Gangs of New York

USA/D/I/GB/NL 2002 · 166 min. · FSK: ab 16
Regie: Martin Scorcese
Drehbuch:
Kamera: Michael Ballhaus
Darsteller: Leonardo DiCaprio, Daniel Day-Lewis, Cameron Diaz, Jim Broadbent u.a.
Die »Natives« nehmen Anlauf

Die Stadt und der Erdkreis

Apoka­lypse in Amerika: Martin Scorseses urbaner Gegen­my­thos zum Western

»No son, never – the blood stays on the blade.« Schon im aller­ersten Satz von Martin Scorseses neuestem Film Gangs of New York wird das Blut beim Namen genannt, das gleich im Übermaß vergossen werden wird. Ein Mann rasiert sich, Menschen bekreu­zigen sich, prüfen ihre Waffen – Rituale der Reinigung und der Vorbe­rei­tung für den Kampf. Man erkennt diese schre­cken­er­re­genden Gestalten kaum, die sich da wappnen, so düster ist das Licht, so dunkel­braun die Wände. Im Hinter­grund klingt Pfeifen wie das eines Ratten­fän­gers, und Trommeln, archai­sche Töne eines Einge­bo­re­nen­stammes irgendwo im »Heart of Darkness« der Zivi­li­sa­tion. Immer wieder sieht man das Kreuz, unter dessen Zeichen sie siegen wollen, und daneben tote Hasen, wie um auch den heid­ni­schen Göttern darzu­bringen was ihnen zusteht.

Diese Kreuz­ritter der anderen Art nennen sich »Dead Rabbits«, und in den letzten Sekunden vor dem Kampf zieht sich die Kamera, die ihnen zuvor ganz dicht auf den schmut­zigen Leib rückte, zurück, macht das riesige Innere der »Old Brewery« sichtbar, wo diese Gang haust: ihre fünf Etagen, ihre zahllosen, unüber­sicht­li­chen Höhlen, aus denen manche nie wieder heraus­kommen, und andere nur wenn sie töten müssen. »Are you with us, or not?«, fragt der Priester, der sie alle anführt noch einen, und weil der Sold stimmt, reiht auch dieser sich ein in diesen bizarren Umzug. Dann geht das Tor auf, gleißend hell strahlt das Sonnen­licht, und der Kampf beginnt. In Sekunden färbt sich der weiße Schnee am Boden rosa, und wieder sieht man die Gesichter der Kämp­fenden nahe, sieht man ihre Leiber, wie sie da aufein­ander eindre­schen, mit Messern, Äxten, Knüppeln, Speeren, diversen selbst­ge­fer­tigten Mord­werk­zeugen und allem, was ihnen sonst noch zur Verfügung steht – keine Schlacht, sondern ein Gemetzel: »Ears and noses are the trophies of the day!«

So hat noch kein Film von Scorsese ange­fangen. Horror­bilder, zugleich Szenen mythi­scher Kraft, die den Sinn für die Dimension dessen eröffnen, was Scorsese hier versucht: Er will ein reprä­sen­ta­tives Panorama der Zivi­li­sa­tion bieten, seine Heimat­stadt New York zeigen als Haupt­stadt der Welt.

Man kennt dieses roh-primitive Amerika Mitte des 19.Jahr­hun­derts, in das sich Scorsese mit seinem neuen Film begibt, aus den Romanen Cormac McCarthys: Eine Welt noch jenseits den Härten von Melville, erst recht von Henry James und Edith Warton, deren Roman Die Zeit der Unschuld Scorsese vor zehn Jahren verfilmte – eine traurige Geschichte um die reiche Ober­schicht New Yorks um 1870, um die verdeckte Gewalt, die in der fein zise­lierten Formen­sprache sozialer Rituale liegt.

