Love Exposure

Ai no mukidashi

Japan 2008 · 236 min. · FSK: ab 16
Regie: Sion Sono
Drehbuch:
Kamera: Sohei Tanikawa
Darsteller: Takahiro Nishijima, Hikari Mitsushima, Sakura Ando, Hiroyuki Onoue, Yutaka Shimizu u.a.
Das Kreuz mit der Liebe

Und schon wieder ist eine Stunde vorbei: Sono Sions großar­tiger Love Exposure erzählt kurz­weilig episch aus dem Reich der Zeichen und eröffnet das Berlinale-Forum 2009 – später gewann der Film den Preis der Inter­na­tio­nalen Film­kritik (Fipresci) und den Caligari-Preis

»Jesus, vergib diesen Vollidioten«

Wie soll man diesen Film beschreiben? Vier Stunden, aber überaus kurz­weilig. Ernst, klug und witzig, eine über­bor­dende, irgendwie durch­ge­knallte Story, die Voyeu­rismus, Katho­li­zismus, Tabu­brüche und Befrei­ungs­akte wild durch­ein­an­der­quirlt, eine Bilder-Pop-Extase, an der man sich nicht sattsehen mag, und japa­ni­sche Pulp Fiction, die jedes, aber auch wirklich jedes Vorurteil bestätigt, dass wir schon immer über Japan hatten. Und widerlegt. Einfach atem­be­rau­bend.

In der 55-ten Minute dieses Films sieht man eine Straßen­kreu­zung in Tokio. In der Mitte liegt ein Platz für Fußgänger, ein Stück jener entfremden, einfalls­losen Stadt­ar­chi­tektur der Gegenwart: Ein paar Trep­pen­stufen, auf denen sich Passanten behelfs­mäßig nieder­lassen, ein paar Beton­klötze, die von Skate­boar­dern als Sprung­schanze genutzt werden, ein paar Pflanzen, lieblos in Stein­wannen arran­giert. Dort lauert am hell­lichten Tag eine mindes­tens drei­zehn­köp­fige Straßen­gang einem Schul­mäd­chen auf. Sie wollen sie demütigen, im Auftrag einer femme fatale, die wie eine Unglücks­botin über dieser Geschichte schwebt – eine Kraft, die stets das Böse schafft. Yoko, das Mädchen, kniet kurz nieder, die Augen gehen zum Himmel, und sie seufzt aus tiefstem Herzen: »Jesus, vergib diesen Voll­idioten.« Dann nimmt sie den Kampf auf.

In diesem Augen­blick, an dieser Wegkreu­zung ereignet sich das »Wunder«, das im Film zuvor bereits durch verschie­dene Inserts – »noch x Tage/Minuten bis zum Wunder« – angekün­digt war: Yu und Yoko, das einst­weilen künftige Liebes­paar dieses Films, trifft sich zum ersten Mal, erkennt sich, wenn auch noch auf eine verquere Weise, die im Folgenden zunächst mehr verwirrt, als Klarheit schafft. Denn zunächst beginnt für die beiden Haupt­fi­guren auch ein Kreuzweg, der derart viele Leiden und schwere Heraus­for­de­rungen parat hält, dass man als Zuschauer mehr als einmal am glück­li­chen Ausgang dieser Geschichte zweifeln muss – auf das Happy End darf man sich in japa­ni­schen Filmen allemal weitaus weniger verlassen, als im Kino des Westens.

Es ist dies auch der Augen­blick dieses Films, in dem alle Erzähl­fäden zum ersten Mal zusam­men­laufen, an dem er seinen ersten Höhepunkt erreicht: Ein Augen­blicks reinsten Kinos: Bewegung, Musik, Rhythmus, Schnitt fallen in eins, Maurice Ravels »Bolero«, der in seiner sich ständig verzö­gernden, zugleich sich ständig stei­gernden Bewegung, bereits etwa knapp vierzig Minuten mehr oder weniger am Stück im Off laufend diesen Moment vorbe­reitet hatte, stoppt, der Titel erscheint: Love Exposure, frei übersetzt: »Die Erschei­nung der Liebe«. Und eine andere, eine moderne Musik setzt ein.

Als diese 55-te Minute erreicht ist, ist erst ein knappes Viertel dieses Films vorbei. Und doch vergeht er wie im Fluge, kurz­weilig wie wenig in diesem Kinojahr, über­bor­dend wie nichts, einfalls­reich und poetisch, wie in den Werken der größten Autoren­filmer. Es ist gar nicht so, dass Sono Sions Love Exposure perfekt wäre. Aber der Film macht so vieles richtig, ist so originell, so über­ra­schend und bezau­bernd, dass es auf die kleineren Unzu­läng­lich­keiten gar nicht mehr ankommt.

