Gothika

USA 2003 · 98 min. · FSK: ab 16
Regie: Mathieu Kassovitz
Drehbuch:
Kamera: Matthew Libatique
Darsteller: Halle Berry, Robert Downey Jr., Charles Dutton, John Carroll Lynch u.a.
Schau in den Spiegel

Einmal sitzen zwei Wärter der psych­ia­tri­schen Klinik, in der Mathieu Kassowitz' dritte Regie­ar­beit spielt, um einen Fernseher herum, in dem gerade irgendein Horror­film läuft. Dabei reden sie über B-Movies und Mons­ter­filme aus den 50er Jahren: »Die waren klasse.« hört man einen sagen.

Wie eine Schutz­mass­nahme wirkt diese offen­sicht­liche Reverenz des Regis­seurs, als wolle er sich dagegen wehren, zuviel Gedan­ken­ar­beit in die Analyse dieses Films zu inves­tieren. »Logic ist overrated« lautet demgemäss einer der letzten Sätze des Films, der zu diesem Zeitpunkt – die Heldin Halle Berry hat gerade den zweiten der beiden Schurken des Films endgültig ins Jenseits befördert – vor allem als Gag wirkt. Doch beant­wortet er auch die womöglich entschei­dende Frage, die sich schon früh stellt: Wie hält es Gothika mit der Vernunft? Gibt es für alle Gescheh­nisse doch eine irgendwie rational plausible Erklärung, oder nicht? Indem sich Gothika am Ende auf die andere Seite schlägt, zieht er nicht nur dem Zuschauer, sondern auch sich selbst in mancher Hinsicht den zuvor stabilen Boden unter den Füssen weg.

Danach sah es lange nicht aus: Gothika beginnt durchaus gelungen als (Psycho-)Thriller mit Horro­r­ele­menten, der bald zum (Frauen-)Gefäng­nis­film wird, in dem kaum eines der bekannten Stereo­typen fehlt: Dusch­szene, Verhör, Ausbruchs­ver­such, Einzel­zelle, der Horror der Insti­tu­tionen. Die Haupt­figur ist Miranda Grey, begabte Ärztin, die in einer psych­ia­tri­schen Klinik im US-Ostküs­ten­staat Conne­ticut mit trau­ma­ti­sierten Patienten arbeitet. Ihr Mann ist ihr Chef, gele­gent­lich flirtet sie mit dem gutaus­se­henden Kollegen Pete. Man lernt Miranda kennen als sensible Ratio­na­listin. Sie bemüht sich um Vers­tändnis für ihre Patienten, ist skeptisch gegenüber deren Behand­lung mit Medi­ka­menten, fleißig und ehrgeizig. Aber so ganz kommt sie an die Psyche der ihr Anver­trauten nicht heran – sie höre »nicht mit dem Herzen zu,« sagt ihr eine Patientin hell­sichtig.

Das ändert sich an dem Tag, an dem sich Miranda plötzlich auf der anderen Seite wieder­findet, und man an ihre Namens­vet­terin aus Shake­speares »Tempest« denken muss: »Oh brave new world...« Schnell stellt sich heraus: Ihr Gatte ist mit einer Axt in Stücke gehackt worden, alle Indizien deuten auf sie als Täterin. Die Minuten vor der Tat erzählt Kassowitz im Stil einer Gothic-Tale: ein altes Gebäude mit dunklen Gängen, Strom­aus­fall, Gewitter, Welt­un­ter­gangs­stim­mung, ein erzwun­genes Abweichen vom vertrauten Weg, plötzlich steht eine junge, kaum beklei­dete Frau geis­ter­gleich auf der Straße. Miranda weicht aus, hat einen Unfall, Filmriss – und tatsäch­lich hat der Zuschauer für eine Sekunde den Eindruck, der Film sei gerissen, dann wacht Miranda in ihrer Zelle auf, und eine ganze Weile kann man es auch für möglich halten, dass die gesamte vorherige Expo­si­tion nur von ihr geträumt war.

