Eine Geschichte von Liebe und Finsternis

A Tale of Love and Darkness

Israel/USA 2015 · 98 min. · FSK: ab 12
Regie: Natalie Portman
Drehbuch: ,
Kamera: Slawomir Idziak
Darsteller: Natalie Portman, Amir Tessler, Shira Haas, Ohad Knoller, Makram Khoury u.a.
Nur der Kern der Geschichte

»Wir leben, wie wir träumen – allein«

»Nicht einmal zur Beer­di­gung haben sie mich gehen lassen. Meine Mutter schlief ein und schlief diesmal ohne Schlaf­stö­rungen, und gegen Morgen erbrach sie sich und schlief wieder ein, in ihren Kleidern, und weil Zvi und Chaja Verdacht zu schöpfen begannen, wurde kurz vor Sonnen­auf­gang ein Kran­ken­wagen bestellt, und zwei Bahren­träger trugen sie behutsam hinaus, als wollten sie ihren Schlaf nicht stören, und auch im Kran­ken­haus wollte sie auf niemanden hören, und obwohl man auf diese und jene Weise versuchte, ihren guten Schlaf nicht zu stören, schenkte sie ihnen keine Beachtung, auch nicht dem Facharzt, vom dem sie gelernt hatte, daß die Seele die furcht­barste Feindin des Körpers sei, und sie erwachte nicht mehr an jenem Morgen, auch dann nicht, als der Tag aufleuch­tete und zwischen den Fikus­bäumen im Kran­ken­haus­park der Vogel Elise sie verwun­dert rief, immer aufs neue rief und rief, vergebens rief und es doch immer wieder und wieder versuchte und es immer noch versucht, manchmal.«
Amos Oz, »Eine Geschichte von Liebe und Fins­ternis«

Es ist einer der großen Romane dieses Jahr­tau­sendes und allein schon deswegen dürfte Amos Oz seit Jahren auf den Listen der engli­schen Wettbüros für den Lite­ra­tur­no­bel­preis immer wieder seinen Platz gefunden haben. Auf mehr als 800 Seiten beschreibt Oz die Geschichte seiner Familie, die auch eine Geschichte der Einwan­de­rung in den damals noch nicht exis­tie­renden Staat Israel ist und eine Erzählung des alten, unfassbar und unbe­greif­lich verschwun­denen inter­na­tio­nalen Europas vor der Vernich­tung und Vertrei­bung der jüdischen Bevöl­ke­rung. Es ist die Geschichte von Oz' Mutter, die sich wegen schwerer Depres­sionen mit 38 Jahren selbst tötet und damit Oz' Vater und ihn in eine schwere Krise stürzt, aus der sich Oz erst über eine Abkehr vom intel­lek­tu­ellen Leben seiner Eltern eman­zi­pieren muss, bevor er selbst zu einem der intel­lek­tu­ellen Leit­bilder Israels wird. Oz schildert das Coming-of-Age des Staates Israels glei­cher­maßen komplex wie das des Jungen Amos mit Momenten und Bildern, die vom absoluten Grauen, von tiefer Trau­rig­keit bis zu einem herr­li­chen, befrei­enden Humor reichen – von einer irrwit­zigen Schil­de­rung, wie Oz wegen seiner ersten Gedichte vom Vater der Nation, Ben Gurion zu einem Frühstück einge­laden wird bis hin zur gnadenlos düsteren Beschrei­bung der zwei Jahre nach dem Tod der Mutter, während der Amos und sein Vater mitein­ander leben, ohne noch mitein­ander zu sprechen.

Nach der Lektüre von Oz' Buch hatte ich das erste Mal im Leben das Gefühl, den »Komplex« Israel wirklich verstanden zu haben. Anderen erging es ebenso – Elias Khoury etwa, ein paläs­ti­nen­si­scher Anwalt aus Jerusalem, dessen Sohn George im Jahr 2004 Opfer eines Anschlags von Paläs­ti­nen­sern wurde, die ihn irrtüm­li­cher­weise für einen Juden hielten, übernahm die Kosten für die arabische Über­set­zung des Buches, um für mehr Verstehen im Konflikt zwischen arabi­scher und israe­li­scher Realität zu sorgen.