In Gangs of New York findet nun keines­wegs zufällig das komplette Team wie bei diesem Film wieder zusammen: Der lange Wegge­fährte Jay Cocks, den Scorsese seinen besten Freund nennt, bei vielen Filmen ist der Film­kri­tiker und New Yorker Lokal­pa­triot Berater. Bereits für Die Zeit der Unschuld schieb er 1993 das Drehbuch, diesmal ist er einer von drei Autoren – gewiss aber derjenige, der am längsten mit dem seit 30 Jahren geplantem Projekt vertraut ist. Zum fünften Mal mit im Boot ist Dante Ferretti. Seit fast 40 Jahren gehört er zu den besten Produc­tion Designern, zuerst für Pasolini und Fellini. Neben wichtigen Filmen von Ettore Scola, Terry Gilliam und Neil Jordan ist er seit Die Zeit der Unschuld auch an allen Scorsese-Filmen beteiligt. Noch länger dabei ist Michael Ballhaus. Einst Stamm­ka­me­ra­mann von Fass­binder gab der Deutsche 1983 sein US-Debüt. Fast ebenso lange dauert die Zusam­men­ar­beit mit Scorsese. Seit 1984 hat Scorsese jeden Film zunächst ihm angeboten – nur in drei Fällen kamen Termin­pro­bleme und Krankheit dazwi­schen.
Trotzdem ist nun alles anders: Diesmal zeigt Scorsese die Welt der Unter­schicht, und geht von einem Sachbuch aus: Herbert Asburys 1928 veröf­fent­lichter beschrei­bungs­satter Krimi­nal­ge­schichte der Stadt, die längst zum Klassiker avan­cierte. Der Film spielt 1863 während des US-Bürger­kriegs und zeigt die Gegend rund um »Five Points«, einen kleinen Platz im Süden der Lower East Side, in der Scorsese selbst aufwuchs – damals der schlimmsten Gegend der rasant wach­senden Stadt. Die »Old Brewery« gab es wirklich, ebenso die Banden der »Dead Rabbits« (irisch-katho­li­sche Neuein­wan­derer) und der »Natives« (protes­tan­tisch-anglo-nieder­län­di­sche Einge­ses­sene): »I don’t see no americans. I see tree­spas­sers, who do for a nickel, what niggers do for a dime and decent man for a quarter.« sagen sie. Und zwischen ihnen stehen die Schwarzen denen beider Rassismus gilt.

Sie arbeiten, das heißt sie rauben, und töten an der Water­front, die schon anderen Filmen ihr Gesicht gab. »Each of the five points is a finger.« erklärt einer der Gang-Führer dem Politiker: »And if I close it, it becomes a fist. And I can turn it against you.« Scorsese greift diverse Motive und kleine Geschichten von Asburys Werk auf, nimmt ein paar – histo­ri­sche – Figuren, erfindet weitere, die zumeist stell­ver­tre­tend für ganze Gruppen und Zeit­ten­denzen stehen, verdichtet dies mit der diszi­pli­nierten Freiheit eines Künstlers, der sich selbst »Historien-Fan« nennt, präzis, intel­li­gent, stel­len­weise mit Witz und jeden­falls großer Genau­ig­keit: das Elend der Verhält­nisse, das orga­ni­sierte Verbre­chen der Banden, nicht zuletzt die (s.o.) Korrup­tion der Politiker, die diese zum Stim­men­kauf verwenden, den Bürger­krieg in der Ferne, für den fort­wäh­rend in der Stadt rekru­tiert wird, der Skla­ven­handel, der die Begeis­te­rung für die von Lincoln verkün­dete Skla­ven­be­freiung gering hielt, Feuer­wehr­leute die – histo­risch verbürgt – um den Vorrang beim Löschen kämpfen, die Dandys auf der Straße und die Lieb­lings­show­ein­lagen des gemeinen Mannes: Hinrich­tungen.

»What is your name?« – »Amsterdam.« – »Amsterdam? I am New York!« – Vor diesem Hinter­grund erzählt der Film von der Beziehung zweier Männer, die durch Liebe und Hass, Freund­schaft und Schuld schick­sal­haft verbunden scheinen: Bill the Butcher, ein Einwan­der­er­hasser und Amsterdam, ein Einwan­derer. Amsterdam, beein­dru­ckend reif gespielt von Superstar Leonardo DiCaprio, erlebte beim Kampf am Anfang, wie Bill den Vater tötet. Er hat Rache geschworen, doch je weiter er sich Bill in mörde­ri­scher Absicht nähert, um so mehr erkennt er in ihm auch einen seelen­ver­wandten Ersatz­vater. Zwischen ihnen steht noch die junge Jenny, wie alle hier kriminell und einsam, Cameron Diaz spielt sie mit Inten­sität. Die beste, größte Leistung des Films bietet Daniel Day-Lewis, der als Bill eine sardo­ni­schen Charme entfaltet: Ein teuf­li­scher Dämon, voller Güte, mit Zügen zwischen Mephisto und Captain Hook, geprägt von einer hobbe­sia­ni­schen Philo­so­phie aus Pessi­mismus, Furcht und Egennutz: »Wie bin ich so lange am Leben geblieben? Furcht!« erklärt Bill das Urgesetz der Herr­schaft, und lobt seinen ärgsten Feind, den Vater Amster­dams, den er tötete: »The Priest and me, we lived by the same prin­ci­ples. It was only faith that devided us. The finest man I've ever met. I never had a son. Civi­li­sa­tion is crum­be­ling.«

