Fiona

USA 1998 · 89 min. · FSK: ab 16
Regie: Amos Kollek
Drehbuch:
Kamera: Ed Talavera
Darsteller: Anna Thompson, Felicia Maguire, Alyssa Mulhern, Anna Grace u.a.

Völlig schutzlos

Ein paar hoch­ha­ckige Schuhe, die vor dem Rand eines Flach­dachs stehen. Die junge Frau mit den zögernd-zitternden, verletz­li­chen Bewe­gungen findet sie und tauscht sie gegen ihre eigenen aus. Ein Augen­blick anrüh­render Zärt­lich­keit inmitten einer mensch­li­chen Eiswüste. Zugleich die letzte Annähe­rung Fionas an ihre unbe­kannte Mutter, die sich hier vermut­lich kurz zuvor das Leben genommen hat.

Regisseur Amos Kollek zeigt den schreck­li­chen Moment mit dieser Mischung aus Beiläu­fig­keit, genauer Beob­ach­tung und dem Verzicht auf mora­li­sche Bewer­tungen, die schon seinen Film Sue ausge­zeichnet hat. Fiona wirkt jetzt wie dessen Fort­set­zung und Verschär­fung: Einer­seits hat er mit Anna Thompson wieder die selbe, unver­gleich­liche Haupt­dar­stel­lerin, ande­rer­seits ist der Stil noch doku­men­ta­ri­scher, noch authen­ti­scher, noch spontaner. Wüßte man es nicht besser, könnte man tatsäch­lich glauben, hier werde ein x-belie­biges reales Frau­en­schicksal aus dem New Yorker East Village doku­men­tiert.
Vieles scheint proto­ty­pisch: Mit sechs Monaten wurde Fiona von ihrer Mutter am Straßen­rand ausge­setzt. Zeit­le­bens leidet sie darunter, kein Horoskop erstellen zu können, denn sie kennt ihren Geburtstag nicht. Fremd und seltsam distan­ziert steht sie sich selbst und ihrem Dasein gegenüber. Man begleitet die junge Frau auf einem Leben voller Verwun­dungen, frühem Mißbrauch – »Ich wußte schon bald, dass Sex die Antwort auf alles ist« –, Prosti­tu­tion, Schlägen und Verge­wal­ti­gung, Drogen und zuneh­mender Selbst­zer­stö­rung. »Männern hab' ich nie vertraut. Sie waren immer zweit­ran­gige Kreaturen in meiner Welt« erzählt sie. Die anderen um sie herum kommen und gehen. Was bleibt ist die Schutz­lo­sig­keit einer Frau in einer gewalt­tä­tigen Männer­ge­sell­schaft. Geld, Macht und sonstige Munition aus dem Arsenal des bürger­li­chen Lebens stehen ihr nicht ausrei­chend zur Verfügung, um dieser Außenwelt nicht doch rettungslos preis­ge­geben zu sein.
Zugleich wird die andere Seite nicht verschwiegen. Inmitten all' der raben­schwarzen Realitäten gibt es knappe, poröse, aber doch unbe­streit­bare Glücks­mo­mente für Fiona. Ob beim Sex mit beiden Geschlech­tern, beim kurzen befrei­enden Lachen mit Freun­dinnen, im Drogen­rausch, bei der Begegnung mit einem Mann, der tatsäch­lich für sie alles aufgeben und mit ihr nach Kali­for­nien fahren würde – die Utopie eines anderen Lebens scheint immer wieder auf; die Misere ist nie vorpro­gram­miert.
Und selbst als Fiona die drei Poli­zisten nieder­schießt – wieder ganz beiläufig: »Ich hab' sie erschossen, weil ich Bullen hasse, ich hab' nicht lange nach­ge­dacht.« – schildert Kollek dies als gedan­ken­losen Augen­blick des Glück. Fiona ist ein Film wider die schönen Unver­bind­lich­keiten, die Hollywood mit vielen europäi­schen Filmen, auch dem Kunst­willen konti­nen­taler Auto­ren­filmer gemeinsam hat. Allen­falls bei den Briten, Ken Loach etwa, scheint gele­gent­lich eine ähnliche Härte auf, wie die, mit der Kollek hier zur Sache geht: Rohe, direkte, genaue Beob­ach­tungen und Gesichter, wie man sie zuvor noch nicht auf einer Spielfilm-Leinwand gesehen hat.

Ohne den Anspruch auf Allge­mein­gül­tig­keit erzählt der Film doch eine Geschichte, die reprä­sen­ta­tiver sein dürfte, als viele wahrhaben wollen. Nicht für ein Frau­en­leben, sondern für das Verhältnis von großem Unglück und kleinen Fluchten.
Was in diesem Fall schließ­lich siegen wird, kann man nur erahnen: So beiläufig wie die Schuhe auf dem Dach bleibt auch das Blut an Fionas Händen, als sie sich aufmacht in eine bessere Welt.