Maria Montessori

La nouvelle femme

F/I 2023 · 101 min. · FSK: ab 0
Regie: Léa Todorov
Drehbuch:
Kamera: Sébastien Goepfert
Darsteller: Jasmine Trinca, Leïla Bekhti, Rafaëlle Sonneville-Caby, Raffaele Esposito, Laura Borelli u.a.
Mit den Kindern auf Augenhöhe
(Foto: Neue Visionen)

Becoming Maria Montessori

Faszinierende Inklusion: Lea Todorov Filmbiographie gelingt eine sensible, differenzierte und hochaktuelle Darstellung – selten gibt ein Spielfilm behinderten Menschen ähnlich viel Raum

Die meisten kennen Maria Montes­sori (1870 bis 1952) als Gründerin und Namens­patin der nach ihr benannten Schulen und Kinder­gärten mit frei­heit­li­cher inklu­siver Pädagogik. italie­ni­sche Ärztin, Psycho­login und Reform-Pädagogin. Ihr Motto war immer: »Hilf mir, es selbst zu tun.« Sie hat dafür plädiert, »Kinder als Bürger« mit gleichen Rechten zu betrachten, die möglichst selbst­be­stimmt lernen sollen. Sie war eine frühe Vorrei­terin der Inklusion behin­derter und einge­schränkt begabter Kinder.

Wie sie wurde, was sie war, zeigt nun der italie­nisch-fran­zö­si­sche Spielfilm Maria Montes­sori der Französin Léa Todorov. Der Film ist eine klas­si­sche Film­bio­gra­phie und in seinem Stil main­streamig im guten Sinn: Er ist leicht zugäng­lich, eingängig erzählt, oft mit Musik untermalt; mit edler Licht­set­zung und sorg­fältig gestal­teten Einstel­lungen entstehen »wertige« Bilder. Es gibt viele in ihren Heimat­län­dern bekannte Darsteller, allen voran die hier­zu­lande immer noch unter­schätzte Italie­nerin Jasmine Trinca (La Storia) in der Titel­rolle.
Neben der Konzen­tra­tion auf das beruf­liche Leben Maria Montes­soris gibt es auch nicht zu wenig Romantik in dem Sinn, dass es hier immer wieder auch um die Liebes­be­zie­hungen von Maria Montes­sori geht. Zudem dreht sich ein Erzähl­strang um ihren unehe­li­chen Sohn – das war zu dieser Zeit ein durchaus hand­festes Problem.

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Der Film verbindet die reale Geschichte Montes­soris mit der fiktiven von Lili d’Alengy (Leïla Bekhti), einer Pariser Edel-Kurtisane. Beide Frauen haben viel gemeinsam. Sie sind progressiv und revo­lu­ti­onär in den Zeiten vikto­ria­ni­scher (und katho­li­scher) Gesell­schafts­moral.
Lili hat eine geistig behin­derte Tochter. Sie schämt sich für sie und bringt sie in Montes­soris Heim für behin­derte Kinder. So wird Lili stell­ver­tre­tend für uns zur Zeugin für Montes­soris Methoden.

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Aber in aller­erster Linie dreht sich der Film um die allge­meinen wie subjek­tiven Aspekte im Leben einer Frau dieser Epoche, der Zeit um 1900. Es geht also um die Eman­zi­pa­tion der Frau. Gerade dieser Aspekt, dass Montes­sori auch eine Vorrei­terin in vieler Hinsicht war – die erste Frau, die es durch­setzte, in Italien Medizin studieren zu dürfen – ist heute ein bisschen unter­be­lichtet. Davon habe ich bislang jeden­falls nichts gelesen.

Und dann erzählt der Film von Montes­soris beson­derer Zuwendung zu Behin­derten und lern­be­schränkten Kindern.

Der Film spielt haupt­säch­lich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, bevor die Frau die berühmte Maria Montes­sori war und ihre Pädagogik entwi­ckelte; man darf dabei aber nicht vergessen, dass sie später auch vom Faschismus bereits sehr früh ins Exil getrieben wurde. Dies ist vor allem wichtig, und sollte nicht vergessen werden, wenn jetzt manche – vor allem aus jenen erzka­tho­li­schen und stock­kon­ser­va­tiven Kreisen, die schon immer gegen Reform­pä­d­agogik gewesen sind – darauf aufmerksam machen, dass Montes­sori auch vom Rasse­de­nken und euge­ni­schem Gedan­kengut ihrer Zeit beein­flusst war. Denn dann ist fest­zu­halten, dass die Faschisten, die ja Rassisten waren, mit Montes­sori offenbar nicht viel anfangen konnten. Dies auch weil Montes­sori ja eben Behin­derte und einge­schränkte oder lern­be­hin­derte Menschen gleich behandelt hat, Menschen die nach dem Rasse­de­nken »lebens­un­wertes Leben« waren.

