Der Krieger und die Kaiserin

Deutschland 2000 · 129 min. · FSK: ab 12
Regie: Tom Tykwer
Drehbuch:
Kamera: Frank Griebe
Darsteller: Franka Potente, Benno Führmann, Joachim Król, Lars Rudolph u.a.

Wenn Sissi geht, dann blitzen ihre weißen Schenkel unter dem groben Kleid hervor. Dann hat sie die Hand abge­spreizt, als würde sie sich durch die Welt tasten. Wie in Trance, so scheint es, aber mehr noch hat sie einen Sensor ausge­fahren, der sie durch die Welt führt. Sissi ist keine Winter­schlä­ferin, sie ist hellwach. Wenn sie zu Beginn des Films in der Irren­an­stalt einem Blindem einen Eiswürfel über den Arm gleiten läßt, dann geht es um den körper­li­chen Zustand der Gänsehaut, um das aufmerk­same Fühlen und um die Sensoren der Haut.

Wenn Sissi geht, dann gibt sie dem Film seinen Atem. Ihr Gehen, der Rhythmus der Kaiserin, treibt die Handlung voran. Der Film steht still, als das Atmen, das Gehen von Sissi aussetzt, sie von einem Tankwagen über­fahren wird. Die Kamera verharrt auf ihrem Gesicht, der Ton kriecht in ihre Gedanken hinein, und erst wenn Bodo, der Krieger, ihr das Messer in die Luftröhre rammt und Sissi wieder atmen kann, setzt sich der Film wieder in Bewegung.

Der Krieger und die Kaiserin ist ein langsamer Film. Er nimmt sich Zeit, die Figuren zuein­ander zu führen, die Geschichten hinter den Figuren zu erzählen. An der Kreu­zungs­stelle der Handlung jedoch, kurz vor dem Moment, an dem sich die Bewe­gungs­li­nien, die Lebens­li­nien von Krieger und Kaiserin treffen werden, beschleu­nigt sich der Film. Bodo rennt, rennt vor seinen Verfol­gern davon und springt auf einen Tankwagen. Die das Bild domi­nie­rende Farbe ist das Rot, die Signal­farbe von Tempo und Beschleu­ni­gung.

Und wie in Lola rennt führt Tykwer auch hier die Hand­lungs­ver­ket­tung vor, zeigt, daß die Gescheh­nisse im Leben eine Abfolge von Ereig­nissen ist, die nicht geplant sein kann, die sich aber auch nicht zufällig ergibt. Der Krieger und die Kaiserin, das sind nicht allein die Prot­ago­nisten einer Liebes­ge­schichte, das sind für Tykwer vor allem Spiel­fi­guren, die er über das große Schach­brett des Films verschiebt, um die große Frage aufzu­werfen, die spätes­tens seit Lola rennt das Zentrum seiner Filme bildet: Was steht über allem, über der Geschichte des Films, über dem Leben? Ist es der Zufall? Ist es das Schicksal?

Tykwer kann hier auf das formale Spiel verzichten und über den Film die Über­zeu­gung setzen, die er gefunden zu haben scheint: Das Leben verkettet sich, alles hängt mitein­ander zusammen, die Vergan­gen­heit mit der Gegenwart, die Gegenwart mit dem, was passieren wird. Die Frage des »Was wäre gewesen, wenn?«, die Tykwer von Lola durch­laufen ließ, war für ihn nie nur exercice de style, sondern dekli­nierte das Schicksal im Zeichen der Zufäl­lig­keit durch. Um zu sehen: das Schicksal bildet immer den Zufall ab. Und wirft dabei immer den Tod auf, das Sterben, das allem ein Ende setzen kann. Die Möglich­keit des Sterbens, das Ankommen im meta­phy­si­schen Raum stellt wie schon bei Lola rennt die Zäsuren im Ablauf des Films, Null­punkte, von denen aus die Figuren wieder neu agieren können. Das Spiel ist nie aus, aber es liegt auch nicht alles in der Hand der Figuren. Die Chance, die ist immer auch von einer höheren Macht vorge­geben. Und die höhere Macht, das ist der schick­sal­hafte Zufall. Das ist Meta­physik, exis­ten­tia­lis­tisch gedeutet.

