King of Devil's Island

Kongen av Bastøy

N/F/S/PL 2010 · 116 min. · FSK: ab 12
Regie: Marius Holst
Drehbuch: ,
Kamera: John Andreas Andersen
Darsteller: Stellan Skarsgård, Benjamin Helstad, Kristoffer Joner, Trond Nilssen, Morten Løvstad u.a.
Mit heißem Herzen gezeigte Geschichte

Jugend.Macht.Anstalten.

Ein Strich auf dem oberen Teil des Rückens. Ein anderer weiter unten. Der markierte Bereich ist das Feld für die Hiebe. Wie ihm geheißen liest der Eine vor und lässt die Peitsche an der Haut des Anderen schnal­zend abprallen, zuerst zaghaft, dann immer fester. Nicht aus Freude an der ihm oktroy­ierten Aufgabe. Wut und Enttäu­schung stehen ihm ins Gesicht geschrieben über den Anderen, der früher zu fliehen versuchte, als er es ihm verspro­chen hatte.

Die beiden Jungen sind Antipoden in einer so genannten „Besse­rungs­an­stalt für vernach­läs­sigte Kinder“ anno 1916 auf der norwe­gi­schen Insel Bastøy: Olaf, dem sie, aus nichtigem Anlass, schon vor langer Zeit seinen Namen genommen und aus ihm die Nummer C1 gemacht haben. Der nach Jahren der Inhaf­tie­rung durch Disziplin und Gehorsam zum Bara­cken­vor­steher wurde und kurz vor seiner Entlas­sung steht. Und der etwas ältere Neuan­kömm­ling Erling, der sein bishe­riges Leben als Waljäger zusammen mit seiner Kleidung abgeben musste und sich als „C19“ von Anfang an gegen die in der Anstalt herr­schenden Zustände auflehnt. In The King of Devil’s Island lässt Regisseur Marius Holst die beiden gegen­sätz­li­chen Tempe­ra­mente freund­schaft­lich zuein­ander finden – dabei werden Kräfte entfacht, von denen niemand unberührt bleibt.

Aus mehreren Gründen ist dies ein wichtiger Film: In der Einrich­tung, die in der ersten Hälfte des vergan­genen Jahr­hun­derts tatsäch­lich auf der kleinen Insel vor den Toren Oslos exis­tierte, wurden unzählige Knaben und junge Männer, die meist aus armen Verhält­nissen stammten, inter­niert und miss­braucht. Holst verhilft den Opfern nicht nur zu einem Platz im kollek­tiven Gedächtnis einer erst vor kurzem von Gewalt trau­ma­ti­sierten Nation, sind die Anschläge von Utøya und Oslo doch noch nicht einmal ein Jahr her. Er hat seine inten­siven Recher­che­ar­beiten über die damalige Anstalt mit ihren Bestra­fungs­riten und immer wieder statt­fin­denden Revolten zudem in eine fiktive Geschichte gewoben, die kein Grusel­ka­bi­nett kleiner Monster erschafft wie man es aus vielen Inter­nats­filmen- und Romanen kennt. Zeitraum und Sujet sind zwar durchaus vergleichbar mit Das weiße Band, wie bei Haneke fungiert psychi­sche und physische Gewalt unter dem Etikett protes­tan­ti­scher Erziehung als syste­mer­hal­tendes Instru­ment, auch hier wird der „ehrliche, beschei­dene Christ“ als pädago­gi­sches Ziel genannt. Holst stattet seine jungen, scheinbar ohnmäch­tigen Figuren aber mit modernem Selbst­be­wusst­sein aus, das sie die Kräf­te­ver­hält­nisse in knappen klaren Dialogen analy­sieren und ihre Konse­quenzen ziehen lässt. Sie geben Gewalt­er­fah­rungen nicht unter­ein­ander weiter, weder Intrigen noch hinter­lis­tige Pläne bestimmen den Plot. Vielmehr entwi­ckeln sie unbewusst eine Art Para­päd­agogik im doppelten Mikro­kosmos Anstalt/Insel, wo die Werte, die das Leitungs­per­sonal pharisäer­haft hochhält, mit neuen Inhalten gefüllt werden. Sprache ist dabei nicht der Kanal ihrer komplexen Gefühle, denn diese sind in den jungen Körpern so gefangen, wie sie selbst es als Inhaf­tiere auf Bastøy sind. Statt­dessen quittiert die Dauer eines verhar­renden Blicks die unvor­stell­baren Unge­rech­tig­keiten, bewertet die Inten­sität einer Geste die jeweilige Situation. Dies aus den Laien-Nach­wuchs­dar­stel­lern heraus­zu­holen und mit den richtigen Bild­aus­schnitten einzu­fangen, macht The King of Devil’s Island sehens­wert.