Auch Natalie Portman, die erst Anfang 2016 in Jane Got a Gun schau­spie­le­risch einen tollen Ritt hinlegte, muss es ähnlich ergangen sein. Denn nachdem die in Israel geborene Portman Oz' Roman vor neun Jahren zum ersten Mal gelesen hatte, träumte sie von seiner Verfil­mung, ohne damals zu ahnen, dass sie schließ­lich nicht nur für das Drehbuch verant­wort­lich sein und ihr Regie­debüt geben, sondern auch die Rolle von Oz' Mutter, Fania, verkör­pern würde. Und es ist vor allem diese Rolle, die Eine Geschichte von Liebe und Fins­ternis zu einem sehens­werten Film macht. Nicht nur zeigt Portman auf, wie schwer es für Oz' Mutter gewesen ist, ihren Traum von einem zionis­ti­schen Leben in Israel in die Tat umzu­setzen, sondern wie schwer es auch war, sich von ihren Erin­ne­rungen an die alte Heimat zu lösen, die inzwi­schen mit dem Wissen konta­mi­niert waren, dass fast alle ihrer alten Freun­dinnen und Teile der Familie vernichtet worden waren. Die Erzäh­lungen von der Welt der noch Lebenden sind das, was ihr noch bleibt und die sie ihrem Sohn weiter­gibt und viel­leicht damit auch die Inspi­ra­tion zu Oz lite­ra­ri­schem Schaffen legt. Vor allem zeigt sie damit aber auch etwas, was Portman an ihrer »jüdisch-ameri­ka­ni­schen« Sozia­li­sie­rung in Amerika immer gestört hat – dass einem heut­zu­tage mehr über die Zers­tö­rung als über die Errun­gen­schaften jüdischen Lebens vermit­telt wird.

Neben dem langsamen Verfall von Fania versucht Portman auch einen Teil der poli­ti­schen Entwick­lungen, die Oz lebendig und akribisch nach­zeichnet, in ihre filmische Umsetzung zu retten. Doch sowohl die krie­ge­ri­schen Ausein­an­der­set­zungen zwischen den arabi­schen Anrai­ner­staaten und Israel als auch der letzt­liche Grün­dungs­mo­ment Israels bleiben plakativ, weil Portman in ihrer 98-Minuten langen Verfil­mung schlichtweg die Zeit fehlt, die Komple­xität der Gescheh­nisse so darzu­stellen, dass sie auch nach­voll­ziehbar mit der der porträ­tierten Klein­fa­milie harmo­nieren würden. Statt­dessen versucht sie über die melo­dra­ma­ti­schen Momente der Geschichte, das Verwelken und den Selbst­mord der Mutter, auch die poli­ti­schen »Gefühle« abzu­de­cken. Damit bleibt letztlich nur der Kern von Oz' Buch übrig, ein Kern, der ohne das pralle, süßsaure Frucht­fleisch um das beraubt wird, was Eine Geschichte von Liebe und Fins­ternis in der lite­ra­ri­schen Vorlage so stark macht – die Durch­drin­gung von komplexen Wahr­heiten mit den Mitteln nicht nur des Tragi­schen, sondern auch immer wieder des Komischen, das – neben zahl­rei­chen Neben­hand­lungen – bei Portman völlig fehlt.

Damit reali­siert Portman immerhin ein sehens­wertes Melodram, das durch den Dreh an Origi­nal­schau­plätzen und in Hebräisch immer wieder authen­tisch wirkt, scheitert aber an der Umsetzung ihres lang gehegten, viel »beträumten« Projekts einer über­zeu­genden Verfil­mung von Oz' Roman. Ironi­scher­weise bestätigt sie damit auch eine der tragi­schen Kern­wahr­heiten, die Oz über den langen Kampf seiner Mutter und ihrer Träume heraus­findet: »Es gibt nur einen Weg, einen verheißungs­vollen Traum in seiner Gänze zu bewahren: Man darf niemals versuchen, ihn zu verwirk­li­chen. Ein wirk­li­cher Traum ist ein enttäu­schender Traum. Diese Enttäu­schung liegt im Wesen der Träume.«