Souverän spielt der Regisseur in dieser Phase auf der emotio­nalen Klaviatur seines Publikums. Gothika hat eine sehr starke erste Hälfte, nicht zuletzt aufgrund seiner dichten Atmo­s­phäre. Frühere Arbeiten des Kame­ra­manns Matthew Libatique geben hier die visuelle Richtung vor: Tigerland, Requiem for a Dream und Pi, für den Trash­faktor sorgt das Produc­tion-Design. Graublau ist die domi­nie­rende Farbe dieses Nacht­s­tücks, fort­wäh­rend sugge­riert die Kamera Unheim­lich­keit, wechseln Schauder und Erschre­cken einander ab, immer wieder ergänzt durch »Buh!«-Effekte – gekonnt entfaltet Kassowitz so tatsäch­lich die klaus­tro­pho­bi­sche, düstere Stimmung einer »Gothic«-Tale, der Schau­er­ro­mane der Schwarzen Romantik. Wie dort oft kommt schließ­lich auch ein Geist ins Spiel, der von Miranda Besitz ergreift – aber in Gothic-Tales haben Geister einen psycho­ana­ly­ti­schen Sinn, verweisen auf das Unter­be­wusste. Der Zuschauer erlebt sich in die Psyche Miranda versetzt, hallu­zi­niert mit ihren Augen, sieht Geister, spürt die mühsame Arbeit an der Über­win­dung der Verdrän­gung. Alles könnte dabei auch ein Alptraum sein. Überhaupt ist Gothika unter anderem ein Film, der die Verknüp­fung dessen, was man sieht, mit dem, was ist, in Frage stellt und letztlich kappt. Auch dabei spielt der Film plausibel mit heim­li­chen Ängsten der Zuschauer: Wer könnte sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn einem keiner glaubt?

Was hier alles gut angelegt ist, läuft im letzten Drittel freilich aus dem Ruder. Ähnlich wie in Kassowitz' Die purpurnen Flüsse, einem der ganz wenigen europäi­schen Thriller von inter­na­tio­nalem Format, überdies großer stilis­ti­scher Eleganz, leidet die Story darunter, dass die vielen ange­legten Motive und Erzähl­fäden nicht zu einem befrie­di­genden Ende gebracht werden. Einer­seits löst sich vieles zu schnell und zu einfach auf. Ande­rer­seits gelingt dies nur mit Hilfe eines mehr­fa­chen Taschen­spie­ler­tricks, der Glaub­wür­dig­keit und Moral glei­cher­maßen zum Opfer fallen: Nicht allein, dass Gothika die Traumata seiner Figuren letztlich arg bana­li­siert, und jede Form von psycho­lo­gi­scher Plau­si­bi­lität opfert. Fortan muss der Zuschauer auch die Existenz von Geistern einfach akzep­tieren: »Ich glaube nicht an Geister. Aber sie glauben an mich.« So einfach ist das also. Zu einfach.

Gothika fügt sich in den allge­meinen Main­stream-Trend der letzten Jahre, Mystik und Para­nor­males ganz erheblich aufzu­werten. »Die Welt ist mehr, als sie scheint«, lauten Devise und Moral solcher Filme. Aber man muss diese Aussage nicht bestreiten, um zu bedauern, dass Erfahrung und sinnliche Gewiss­heit im Gegen­warts­kino derzeit an Gültig­keit verlieren, dass man oft den Eindruck hat, dass das Irra­tio­nale dabei doch nur als einfachstes Mittel funk­tio­na­li­siert werde, um alles möglich werden zu lassen. Aber wenn alles erlaubt ist, geht jenes entschei­dende Quantum an narra­tiver Verbind­lich­keit verloren, auf das Filme ange­wiesen sind. Wo der Bruch mit ihr zur Routine wird, fehlt die emotio­nale Betei­li­gung.

Verrat am Zuschauer begeht Gothika auch in mora­li­scher Hinsicht: Nicht darin, dass Miranda am Ende tatsäch­lich als – wenn auch unzu­rech­nungs­fähige – Mörderin ihres Gatten dasteht, liegt die Frag­wür­dig­keit des Plots, sondern darin, dass er so beiläufig hierüber hinweg­geht. Wenn es den Richtigen trifft, so scheint Gothika zu sagen, ist auch ein Blutbad gerecht­fer­tigt.
Von alldem einmal abgesehen ist Gothika aller­dings trotzdem sehr guter Trash und ziemlich unter­haltsam. So gut wie ein Monster-B-Movie aus den 50er Jahren allemal.