Als promi­nenter Publi­kums­ma­gnet dient dem Film vor allem der viel­sei­tige Schwede Stellan Skarsgård, der sowohl als zwie­lich­tiger Martin Vanger in David Finchers „Verblen­dung“ als auch an der fröhlich-fruch­tigen Seite von Merryl Streep in Mamma Mia! über­zeugte. Hier gibt er den nicht empa­thie­freien, aber vor allem unauf­rich­tigen Anstalts­di­rektor, dem die inneren Konflikte mehr und mehr ins Gesicht geschrieben stehen und der eine grandiose Wut auf die Erwach­se­nen­welt zu provo­zieren vermag.

Besondere Aufmerk­sam­keit verdienen auch die Natur­auf­nahmen. Wie in einer Grisaille gezeichnet scheinen sie in düsteren Farben die Grenzen zwischen Tag und Nacht aufzu­heben. Während in der Fauna die punk­tu­ellen Verbün­deten der Unter­drückten zu finden sind, sei es als schutz­be­dürf­tige Trost­spender, Boten der Hoffnung oder als Sinnbild kämp­fe­ri­scher Unbeug­sam­keit, ist das Meer das uner­bitt­liche Leitmotiv des Films, sein Rauschen im Duett mit dem Heulen des Windes die wieder­keh­rende akus­ti­sche Unter­tei­lung, in der Musik ab und zu wohl­do­sierte Akzente setzt.

Der Oslofjord, der tief ins Land ragt und Bastøy eingrenzt, spannt den Bilder­bogen am Anfang und Ende, seine tosenden Wellen bestimmen den Hand­lungs­ver­lauf. Das tut dem Film nicht immer gut, gerade in der ersten Hälfte beraubt er sich durch die Vorwärts-/Rück­wärts­be­we­gungen seiner eigenen Dynamik, die er beim Einläuten des Finales, unter anderem dank guter Schnitt­ar­beit, zum Glück wieder­ge­winnt. Leider wirkt das Ende dann unglaub­würdig, arg konstru­iert und lässt die inter­es­sant gestellte Frage danach, ob und inwieweit sich unge­rechte Systeme wirklich verändern lassen, etwas merk­würdig im Raum stehen. Wer jedoch die kämp­fe­ri­sche Kraft der mit heißem Herzen gezeigten Geschichte zu spüren vermag, wird auch über die eine oder andere erzäh­le­ri­sche Schwäche hinweg­sehen können.

Die Stunde des Leviathan

Das Meer ist aufge­wühlt, Gischt schäumt. Ein riesiger weißer Wal kämpft um sein Leben, Walfänger haben ihn harpu­niert, doch er hat den Kampf noch nicht aufge­geben; im Gegenteil wird er in seiner Verwun­dung noch gefähr­li­cher für die Menschen. Mit diesen Bildern voll mythi­scher Kraft, die später noch mehrfach wieder­kehren eröffnet der Film, und es ist klar, dass sie symbo­lisch gemeint sind: Für Thomas Hobbes wurde der biblische Wal, der »Leviathan« in seinen unbe­greif­li­chen Dimen­sionen zum Ursymbol des briti­schen Bürger­kriegs, der im 17. Jahr­hun­dert alle bekannten Maßstäbe sprengte. Ein König wurde damals geköpft, eine Diktatur zunächst errichtet und dann gestürzt, und zwischen­durch regierte immer wieder das nackte Chaos. All diese Erfah­rungen brachten den briti­schen Philo­so­phen zu einem ebenso kühl analy­sierten wie rigiden Mensch­bild und Vorschlägen für ein nicht unbedingt gedeih­li­ches, aber zumindest mögliches Mitein­ander in Frieden. »Furcht und Eigennutz«, so Hobbes, seien die einzigen Triebe, die das Indi­vi­duum beherrschten, im Übrigen sei jeder Mensch dem anderen »ein Wolf«. So propa­gierte er den Staat des Abso­lu­tismus, doch zugleich, »sobald Leib und Leben gefährdet sind«, hat bei Hobbes jeder Einzelne ein unein­ge­schränktes »Recht auf Wider­stand«.

Genau diese Kate­go­rien der Hobbes­schen Staats­theorie – Ordnung und Chaos, Furcht und Freiheit, Autorität und Wider­stand – setzt der norwe­gi­sche Regisseur Marius Holst nun in seinem Spielfilm King Of Devil’s Island (Kongen av Bastøy) nun in überaus frucht­barer Weise mitein­ander in Beziehung: Holst gelingt ein span­nendes Film­ex­pe­ri­ment über den Natur­zu­stand mensch­li­cher Bezie­hungen, über das, was noch da ist, wenn fast nichts mehr da ist.