Und so ist es zwar ein Zufall (oder eben schick­sal­haft gefügt), daß Sissi sich in der Bank aufhält, als der Bankraub des Kriegers schief­läuft. Aber es ist kein Spiel von Liebe und Zufall, wenn sie in die Gescheh­nisse eingreift, sie dem Sicher­heits­be­amten sagt: »Das geht jetzt nicht. Das ist nicht der Plan«, ihm die Pistole abnimmt. Sie wird hier zu einer Figur, die über den Ereig­nissen, über dem Film steht. Ihr Handeln begleitet das Wollen, und das liegt jenseits der Passi­vität einer Figur, die Schicksal und Zufall unter­liegt. Wenn sie sagt: »Das ist nicht der Plan«, dann sagt sie, ich will diese Wendung der Handlung nicht. Ich bin die Kaiserin, und ich will den Krieger.

In Tykwers Film fügt sich alles. Nicht nur die Lebens­li­nien der Figuren, die endlich zuein­an­der­finden. Tykwer scheut nie, auch noch das letzte Detail der Handlung in das große Ganze einzu­passen. So wie das Amulett, das Sissi für ihre Freundin aus der Bank holt. Es trägt das Foto einer Frau, und Bodo sagt: »Ich kenn diese Frau. Ich hab sie beerdigt.« Tykwer reizt hier das Drehbuch bis zum Äußersten, bis zum gerade noch Erträg­li­chen. Aber er forciert dabei eines: Das Zusam­men­treffen von Ereig­nissen, das mehr ist als Zufäl­lig­keit. Das ist die harte Kontin­genz des Märchens, in dem der Zufall Notwen­dig­keit ist in einem in sich geschlos­senen Universum. Hier reduziert sich die Wirk­lich­keit auf das Eindeu­tige, auf das Typen­hafte. Der Krieger, das ist einer, der eine innere Verwun­dung in sich trägt, nicht das Trauma von Vietnam, sondern das Tank­stel­len­t­rauma. Und die Kaiserin der Psycha­trie wird ihm helfen, das Trauma zu über­winden. Die Kaiserin wird mit ihren Eiswür­feln das Feuer des Kriegers löschen.

Diese Naivität der Erzählung spiegelt sich in der Einfach­heit, mit der sich der Film arti­ku­liert. Nicht nur das Reden der Figuren ist von einer Direkt­heit geprägt, das sagt, was es meint, um von der Oberfäche der Sprache aus in die Dinge hinein­zu­for­schen. Auch die Film­sprache, die die Symbole der Handlung klar einander zuordnet, garan­tiert den Blick in die tiefe Verflech­tung der Figuren, die da gemeint ist. Es mag stören, daß der Film nichts offen läßt, daß er alles beendet, alles schließt. Aber es soll nicht vergessen werden: auch Lola rennt hatte in seiner Offenheit immer schon den geschlos­senen Horizont vor Augen. Das wieder­holte Erzählen, das Noch einmal! ist der Drang, die Wirk­lich­keit zu umschließen, sie zu erfassen, in der Ganzheit ihrer Möglich­keiten. Und diesmal hat sich Tykwer von vorn­herein entschieden. Für das Ganze und Voll­s­tän­dige. Für ein Märchen.

Das Kino ist das Medium des Zufalls

Unfälle sind – wie der Begriff schon belegt – »Nicht-Fälle«, Ausnah­me­si­tua­tionen, Grenz­er­fah­rungen. Unfälle können scho­ckieren, hilflos machen und sie können Leben verändern. Das kennen wir nicht nur aus unseren eigenen Erfah­rungen, das wissen wir vor allem auch aus dem Kino. Tom Tykwers Filme handeln oftmals von Unfällen, in Winter­schläfer wird die kleine Tochter des Berg­bauern zum Opfer und in Lola rennt erwischt es einmal Manni, der aber bekannt­lich ja noch eine Chance bekommt. Im neuen Tykwer-Film Der Krieger und die Kaiserin wird Sissi (Franka Potente) von einem Tank­lastzug über­fahren: Die Zeit bleibt stehen, denn sie kann nicht mehr atmen. Doch da kommt Bodo (Benno Fürmann) und rettet sie gekonnt mit einem Luftröh­ren­schnitt. Sissi ist nach wenigen Wochen schon wieder geheilt »Der Arzt sagt, es wäre ein Wunder.«, doch ihr Leben ist nicht mehr das gleiche wie zuvor. Sie kann nur noch an ihren Retter denken und macht sich auf die Suche nach ihm. Da stellt sich heraus, dass Bodo ein sehr schwer zugäng­li­cher Typ ist und selbst zuerst gerettet werden muss, denn er fühlt sich schuldig am Tod seiner Frau. Als er zusammen mit seinem Bruder Walter (Joachim Król) versucht, eine Bank auszu­rauben, geht alles schief und es bleibt nur noch die Flucht. Sissi hilft ihm und sie hilft sich selbst, weil sie erkannt hat, dass ihr Leben nicht so weiter­gehen kann.

