In guten Händen

Hysteria

Großbritannien/F/D 2011 · 99 min. · FSK: ab 12
Regie: Tanya Wexler
Drehbuch: ,
Kamera: Sean Bobbitt
Darsteller: Maggie Gyllenhaal, Hugh Dancy, Jonathan Pryce, Felicity Jones u.a.
Auf jede Befreiung folgt eine neue Gefangennahme

Technik, das Tor zur Freiheit

Eigent­lich könnte man (und frau) regel­mäßig verzwei­feln ange­sichts der Persis­tenz gängiger geschlecht­spe­zi­fi­scher Sozia­li­sa­tion. Seien es Macht- oder Einkom­mens­ver­hält­nisse, interne Haus­halts­ab­läufe- und Erzie­hungs­muster – es scheint, als seien gegen­wärtig die Frauen ebenso wenig inter­es­siert wie die Männer, weiterhin gegen die klas­si­schen Gender­struk­turen aufzu­be­gehren. Ist es Desin­ter­esse, Mutlo­sig­keit oder einfach Faulheit? Die auf Gender­fragen spezia­li­sierte Sozi­al­psy­cho­login Helga Bilden konsta­tierte schon 1990 etwas entmutigt, dass die nicht auszu­trei­bende Frage nach den geschlechts­spe­zi­fi­schen Unter­schieden fast zwangs­läufig auf die Konstruk­tion eines männ­li­chen und weib­li­chen Sozi­al­cha­rak­ters hinaus­läuft. Damit repro­du­zierten wir die pola­ri­sie­rende gesell­schaft­liche Konstruk­tion der zwei Geschlechter einfach. Erstaun­lich wenig hat sich seit ihrer Fest­stel­lung geändert. Nicht einmal die virtuelle Realität – lange Zeit als dekon­struk­ti­vis­ti­sche Wunder­waffe gehandelt – hat zerstört, was kaputt gehört.

Dass die Dinge mögli­cher­weise nicht ganz so entmu­ti­gend sind und man gesell­schaft­liche Entwick­lungen viel­leicht mit größeren Atemzügen durch­streifen und bewerten sollte, zeigt schön und berührend, wenn auch manchmal ein wenig klischiert Tanja Wexlers vikto­ria­ni­scher Kostüm­film In guten Händen.

Was heute Twitter und Facebook sind, war damals der Strom, die Elek­tri­zität, die mehr und mehr in den Dienst einer zunächst unkon­trol­lierten gesell­schaft­li­chen Entwick­lung gerät: erste Tele­fo­nate über­schreiten ebenso Grenzen wie die noch in den Kinder­schuhen steckende moderne Medizin. So nimmt es auch nicht Wunder, dass eine histo­risch verbriefte Stan­dard­be­hand­lung für an Hysterie »erkrankte« Frauen – die auf dem gynä­ko­lo­gi­schen Stuhl ärztliche verord­nete und voll­zo­gene Mastur­ba­tion – wegen Tennis­arm­kom­pli­ka­tionen der Technik über­ant­wortet wird und der erste Vibrator das Licht der Welt erblickt. Die hier ange­deu­teten Gegen­sätze zwischen vikto­ria­ni­scher Prüderie und fast krankhaft instru­men­ta­li­sierter Sexua­lität werden von Wexler lustvoll in eine wech­sel­hafte Liebes­ge­schichte einge­bettet, an der exem­pla­risch vorge­führt wird, was es damals, vor nicht einmal 150 Jahren, nämlich noch nicht gab: Frauen, die zur Wahl oder zur Univer­sität gehen durften, dafür eine Armut, die gerade noch durch koloniale Spie­ge­lungen schwär­zerer Realitäten gerecht­fer­tigt werden konnte, aber schon in den Bann erster, zarter, sozia­lis­ti­scher Diagnosen geriet. Und nicht anders als heute die neuen Medien, waren es auch in den 1880ern neue Tech­no­lo­gien, die das Fundament für grund­le­gende Reformen der Gesell­schaft bilden.

Dass Wexler die im realen Kern vikto­ria­ni­scher Zeiten angelegte Groteske dabei nicht zum Klamauk entgleitet, liegt vor allem an ihrem – wenn auch mitunter etwas holz­schnitt­ar­tigen – sozio­lo­gi­schen Blick, der sich unter anderem auf die Details damaliger Moden und Rituale richtet und einem immer wieder intel­li­genten Drehbuch, das mehr­schichtig und dennoch leicht genug agiert, um zu unter­halten. Auch das Ensemble überzeugt bis in die Neben­rollen, allen voran die beiden antago­nis­ti­schen Frau­en­typen damaliger und (irgendwie) auch heutiger Zeiten: die „Mystische“, die gerettet werden will, hier Emily (Felicity Jones) und ihre „Realo“-Schwester Charlotte (Maggie Gyllen­haal), die Femi­nistin und Sozia­listin, die den Vibrator-Erfinder Joseph Mortimer Granville (Hugh Dancy) vor kaum zu lösende beruf­liche und emotio­nale Rätsel stellen. Aber bei aller versöhn­lich- und berührend-roman­ti­scher Komödie bleibt dann doch so etwas wie ein bitterer Nach­ge­schmack, denn einmal mehr wird aus dem Blick­winkel der Geschichte tech­no­lo­gi­scher Entwick­lung schließ­lich deutlich, dass jeder Befreiung gleichsam eine neue Gefan­gen­schaft innewohnt.