Die Vorstel­lung eines Natur­zu­stands vor aller Zivi­li­sa­tion war schon immer ein Konstrukt. Und etwas von einem Labor­ver­such hat das Szenario, mag alles hier sich auch, wie bereits der Vorspann versi­chert und ein paar histo­ri­sche Doku­men­tar­bilder im Abspann beglau­bigen, auf histo­ri­sche Fakten beziehen: Zwei Jugend­li­chen landen man zu Beginn auf Bastøy, einer abge­schlos­senen, im eisigen Winter malerisch schnee­be­deckten Insel. Dort befindet sich nichts als eine soge­nannte »Schule« für soge­nannte »unan­ge­passte« Jugend­liche. Doch die Schule ähnelt eher einem norwe­gi­schen Alcatraz, und die Insassen dieses Gefängnis' werden zu härtester Arbeit gezwungen – im Namen christ­li­cher Moral, versteht sich. Man schreibt übrigens das Jahr 1915, aber alles könnte auch hundert oder zwei­hun­dert Jahre früher spielen – wie aus einem Dickens-Roman wirken die Verhält­nisse.
Wir erleben, wie die Jungen zu Anfang gleich­ge­schaltet werden: Sie müssen sich nackt ausziehen, und mit den Zivil­klei­dern und dem Namen auch ihre bisherige Identität hinter sich lassen, werden auf eine Nummer reduziert, gezielt schick­a­niert, um »gebrochen« zu werden. Einer der beiden Neulinge, Erling, nun C 19, war ein junger Walfi­scher und stark genug zur Selbst­be­haup­tung unter unmensch­li­chen Bedin­gungen. Der andere, C 5 ist schwächer und wird an ihnen zugrunde gehen. Sie lernen die anderen kennen, und die subtilen Hier­ar­chien innerhalb dieser Gesell­schaft der Unfrei­wil­ligen.
Zunächst glaubt man, dies alles schon mehr als einmal gesehen zu haben: »Boarding-School-Filme«, die Geschichten erzählen über abge­le­gene Internate, die mit ihren strengen Regeln und über­holten Ritualen wie eine Skla­ven­insel funk­tio­nieren, in denen Direk­toren wie Dikta­toren herrschen, und alle angepasst sind – bis auf ein paar Rebellen. Dann kommt ein Neuer an, und alles ändert sich. Oder »Gefäng­nis­filme«, mit brutalen Wärtern, und den ganz eigenen Gesetzen zwischen den Gefan­genen verschie­densten Schlages. Schule und Gefängnis sind sich in solchen Filmen ähnlicher, als es uns lieb sein, kann: In beiden Fällen sind sie Mittel eines brutalen Gesell­schafts-Regimes, das seit Hobbes seine Absichten kaum geändert hat, aber schlauer geworden ist in den Methoden, mit denen es seine Bürger zu diszi­pli­nieren und zu kontrol­lieren sucht, abrichten will aufs Funk­tio­nieren.
Es ist eine bewegende Zuschau­er­er­fah­rung, dann zu erleben, wie die Jungen allmäh­lich aufbe­gehren, wie der Keim des kommenden Aufstands durch die Hoff­nungs­lo­sig­keit gelegt wird – die Geburt der Revolte aus der Verzweif­lung. Und wie die Auto­ritäten bis zum Ende nicht begreifen, was ihnen blüht, und was sie dagegen tun könnten. So ist der Film Parabel auf Macht und ihren Miss­brauch, auf Tota­li­ta­rismus und Wider­stand. Als poli­ti­sche Metapher ist der Film partei­isch, will all dieje­nigen anklagen, die Mitläufer sind, oder die wegschauen, wenn Mitmen­schen gequält und miss­braucht oder auch nur ungerecht behandelt werden.

Mitunter gelingen dem Regisseur dabei Bilder von hypno­tisch-eindring­li­cher Kraft. Einige von ihnen kreisen um das Sterben des Wals, andere basieren auf der düsteren Romantik des Schau­platzes Bastøy, wo es fast 70 Jahre lang eine Besse­rungs­an­stalt für Jugend­liche gab, und tatsäch­lich dort vor knapp 100 Jahren das Militär zur Nieder­schla­gung eines Aufstands bemüht wurde. Und schließ­lich auf dem Aufstand selbst, dem kurzen Moment der Anarchie, der viel Befrei­endes hat, aber keinen Trost. Und der sich auch die Angstlust am Kinder­auf­stand nicht gestattet, keinen Hauch von »Lord of the Flies«.
Marius Holst ist bereits durch zwei vorherige Film-Dramen über Jugend­liche eine Art Experte für solche Stoffe. Neben einem für norwe­gi­sche Verhält­nisse hohen Etat konnte er hier vor allem auf eine beein­dru­ckende Darstel­ler­riege zurück­greifen: Noch vor Benjamin Helstad als Erling prägt sich vor allem Trond Nilssen ein: Er spielt Olav, der sich wegen seiner baldigen Entlas­sung zunächst anpasst, dann aber eine schrei­ende Unge­rech­tig­keit nicht mehr erträgt, und zum Auslöser des Aufstands wird. Sein großer Gegen­spieler ist der Anstalts­leiter, den Stellan Skarsgård spielt – kein Teufel, sondern ein Mensch, der zugleich Über­zeu­gungs­täter ist, wie moralisch voll­kommen korrupt. Darin liegt Holsts Leistung: Seine starke Parabel über Repres­sion, sugge­riert keine einfachen Lösungen. Aber sie bewahrt jederzeit den Eigensinn der Figuren, zeigt sie als Indi­vi­duen. Voller Furcht und Eigennutz.