L.I.E. – Long Island Expressway

L.I.E.

USA 2001 · 97 min. · FSK: ab 12
Regie: Michael Cuesta
Drehbuch: , ,
Kamera: Romeo Tirone
Darsteller: Paul Franklin Dano, Bruce Altman, Billy Kay, James Costa u.a.
Gary (Billy Kay) und Howie (Paul Franklin Dano)

Ambivalenz und Puritanismus in der Vorstadt

Eine Verfüh­rungs- und Initia­ti­ons­ge­schichte

Der 15-jährige Howie Blitzer wächst in einer Suburb auf, deren Atmo­s­phäre ganz vom in der Nähe vorbei­lau­fenden Highway und seinem steten Brausen der Autos geprägt wird. Die Nüch­tern­heit und Anony­mität, die von dieser Schnell­ver­kehrs­straße ausgeht, gibt dem ganzen Ort ein merk­würdig distan­ziertes, irgendwie frostiges Gepräge, obwohl eigent­lich Sommer ist. Aber das Klima, das die Bilder vermit­teln, ist ein emotio­nales und es entspricht durchaus der Stimmung, in der Howie Blitzer lebt: er fühlt sich fremd, unver­standen, verlassen. Die Mutter Howies kam vor einiger Zeit bei einem Unfall auf dem Highway um, der Vater Marty Blitzer scheint sich um den Sohn nicht besonders zu kümmern, macht sich vor allem Gedanken darüber, ob sein Bauch schon weniger geworden ist und wie er seine nicht ganz sauberen Geschäfte abwickeln kann. Er ist Bauun­ter­nehmer, beim Vögeln mit seiner Geliebten trägt er einen Bauhelm, das schützt während des akro­ba­ti­schen Aktes seinen Kopf bei den heftigen Stößen gegen die Wand vor Verlet­zungen. Während des Gestöhnes und Gerumpels steht Howie vorm Bade­zim­mer­spiegel und probiert den Lippen­stift seiner Mutter aus.

Gerade an der prägnanten und präzisen Gestal­tung von solchen Szenen zeichnet sich ab, daß wir es hier nicht mit einer weiteren Insze­nie­rung eines der üblichen Teenager-Dramen zu tun haben, die in einem sauberen und öden Vorort und im gepflegt lang­wei­ligen Milieu des gehobenen Mittel­stands spielen. Was einem als Stoff schon sattsam bekannt vorkommen könnte, wird in diesem Film nämlich auf eine wirklich irri­tie­rende Weise neu darge­boten.

Und tatsäch­lich kommt das alles ja auch vor, das Rumhängen mit den Kumpels, das pubertäre Gealbere und Gefrotzel um Sex, Probleme mit der Schule, die Howie als Walt Whitman rezi­tie­renden, auch selbst schrei­benden Poeten natürlich lang­weilen muß. Auch das Krimi­nelle wird gestreift: von seinen Kumpels läßt sich Howie zu gele­gent­li­chen Diebes­zügen in reiche Villen mitnehmen. Zwischen dem tonan­ge­benden Gary und Howie deuten sich in der Freund­schaft Züge an, die homo­ero­ti­sche Akzente tragen, etwa wenn Gary Howie dazu ermuntert, sich seines Körpers nicht zu schämen. Über Gary und einen von ihm initi­ierten Diebeszug zu einem bestimmten Haus setzt dann eine Wendung ein, die den Film dann definitiv auf ein beson­deres Terrain führt, nämlich zu der von Brian Cox verkör­perten Figur des BigJohn. Diese Figur eines Ex-Marine verleiht der Gestalt des Päde­rasten eine an die Antike gemah­nende Sinnen­fro­heit und Gelas­sen­heit und Souver­änität, einen Epikuräismus, den auch Walt Whitman besungen hat.

Wenn Big John an dem Stof­fetzen schnüf­felt, den er Howie aus seiner Jeans gerissen hat, als er die diebi­schen Jungs im Keller beim Klauen seiner wert­vollen Pistolen über­rascht, aber nicht erwischt hat, wenn er gewis­ser­maßen Witterung aufnimmt und zu den Klängen von Donovans »Hurdy-Gurdy-Man« durch die idyl­li­sche Vorstadt fährt und auf der Suche nach dem Träger der Hose ist und seinen Blick über die von ihren Müttern behüteten Knaben in den Vorgärten schweifen läßt, dann schillert der Film vor Hinter­trie­ben­heit und Ambi­va­lenz. Die puri­ta­ni­sche Aura der Vorstadt bekommt eine geradezu sinnliche Qualität, ohne ihre Sprödheit einzu­büßen. Was die Bilder des Films, seine Farben, sein Licht, seine Atmo­s­phäre insgesamt auszeichnet, verdichtet sich in diesen Szenen des fahn­denden Blickes BigJohns. Über diese Figur erschließen sich auch neue, insbe­son­dere den ahnungs­losen Howie über­ra­schende Facetten der Persön­lich­keit seines Freundes Gary. Der hatte nämlich bereits als Strich­junge nähere Bekannt­schaft mit BigJohn geschlossen. Der Diebstahl der Pistolen aus dem Haus BigJohns, dessen Urhebern BigJohn ohne große Mühe auf die Schliche gekommen ist, veran­lasst Gary dann aller­dings, aus Long Island einfach abzuhauen. Man kann sich gut vorstellen, daß Gary sich mit dem Schwarz­geld, das er im Haus der Blitzers aus Marty Blitzers Schlaf­zim­mer­kom­mode noch schnell entwen­dete, in einen Larry-Clark-Film abgesetzt hat. Wo Dinge vorkommen, die es in L.I.E. nicht gibt, Drogen zum Beispiel. Aber das gehört zum gewis­ser­maßen puris­ti­schen Konzept Michael Cuestas. Er unter­streicht damit die puri­ta­ni­sche Aura seines Films, die er viel wirkungs­voller durch die subtile, immer die Verfüh­rung strei­fende Annähe­rung zwischen Howie und BigJohn zu ambi­gu­i­sieren versteht.

