrachtet sind die guten Filme viel­leicht die, die uns helfen, etwas zutage zu fördern aus dem Dunkel. An die Ober­fläche. Wo wir es fest­halten können. Und betrachten. Wie eine Täto­wie­rung, ein Memento.

part II

Memory is treache­rous. Gedächt­nis­verrat, qu'est-que c'est? Verrät uns, täuscht uns, trügt uns die Erin­ne­rung? Oder verraten wir, indem wir uns erinnern, die Wahrheit? Gibt es Wahrheit jenseits der Erin­ne­rung? Gibt es, überhaupt, irgend­etwas jenseits der Erin­ne­rung? Entweder. Alles ist/wa(h)r wie erinnert. Oder. Nichts ist/wa(h)r wie erinnert. Wahrheit ist gleich der Summe aus Alles und Nichts. Plus Eins Minus Eins Ist Gleich Null.

Wahrheit ist Glau­bens­sache. Wer die Wahrheit glaubt, die Objek­ti­vität, die Fakten-Fakten-Fakten, erntet das Heils­ver­spre­chen: du kannst reden ohne über dich zu reden. Du kannst erkennen ohne Selbst­er­kenntnis (the horror, the horror). Die Wahrheit ist lesbar und über­prüfbar außerhalb des Körpers. Wahrheit ist das Gegenteil der Angst. Der Wahr­heits­be­griff ist der Segen des Ego te absolvo a te.

I have this condition. Gedächt­nis­lücke, Gedächt­nis­ver­lust. Oder auch: Rückkehr zum Ursprung, Stunde Null, ground zero. Der Geburts­fehler: am Anfang war die Leinwand der Erin­ne­rung Tabula Rasa. Dann der tägliche, mühselige Akt des Beschrei­bens. Wir lernen, dass es gut ist, die Leere zu füllen. Dass es notwendig ist, die Leere zu füllen. Muss sein, Über­le­bens­stra­tegie. Nur. Wenn man später drauf­kommt, was man (auf)zeichnen möchte, welches Bild man entwerfen könnte und zu welchem Ende, ist die Leinwand voll. Fluch der Erin­ne­rung, es lässt sich nicht willent­lich auslö­schen, was man einmal, im Leicht­sinn, im Zorn, im Eifer fest­ge­halten hat. Über­schreiben. Das ja. Vincent van Goghs Selbst­por­träts, eines über das andere gemalt, immer auf der selben Leinwand. Selbst­stu­dien, Selbst­ent­würfe, Selbst­ver­such. Über­schreiben ist nicht auslö­schen, ist über­de­cken. Verhält sich zum Ursprungs­text wie Ich zum Es. Das Ich, welches man abstreifen wollte, wie die Schlange die alte Haut, lässt sich wieder freilegen, rekon­stru­ieren. Perfider Verrat an der Selbst­be­stim­mung. Wir werden dich immer heraus­finden.

Außer. I have this condition. Keine Krankheit, sondern sich ständig perpe­tu­ie­render Rückfall in den Natur­zu­stand. Paradise regained, wieder und wieder. Man kommt aber nicht ganz herum um das Aufschreiben. I forgot to remember to forget... Die Sprachen, die Schrift­zei­chen sind die kleinen Grab­steine der Geschichte... Der Körper ist eine besondere Leinwand, wenn auch zu bedenken ist: memento mori. Aufschreiben ist Auslö­schen, ist ein Verstoßen all dessen, was wir nicht memo­rieren wollen/können/dürfen, ist Tötungsakt. Erinnern ist Vergessen. Auch erinnern wir nicht ein Ereignis, sondern können lediglich (nach)lesen, was wir uns dazu ins Gedächtnis geschrieben haben. Und weil wir das Ereignis selbst vergessen haben, ist das Memo­rierte nicht über­prüfbar. Erin­ne­rung = the perfect crime.

Tattoos sind die Fenster zur Seele. Täto­wieren ist das Ritual des Be-Schrei­bens. Ich zeige dir, was mir unter die Haut geht. Das Tattoo: scheinbar aufge­tragen, tatsäch­lich hervor geholt. Das Zeichen liegt unter der Ober­fläche, wie etwas, das herauf getrieben wird aus dem Dunkel, vom Grund eines zuge­fro­renen Sees, bis dicht unter das Eis. Aber macht dich wirklich lesbar, was du dir auf-schreibst? Jedes Tattoo bezeichnet zugleich mehr und weniger als es abbildet. Jedes Tattoo ist ein Rätsel. Ein Rätsel will ich bleiben, mir selbst und anderen.