»If you kill a king, you don’t stab him in the dark. You kill him, when the whole court can watch him die.« – wie ein Shake­speare­sches Königs­drama mutet der von Rache wie Sympathie durch­tränkte Kampf zwischen beiden an. Doch die wahre Haupt­person ist New York, zugleich stell­ver­tre­tend für die ganze Welt: Hinter der Story der Personen erzählt Scorsese die Geschichte seiner Heimat.
Was in dem fast dreis­tün­digen, episch breiten Film alles ange­deutet und – quasi nebenbei – mitdis­ku­tiert wird, lässt sich in einer Film­kritik kaum ausschöpfen. Doch im Zentrum steht dreierlei: 1. Die zweite, dunkle Geschichte der Gründung Amerikas, der wahren Geburt einer Nation, ein Schöp­fungsakt aus einem Sumpf von Primi­ti­vismus und Verbre­chen, sozialem Elend und niederen Instinkten. Die Gangs, die hier kämpfen, sind auch Gottes­krieger ihrer Zeit. Dem viel­be­schwo­renen inte­gra­tiven Modell des Einwan­de­r­er­staates Amerika, dem »Melting Pot« New York ging der Hexen­kessel des alltäg­li­chen Straßen­kampfes voraus. Dies sei, meint Scorsese, 2. eine mensch­liche Konstante: Gewalt stehe immer am Anfang, und verschwinde nie völlig aus der mensch­li­chen Geschichte die Barbarei sei der Zivi­li­sa­tion inhärent. Diesen Bezug hebt noch die Schluss­szene nochmals hervor. Denn darin sieht man die Skyline der Stadt, wie sie sich im vergan­genen Jahr­hun­dert entwi­ckelte. Irgend­wann bleibt das Bild stehen: und man sieht, über den Massen­gräbern der Gangs, die Silhou­ette des »World Trade Center«.
So wimmelt 3. Gangs of New York von aktuellen Bezügen: Es geht um verscho­bene Wahlen – »First rule of politics: The ballots dont make the result. The count makes the result.« heißt es in unver­hoh­lener Anspie­lung auf Wahl­sieger George W. Bush –, Korrup­tion und die Nähe von Politik und Verbre­chen. Und auch die Leichen der im Krieg getöteten Soldaten, die sinnlose Barbarei der Kämpfe zwischen den Banden, lassen an die Kämpfe und Bürger­kriege unserer Tage denken.

Stilis­tisch kehrt der Regisseur zu den 70er Jahren zurück, zu Filmen wie Taxi Driver und Wie ein wilder Stier. Braune Farbtöne, düsteres Kerzen­licht, Bilder wie von Rembrandt, Frans Hals oder Hogarth gemalt, oder wie aus einem Stummfilm heraus­ge­griffen. Das schafft viele »magic moments«, wenn auch keine so gefäl­ligen wie bei Scorseses Antipoden Spielberg, der immer das klas­si­sche Hollywood imitiert, wo sich Scorsese als der wahre Erbe des New Hollywood entpuppt, noch mehr als Coppola. Sein Kino ist zur Zeit eines, dass sich bewusst den »wunder­baren Glücks­mo­menten«, die sich unmit­telbar mitteilen verwei­gert, auf die gefällige Eleganz verzichtet, die in Good­fellas oder Casino sogar die Gewalt ansehn­lich erscheinen ließ. So mutet Scorsese den Zuschauern den Blick auf sich selbst zu, ins Innere der eigenen, aber auch der sozialen Existenz: Ein urbaner Gegen­ent­wurf zum ameri­ka­ni­schen Grün­dungs­my­thos des Western – »America was born in the streets.« Verherr­licht wird dabei nichts, auch nicht die Gewalt. Scorsese will seine Zuschauer nur dazu zwingen, sich nichts vorzu­ma­chen, genau hinzu­schauen: In Gangs of New York sind das die letzten Worte eines Vater an seinen Sohn: »Never look away!«