Familienfieber

Deutschland 2014 · 77 min. · FSK: ab 0
Regie: Nico Sommer
Drehbuch:
Kamera: Eugen Gritschneder
Darsteller: Kathrin Waligura, Peter Trabner, Deborah Kaufmann, Jörg Witte, Anais Urban u.a.
Szenen zweier Ehen

Versuchsanordnung 40+, Take 2

Nico Sommer bleibt sich treu. Hatte Sommer bereits in seinem letzten Mumble­core-Projekt Silvi (2013) einen beein­dru­ckend realis­ti­schen Fokus auf die abgrün­digen Bezie­hungs­dy­na­miken der Gene­ra­tion 40+ gesetzt, so gilt dies erst recht für Sommers neues Projekt Fami­li­en­fieber. Beschäf­tigte Silvi sich damals aller­dings allein mit der Nach­tren­nungs­phase einer Beziehung, nimmt sich Sommer nun der nicht minder schwie­rigen Phase von Lang­zeit­be­zie­hungen an, die vor der Trennung stehen oder diese mit unge­wöhn­li­chen Mitteln zu vermeiden versuchen.

Unter Beob­ach­tung stehen diesmal zwei Familien mit je einem Kind. Alina (Anais Urban) und Nico (Jan Amazigh Sid) sind frisch verliebt und wollen, dass auch ihre Eltern nicht nur davon wissen, sondern die beiden auch als Paar erleben. Sie planen eine Zusam­men­kunft aller betei­ligten Fami­li­en­mit­glieder im länd­li­chen, bran­den­bur­gi­schen Anwesen von Nicos Eltern. Was als leicht-leiden­schaft­li­cher Plan beginnt, mutiert jedoch schnell zu einer gnaden­losen, immer wieder auch komischen Intro­spek­tion in die Befind­lich­keiten zweier sehr unter­schied­li­cher Lang­zeit­be­zie­hungen und einer fragile Vision davon, welche Möglich­keiten eine junge Liebes­be­zie­hung auch im Angesicht des Abgrundes noch haben kann. Sommer vermeidet hier glück­li­cher­weise den in der deutschen Gegen­warts­komödie so gern einge­set­zten Brech­stan­gen­humor. Statt­dessen bildet er die sozialen Verwer­fungen und Bezie­hungs­ab­gründe über immer wieder über­ra­schende, aber dennoch plausible Dialoge ab. Sowohl Nicos (Jörg Witte und Deborah Kaufmann) als auch Alinas Eltern (Kathrin Waligura und Peter Trabner) umschiffen dabei mit fast traum­wand­le­ri­scher Gewiss­heit die gefähr­li­chen Klippen zwischen Tragödie und Komödie und tragen dazu bei, dass Sommer auch in dieser erwei­terten Versuchs­an­ord­nung zum Thema Beziehung bei 40+ nicht nur eine dichte, zärtliche, gnaden­lose und immer wieder über­ra­schende Bestands­auf­nahme zu Bezie­hungs­welten in der Spät­mo­derne abliefert, sondern sie mit der nötigen Prise Humor versetzt, die dieses Ausmaß an Realität überhaupt erst erträg­lich macht.

So konse­quent Sommer »sein« Thema ausgebaut hat, so radikal bleibt auch sein Produk­ti­ons­an­satz: Fami­li­en­fieber ist wie schon sein Vorgänger ohne die üblichen Förder­gelder oder Fern­seh­be­tei­li­gung, also mit einem Mini­mal­budget reali­siert worden. Zwei Monate Vorbe­rei­tungs­zeit und sieben Drehtage mussten ebenso reichen wie eine vier Seiten lange Storyline, die grob die Inhalte möglicher Szenen festlegte. Die gespro­chenen Dialoge wurden dabei voll­s­tändig von den Haupt­dar­stel­lern impro­vi­siert.

So sehr dieser Ansatz eine fast schon unheim­liche Realität herauf­be­schwört, die immer wieder auch an vergleich­bare Produk­tionen wie Aron Lehmans wunder­baren Kohlhaas oder Hanna Dooses herr­li­chen Staub auf unseren Herzen denken lässt, so sehr bleibt am Ende dann aber auch eine vertrackte Sehnsucht nach »mehr« zurück. Eine Sehnsucht nach weniger Versuchs­an­ord­nung und mehr »Leben«, nach mehr Fleisch und weniger Knochen. Oder um es mit einem lite­ra­ri­schen Vergleich zu einer ähnlichen Thematik viel­leicht besser zu umreißen: auch wenn Michel Houel­l­e­becqs »Auswei­tung der Kampfzone« bereits ein hervor­ra­gendes Buch zum Ausver­kauf der klas­si­schen Liebes­be­zie­hung gewesen ist, so wird erst Houel­l­e­becqs zweites Werk zur Historie und Abgründen west­li­cher Bezie­hungs­muster, seine »Elemen­tar­teil­chen«, der ganz große, alles umfas­sende, lite­ra­ri­sche Wurf. Eine Entwick­lung, die auch Sommer nur zu wünschen ist.