Eine zweite Schlüs­sel­szene, da ist der Film gerade mal drei Stunden alt: Ein Liebes­kampf am Strand, man hört gele­gent­li­ches Meeres­rau­schen, aus dem Off ertönt der berühmte zweite Satz aus Beet­ho­vens siebenter Symphonie und Yoko weint bittere Tränen tiefster Verzweif­lung. Die Kamera zeigt ihr Gesicht in Groß­auf­nahme und es füllt die ganze Leinwand aus. Das junge Mädchen rezitiert den Korinther 13, eine der schönsten Bibel­stellen überhaupt – sie handelt natürlich von der Liebe: »Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, und hätte die Liebe nicht, wäre ich ein tönernd' Erz... Die Liebe aber höret niemals auf.«

Kitsch ist das nie, sondern ein erlesen insze­nierter, benei­dens­wert stimmig kompo­nierter Kino­mo­ment, Pathos pur, eine Erfahrung, wie sie im zeit­genös­si­schen Kino weit­ge­hend vergessen scheint. Immer wieder hebt dieser Film einfach ab und reißt alles mit, was sich ihm in den Weg stellt, auch die Reserven des Zuschauers – Kino als unter­halt­same, bewegende Gren­z­er­fah­rung.

Die beiden beschrie­benen Momente sind nur zwei von gut zwei Dutzend mehr oder weniger atem­be­rau­benden Szenen in Love Exposure (im Original: Ai no mukidashi), dem neuesten Werk des japa­ni­schen Regie-Grenz­gän­gers Sono Sion. In diesem Film begegnet man der Zukunft des Kinos. Aber hätte Beethoven schon Filme gemacht, davon ist sein später Fan Sion in aller Beschei­den­heit überzeugt, dann wären sie so ähnlich wie seine.

Eigent­lich erzählt Sono Sion eine ganz einfache und überaus eingän­gige Geschichte, die älteste Story der Welt. Sie handelt von der Liebe. Eigent­lich. Sie sieht nur auf den ersten Blick nicht so aus. Auf den ersten Blick ist Love Exposuredas reine Chaos. Ein überaus exzen­tri­scher Film, ein wilder undis­zi­pli­nierter Stilmix, zusam­men­ge­halten durch die Absicht, das reich­hal­tige Terrain der Perver­sion und des Tabu­bruchs zu erfor­schen, und erklärbar am ehesten durch das, was man so in unseren Brei­ten­graden für »typisch japanisch« hält. Wild und undis­zi­pli­niert ist Love Exposure tatsäch­lich, und er mischt alles Mögliche, wenn auch durchaus schlüssig, zusammen. Zudem ist er obsessiv. Der Film bemüht sich wie sein Regisseur Sono Sion auch schon bisher – Strange Circus, Suicide Circle, Hair Exten­sions waren auch in Deutsch­land im Kino und sind bis heute hier zumindest auf DVD leicht erhält­lich – bewiesen hat, nie um Ausge­wo­gen­heit oder Zurück­hal­tung. Aber darin ähnelt sein Werk nur den Filmen von Luis Bunuel oder den Texten von Georges Bataille. Sion selbst nennt zwar mit Fass­binder und Casa­vettes noch klas­si­schere Autoren­filmer als seine Vorbilder, offen­kundig ist aber der Bezug auf Shake­speare, und das barocke Kunst­ver­s­tändnis, das Sions Film dominiert: Er ist voller Ornamente, Manie­rismen, Trompe l’oeils und Perspek­tiv­wechsel; Pathos und opulente Sinn­lich­keit sind in diesem Werk zentral, das ganz auf jene Zurück­hal­tung verzichtet, die das europäi­sche Vers­tändnis japa­ni­scher Kunst, auch Kinokunst prägt. Was man Love Exposure jederzeit ansieht, ist die umfas­sende kultur­his­to­ri­sche Bildung des Regis­seurs, seine zahllosen, nie ober­fläch­li­chen Refe­renzen an die Musik- und Film­his­torie, an die Religions- und Kultur­ge­schichte Europas und Ostasiens.