Was sich hier ein wenig hand­ge­strickt anhört, ist nichts anderes als ein modernes Märchen. Eine Ausnah­me­si­tua­tion hat die Prot­ago­nisten aus ihrem alltäg­li­chen Leben heraus­ge­rissen und jetzt müssen sie sich den Prüfungen stellen, die von ihnen abver­langt werden. Im Mittel­punkt steht, wie schon bei Lola rennt, die Über­zeu­gung, dass wir unser Leben selbst in die Hand nehmen können und dass es immer wieder Zufälle gibt (oder Schicksal?), die uns neue Wege eröffnen. In einem Interview zu Lola rennt hat Tom Tykwer einmal gesagt: »Es ist tatsäch­lich ein Film über die Möglich­keiten des Kinos, aber immer mit der Anbindung an die Frage: Welche Möglich­keiten haben wir im Leben? Von jedem Menschen strahlt ein Kosmos lebens­ver­än­dernder Gele­gen­heiten ab.« (NZZ v. 10.9.98). Das gilt für Sissi und Bodo in gleichem Maße wie für Lola. Der oft gezogene Vergleich der Tykwer-Filme mit dem Werk von Krysztof Kies­lowski ist sehr stimmig, weil hier ebenfalls die Themen Zufall, Schicksal, Tod, Leben und Alltag im Zentrum stehen. Auch Kies­lowski hat eine Vorliebe für Unfälle, weil sie immer auch Zufälle sind und verschie­dene Ereig­nis­stränge einer Geschichte mitein­ander verflechten können, denn unser Schicksal ist immer mit dem Schicksal anderer Menschen verbunden. Die Eingangs­se­quenz von Der Krieger und die Kaiserin zeigt den Weg eines Briefes von Frank­reich nach Deutsch­land. Das erinnert sehr an den Beginn von Kies­low­skis Drei Farben – Rot, der den Weg eines Tele­fon­ge­sprächs anhand der Tele­fon­lei­tungen verfolgt. So weit mein Beitrag zur Suche nach inter­tex­tu­ellen Verweisen in den Filmen der beiden Regis­seure.

Dem Film Der Krieger und die Kaiserin ist vorge­worfen worden, er wäre überladen, er würde um sich selbst kreisen und hätte eine unrea­lis­ti­sche, naive Story. Es stimmt, hier werden zahl­reiche Klischees bedient, die Psych­ia­trie und ihre Freaks, die Ex-Bundes­wehr-Soldaten als Kampf- und Waffen-Fans, ein Banküber­fall, ein Auto­un­fall usw. Doch bei dieser Argu­men­ta­tion wird übersehen, dass hier nicht die Dichte und Komple­xität des Plots im Vorder­grund steht, sondern die visuelle Erzähl­struktur, die freilich auf Bilder ange­wiesen ist, die beim Zuschauer etwas auslösen. Und da kann man den Filme­ma­chern nur einen tiefen Respekt zollen. Hier wird kaum geredet, aber wer so mit Bildern sprechen kann, der braucht sich nicht auf das Glatteis der gespro­chenen Dialoge begeben. Sprache besitzt immer den Beige­schmack einer nicht hinter­geh­baren Gültig­keit, einer fest­ge­mau­erten Verbind­lich­keit zwischen den Sprechern. Der Volksmund behauptet, ein Bild sage mehr als tausend Wörter, aber das stimmt so nicht, ein Bild sagt genau das, was ich mir als Betrachter dabei asso­zi­iere. Leider gibt es viel zu wenige Tom Tykwers und Frank Griebes, die es höchst kunstvoll verstehen und den Mut aufbringen, eine filmische Narration ganz den Bildern anzu­ver­trauen. Denn auf diesem Weg funk­tio­niert das Kino auch heute noch trotz aller Bilder­fluten als Traum­fa­brik, die es zulässt, unseren eigenen Traum im Anschluss an die gezeigten Bilder zu imagi­nieren, mögli­cher­weise sogar ein Traum, der uns über die zwei Stunden des Films hinaus beschäf­tigt. Und viel mehr kann man sich von einem Kinofilm doch gar nicht wünschen.