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Léa Todorovs Film ist kein Doku­men­tar­film. Zugleich ist es so – soweit der Rezensent (mit abge­schlos­senem Geschichts­stu­dium, aber klarer­weise kein Montes­sori-Experte) dies in den wenigen Tagen, die zur Vorbe­rei­tung einer solchen Film­kritik bleiben, über­prüfen konnte –, dass hier alles auf beleg­baren Tatsachen fußt. Der Film ist erstaun­lich nüchtern, insofern er die Fakten einordnet und in einen histo­ri­schen Zusam­men­hang stellt. Todorov versucht, Maria Montes­sori aus ihrer Zeit zu verstehen, nicht aus unserer Gegenwart.
Die Regis­seurin inter­es­siert sich ganz offen­sicht­lich in erster Linie für die histo­ri­sche Figur, und auch für Montes­soris neuen Ansatz der Kinder-Pädagogik – es geht Todorov dabei gar nicht darum, nur eine strah­lende Heldin­nen­ge­schichte zu erzählen. Sie erzählt auch die Schat­ten­seiten. Aber dies ist schon ein Film, der einem breiten Publikum eine unge­wöhn­liche und auch etwas verges­sene Frau nahe­bringen will, und dafür alle filmi­schen Register zieht.

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Zwei Aspekte ragen besonders heraus. Dieser Film gibt der Arbeit mit Behin­derten sehr viel Raum. Das bedeutet auch Raum in der Darstel­lung von Behin­derten. Zum einen zeigt der Film, dass das, was wir Behin­de­rung nennen, eben oft genug einfach eine andere Befähi­gung ist, eine Beson­der­heit, die man mit beson­deren Mitteln, mit Empathie und Subjek­ti­vität fördern und freilegen kann. Die Darstel­le­rinnen und Darsteller dieser Kinder und Jugend­li­chen sind selbst offen­sicht­lich teilweise schwer behindert. Ich habe selten einen Film gesehen, wo es ähnlich natürlich und unver­krampft neben­ein­ander statt­findet, dass gesunde und einge­schränkte Menschen zusammen spielen. Das zu sehen ist außer­or­dent­lich spannend und unge­wöhn­lich.

Der zweite Aspekt ist die schon erwähnte Eman­zi­pa­tion; also die »Frau­en­frage«. Wir übersehen ja oft, wie die Verhält­nisse noch vor kurzem waren. Ich selbst bin noch zu einer Zeit geboren, als meine Mutter theo­re­tisch zumindest den Ehemann um Erlaubnis fragen musste, wenn sie arbeiten wollte – das sollten wir nicht vergessen!

Dieser Film zeigt sehr gut, wie altbacken und tradi­tio­na­lis­tisch die Geschlech­ter­ver­hält­nisse selbst zu in anderer Hinsicht schon sehr modernen Zeiten waren. Gerade dagegen kämpfte Montes­sori an. Sie war damit auch unter ihres­glei­chen, also unter anderen gebil­deten Frauen umstritten. Es gab Frauen, die diese Form von Eman­zi­pa­tion einfach nicht wollten und sich von Montes­sori provo­ziert fühlten.
Insofern zeigt dieser Film ganz gut, warum Montes­sori auch heute noch provo­ziert – weil sie gegen die Normen, gegen das soge­nannte vermeint­lich Normale und gegen einfache Wahr­heiten ankämpfte. Und man kann viel­leicht in diesem Zusam­men­hang auch daran erinnern, dass der Origi­nal­titel dieses Films in Frank­reich La nouvelle femme lautet – die neue Frau. Das sagt eigent­lich schon alles.

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Auch gerade vor dem Hinter­grund der aktuellen Debatte um Montes­soris Denken hilft einem dieser Film, sich ein eigenes und breiter fundiertes Urteil zu bilden. Denn man erfährt hier viel und auf eingän­gige Weise. Der Film gibt mehreren unter­be­lich­teten Themen Raum.

Denn in der Erin­ne­rung an Maria Montes­sori geht es ja vor allem darum, dass sie gegen die alte »Rohr­stock­pä­d­agogik« angekämpft hat – keiner will heute dahin zurück. Natürlich sieht man im Rückblick manche ihrer Ansichten diffe­ren­zierter, aber an Montes­soris Bedeutung für die Revo­lu­tion der Kinder­er­zie­hung kann kein Zweifel bestehen. Sie hat den Umgang mit Kindern, nicht nur die Kinder­er­zie­hung, extrem voran­ge­bracht.