Boy meets Girl meets Girl

Wie will man eine solche Erfahrung beschreiben, wie einen Film zusam­men­fassen, der vier Stunden lang ist, und dabei, man kann es gar nicht anders sagen, ziemlich kurz­weilig? Ein Versuch, die Ebenen, die im Kino überaus fein und clever, mit einer Insze­nie­rungs­kunst, die den Betrachter auch nach dritten Ansicht dieses Films frappiert, inein­ander verwoben sind, wieder ausein­ander zu schnüren, könnte ungefähr so aussehen: Zum einen, erzählt der Film wie gesagt, eine Liebes­ge­schichte. Sie ist ganz klassisch, und knüpft west­eu­ropäi­sche Motive an: Zwei Liebende werden einge­führt, die – daraus macht der Film nie ein Geheimnis – fürein­ander bestimmt sind. Boy meets Girl.

Aber da wird es schon kompli­ziert. Sie verfehlen sich immer wieder, sind zuerst durch Abneigung verbunden, sind zudem ange­hei­ra­tete Geschwister, und da bei ihrer ersten Begegnung Yu als Frau verkleidet war, denkt Yoko eben, sie habe sich in eine Frau verliebt... Und ist dadurch auch sexuell zutiefst irritiert, glaubt, dass sie eine »Perverse« sei. Genauso könnte man also sagen: Girl meets Girl. Diese Ebene der Geschlech­ter­ver­wechs­lungs­komödie kennt man schon von Shake­speare. Weil Sasori, die »Lady Scorpion« mit schwarzem Hut und scharfen Samurai-Schwert, aber eine mythische (und bise­xu­elle) Figur des japa­ni­schen Kinos der 70-er Jahre ist, spielt der Regisseur hier auch ein bezie­hungs­rei­ches Spiel mit der Kino­ge­schichte. Man merkt schon: In seiner barocken Überfülle macht das Zeichen­system, das Sion hier entfaltet, viel Entschlüs­se­lungs­ver­gnügen, und ist dabei immer kurz­weilig – aber eben auch nicht unkom­pli­ziert.

Yu, die Haupt­figur, verliert bereits in den ersten Film­mi­nuten als kleiner Junge seine Mutter. Nun sucht er »meine Maria«, die große Liebe, die ihm seine Mutter am Ster­be­bett verspro­chen hatte. Im Folgenden ist er psycho­ana­ly­tisch charak­te­ri­siert durch einen klas­si­schen ödipalen Konflikt: Die Verklärung der Mutter, der Wunsch, ihrer unsterb­li­chen Liebe gerecht zu werden. Und der Rivalität mit dem Vater, der Kampf um väter­liche Aner­ken­nung der als Konkur­renz ausge­tragen wird. Es ist auch ein Kampf mit einer reli­giösen Autorität, denn dieser Vater ist nach dem Tod der Mutter katho­li­scher Priester geworden, ein sündiger aller­dings, der mehrfach einer alternden Femme Fatale verfällt. Um so mehr, will er seinen Sohn zur Reinheit erziehen, zwingt ihn zur täglichen Beichte. Die Beichte, so denken auch nicht­ka­tho­li­sche Menschen, sei doch eine unge­heurer prak­ti­sche Einrich­tung, weil man hier einfach ganz schnell alle seine kleinen und größeren Sünden loswerden kann, gegen einen gewissen Obolus zwar, aber mit dem Vorteil danach mit einem unbe­las­teten Gewissen durchs Leben zu gehen. Was aber, wenn man gar keine Sünden zu beichten hat? Yu sorgt dafür dass das anders wird.
Es ist bemer­kens­wert, dass auch aus Japan ein Kinowerk derart ausführ­lich und ernsthaft von Religion handelt, und mit reli­giöser Meta­phorik arbeitet – noch bevor im Mai in Cannes in zwei groß­ar­tigen Filmen Michael Haneke die Abgründe eines Pfarr­hauses, und reli­giösen (und väter­li­chen) Zwang ins Zentrum von Das weiße Band stellte, und bevor Lars Von Triers Anti­christ unter anderem einen Vater/Gatten als bösen Thera­peuten-Patriarch portrai­tierte.