Als Gary verschwunden ist und dann auch noch von Howies Vater keine Spur mehr da ist (er wurde vom FBI verhaftet, ohne daß Howie dies mitbe­kommen hätte), sieht sich Howie tatsäch­lich voll­kommen verlassen dastehen. BigJohn, der plötzlich überall da auftaucht, wo Howie Schwie­rig­keiten hat (beim Schul­di­rektor, beim Leiter des Poli­zei­re­viers), nimmt sich seiner an. Vater, großer Bruder, lebens­kluger Ratgeber und sensibler Verführer, alles fügt sich auf fast schon beängs­ti­gende Weise in dieser Gestalt zusammen, die für Howie eine Initia­tion in das Leben und die Welt der Erwach­senen bedeutet. Cuesta getraut sich in diesem Zusam­men­hang gar, die Poesie der ersten Rasur (mit Pinsel, Schaum und altmo­di­schem Rasier­messer) zu beschwören, und ihm gelingt es, nicht nur diese Szene elegant und stil­si­cher zu absol­vieren, ohne dabei auf seine Erfahrung als Werbe­filmer für unver­bind­liche Glätte und bloß deko­ra­tive Ober­fläche zurück­greifen zu müssen.

Insgesamt ist es vor allem der stilis­ti­sche und inhalt­liche Grenzgang, der faszi­niert: L.I.E. vermengt College-Ulk, sexuelle Initia­tion, adoles­zente Verwir­rung und jugend­liche Delin­quenz zu einer sorg­fäl­tigen und einge­henden Studie, die immer auch Distanz gegenüber der Haupt­figur des Howie Blitzer wahrt. Damit markiert Regisseur Michael Cuesta so etwas wie Respekt vor seinem Helden und vermeidet pädago­gi­sche Anbie­de­rung und Verein­nah­mung, maßt sich dabei eben­so­wenig eine Haltung an, die so tut, als könne sie sich restlos hinein­denken in die Gefühls­welt Howies. Diese Balance zwischen Befremden und Teilnahme gibt dem ganzen Film eine eigen­ar­tige, auch mora­li­sche Neutra­lität und Ambi­va­lenz: der objek­ti­vie­rende Zugriff des Films spiegelt nämlich gewis­ser­maßen Howies Gefühl der Fremdheit seiner Umwelt gegenüber, behauptet aber nicht, damit eine iden­ti­fi­ka­to­ri­sche Entspre­chung anzu­bieten. Die Fremdheit wird durch die Bilder oft in präzisen Moment­auf­nahmen einge­fangen, gele­gent­lich auch mit Hilfs­mit­teln wie Zeit­raffer verdeut­licht, und zwar als eine, die sich verge­gen­s­tänd­licht in der Atmo­s­phäre der Nüch­tern­heit und Sprö­dig­keit, die die Schau­plätze kenn­zeichnet (sympto­ma­tisch dafür das Haus der Blitzers mit seiner Ausstrah­lung einer protes­tan­ti­schen Kirche).

Charak­te­ris­tisch in diesem Zusam­men­hang ist, daß das Sexuelle in diesem Film deutlich und explizit benannt und thema­ti­siert, aber nicht in Bildern gezeigt wird. Cuesta gehorcht damit zwar rein äußerlich gewis­ser­maßen einem Bilder­verbot, dem Geiste nach verstößt er dagegen aber massiv und handelte sich in den USA ein Rating ein, das den Film erst ab 17 freigab. Das demons­triert, daß Cuesta die puri­ta­ni­sche Moral an einem empfind­li­chen Punkt erwischt hat, nämlich dem der Freiheit zum Imagi­nieren als dem eigent­li­chen Kern eines solchen Tabus. Und in der Tat nimmt es Cuesta mit dieser Freiheit der Imagi­na­tion sehr genau in seinem Film, indem es ihm gelingt, die Konven­tionen des Realismus, des Genres und der Moral nicht einfach auszu­schalten oder zu mißachten, sondern sie auf Distanz zu rücken. Sie einzu­klam­mern, um sich mit ihnen ernsthaft ausein­an­der­setzen, um sie über­prüfen zu können im Hinblick auf das, was Howie und die anderen Figuren mit ihrem Leben anfangen können. Der damit geschaf­fene Freiraum des Erzählens ist ein tenta­tiver, einer der sich langsam durch die Geschichte voran­tastet und immer wieder neue Aspekte erfühlen und weiter­ver­folgen könnte. Viel­leicht mußte das Ende des Films darum so uner­wartet gewaltsam ausfallen, mußte eine Möglich­keit der Weiter­ent­wick­lung der Geschichte definitiv abbrechen und einen mehr oder weniger will­kür­li­chen Punkt setzen.