Auch Hexen gibt es in Love Exposure. Die dritte Haupt­figur ist nämlich die Mitschü­lerin Kaori, die zusammen mit ihren beiden Freun­dinnen und (fast) ständigen Beglei­te­rinnen exakt den drei Hexen ähnelt, die in Shake­speares »Macbeth« die Ereig­nisse durch magische Fern­steue­rung ins Rollen bringen, die Umwertung aller Werte betreiben. Durch väter­liche Verge­wal­ti­gung trau­ma­ti­siert und wahn­sinnig geworden, agiert Kaori als verfüh­re­ri­sche wie hyste­ri­sche Femme Fatale, und Anfüh­rerin zwei weiterer, dem Wahn und Verbre­chen verfal­lener junger Frauen. Sie wird zudem zynische Anfüh­rerin einer radikalen, anti-christ­li­chen, Terror-Sekte – Erin­ne­rungen an die mörde­ri­sche Aum-Erlö­sungs­sekte, deren sinistre Anschläge die japa­ni­sche Gesell­schaft nach­haltig vers­törten, sind keines­wegs unbe­ab­sich­tigt. Es gibt also hier auch eine politisch-soziale Ebene voller Zeit­be­züge zur japa­ni­schen Gegen­warts­ge­sell­schaft. Über allem steht die Entfal­tung von Facetten der Sexua­lität, vor allem ihre japa­ni­schen Spiel­arten, zu denen die Akzeptanz von Porno­gra­phie ebenso gehört, wie die schwer vers­tänd­liche Faszi­na­tion für Upskirt-Foto­grafie und der hohe Stel­len­wert jeder Form von Voyeu­rismus.

Noch wichtiger als alles dies bleibt aber die Insze­nie­rung, ihre Origi­na­lität und die Verwen­dung der filmi­schen Mittel, eine visuelle Ökonomie der Verschwen­dung, die in der Gegenwart ohne jedes Beispiel ist: Sono Sion schafft dichte, groß­ar­tige Kino­mo­mente. Sein Film ist ganz und gar Pop in Reinform; ein eklek­ti­scher Zusam­men­fluss von Hoch­kultur und Trash, erzählt mit viel Lust an Ellipsen und Exkursen, voller Refe­renzen – musi­ka­lisch an sakrale Gesänge, Beethoven und den erwähnten Ravel, ebenso wie an Heavy Metal, west­li­chen und japa­ni­schen Pop; filmisch an Kubrick, Bunuel und Bresson, den Yakuza-Film und das Martial-Arts Genre; in der Erzähl­form zudem stark beein­flusst von Manga-Comics. Und dabei eine große Kinooper, die in ihrer Form allen Gewohn­heiten zuwider läuft, jeden Rahmen sprengt. In fünf Akten und vier Stunden wird die Story voran­ge­trieben. Das alles ist ungemein souverän insze­niert, in über­zeu­genden Rhythmus-Wechseln, mehr­stimmig aus sprin­genden subjek­tiven Perspek­tiven, in eksta­tisch-über­bor­den­dendem Anti­na­tu­ra­lismus. Love Exposure mischt das zumindest auf den ersten Blick Unver­ein­bare: Katho­li­zismus und sexuelle Perver­sion, Kampf­kunst und Romantik, reli­giöses Sektie­rertum und libertäre Gesinnung, Sünde und Unschuld. Der Punkt, an dem sich das alles trifft und vereint, ist der einzige, der dazu in der Lage ist: Die Liebe, wie gesagt. In seinem ganzen wunder­baren kunter­bunten Formen­wahn­sinn ist Love Exposure ein ganz klas­si­sches Hohelied der Liebe.

Man könnte, ja, man muss hier wohl noch lange weiter­ma­chen, wenn man den ästhe­ti­schen wie geistigen Reichtum dieses Films analy­tisch ausschöpfen möchte. Ein Film, der hoffent­lich seine Wirkung beim Publikum wie bei anderen Filme­ma­chern nicht verfehlen wird. Ist das nun, wie man so sagt, »typisch japanisch«? Viel­leicht. Aber nur in seinem unbe­dingten Willen zur Form, dem Wissen, dass man im Kino nur etwas erreicht, wenn man in Bildern erzählt, und den Mut hat, über Grenzen zu gehen. Wie viele seiner japa­ni­schen Künst­ler­kol­legen und wie nur wenige Europäer besitzt Sion einen produk­tiven Wahnsinn, Mut zur Pein­lich­keit, wie unge­hemmte Lust daran, scheinbar Unpas­sendes durch­ein­an­der­zu­wür­feln.
Wie jedes große Kunstwerk ist Love Exposure ein einzig­ar­tiges Kino­er­lebnis. Es ist, einmal muss man das hinschreiben, ein genialer Film. Love Exposure hat alles. Er ist einfach atem­be­rau­bend. Der Film des Jahres.