Eureka

Argentinien/F/P 2023 · 147 min. · FSK: ab 12
Regie: Lisandro Alonso
Drehbuch: ,
Kamera: Timo Salminen, Mauro Herce
Darsteller: Viggo Mortensen, José María Yazpik, Chiara Mastroianni, Viilbjørk Malling Agger, Luísa Cruz u.a.
Alles in Eureka strebt ins Offene und Uneindeutige...
(Foto: Grandfilm)

Reisend träumen

Lisandro Alonso erschafft ein Kaleidoskop indigener Erfahrungswelten und schöpft daraus faszinierend rätselhafte Szenen

Eureka gehört den Mythen und Ritualen, gleicht selbst einer rituellen Struktur. Zu Beginn lässt Regisseur Lisandro Alonso einen Mann auf Fels­ge­stein singend eine Trommel schlagen, den Blick in die Ferne gerichtet. Eine Beschwörung? Anbetung? Der Weg in eine Trance, das Geleiten in eine andere Sphäre? In Schwarz-Weiß sind diese ersten Bilder gehalten: elegant in Szene gesetzte Kader mit abge­run­deten Ecken, eine Schau geformter Vergan­gen­heit. Viggo Mortensen, der Hollywood-Star, kämpft sich darin durch ein Wildwest-Szenario. Auf der Kutsche zieht er eingangs noch vor den Augen des Trommlers vorbei. Seine Tochter sucht er in der Western­stadt und geht dafür über Leichen – bis zur finalen Wendung.

Dass Alonso sein knapp zwei­ein­halb­stün­diges Riesen­pro­jekt – mehrere Episoden mit je verschie­denen Genre-Elementen, gedreht in vier Ländern – mit einer stereo­typen Spielfilm-Fantasie eröffnet, ist ein kluger Schachzug, weil der Kontrast und Bruch hinterher umso span­nungs­rei­cher gelingt. Ameri­ka­ni­sche Geschichte, Eroberung und Grenz­ver­schie­bung wird hier als nost­al­gisch anmu­tender Kinotraum und Fiktion vorge­führt, von deren Revol­ver­held-Stoffen die Gewalt­er­fah­rung indigener Völker bekannt­lich nicht zu trennen ist. Bilder, die die Künste von jener Geschichte erschaffen, sowie Narrative, die die Geschichte und Geschichten über Jahr­hun­derte geformt haben, streben in Alonsos Film einer Auflösung entgegen. Das Alther­ge­brachte, der Western­stoff, den er anfangs vorführt, muss dabei als Erstes daran glauben.

Alles nur erstunken und erlogen, Enter­tain­ment auf der Matt­scheibe! Eine kurze Pause, der Wetter­be­richt folgt. Wenn die Bilder plötzlich als Film im Film auf einen TV-Bild­schirm verbannt werden, ist das nur der Auftakt für eine Reihe verblüf­fender Brüche und Abzwei­gungen, die Eureka zunächst ganz schroff, später dann immer schlei­chender, hypno­ti­scher und traum­wand­le­ri­scher unter­nimmt. Mitunter lässt sich kaum gedank­lich rekon­stru­ieren, wie, wo und warum man gerade in dieses oder jenes Szenario geraten ist. Figuren erscheinen und verschwinden, Orte verwan­deln sich, Geschichten schwanken zwischen Sess­haf­tig­keit und Aufbrüchen. Wachtraum, dieser Begriff passt am ehesten als Umschrei­bung. Eureka ist sicher einer der außer­ge­wöhn­lichsten Filme, die man in diesem Jahr im Kino sehen kann.

Von der Vergan­gen­heit in die Gegenwart

Lisandro Alonso, einer der Wegbe­reiter des Neuen Argen­ti­ni­schen Kinos, und seine Ko-Autoren Fabián Casas und Martin Camaño verweben mehrere Akte zum Reigen, der mehr über das Erzählen nachdenkt als selbst in einem herkömm­li­chen Sinne zu erzählen. Struktur erlangt er dadurch, dass alle Episoden und Vignetten im engeren oder weiteren Sinne von indigenen Lebens­rea­li­täten, deren Räumen und Bild­welten handeln. Von der eingangs beschrie­benen Western-Episode, ob man sie nun verharm­lo­send, verfäl­schend oder auch kritisch, revi­sio­nis­tisch verstehen will, geht es in das South Dakota der Gegenwart.

Durch die Augen einer Poli­zistin beob­achtet Alonso hier das harte Leben der Bevöl­ke­rung im Reservat. Die Geschichte hat Wunden hinter­lassen. Leere, melan­cho­li­sche Blicke, Szenen von Armut, Elend, Drogen, Gewalt, Perspek­tiv­lo­sig­keit. Menschen vertreiben sich leidend und trauernd die Zeit. Daneben steigt die Suizid­rate, heißt es. Sozialer Realismus, aufge­führt in einem Road Movie durch die Nacht. Der Horizont ist kaum zu sehen, da ist Alonsos atmo­sphäri­sche Bild­sprache eindeutig. Nur die ewige Dunkel­heit, wenige winzige Lichter leuchten während der Autofahrt in unbe­kannter Ferne. Eine Western-Darstel­lerin, die gerade für ihre Rolle recher­chiert (der zuvor gesehene Film!?), strandet hier im Nirgendwo. Ihr Auto versagt, als würde ihre Welt der spie­le­ri­schen Fiktion, der Blicke und Fremd­zu­schrei­bungen zwangs­weise an der echten Welt scheitern. Wie authen­tisch solche wiederum geformten Bilder einer Realität als Ausgleich erscheinen können, ist ein Streit­punkt, den Eureka nicht auflösen, aber zur Diskus­sion stellen kann.

Über­le­gungen, die in der Anthro­po­logie bereits im 20. Jahr­hun­dert im Zuge der Writing Culture-Debatte geführt wurden, die sich kritisch mit dem angeblich objek­tiven Studieren, dem Be- und Fest­schreiben und Inter­pre­tieren von Kulturen aus gewissen Perspek­tiven heraus befasste, also auch Fragen der Exoti­sie­rung und des Otherings provo­zierte, hallen in Alonsos Film spürbar nach. Wo er etablierte ethno­gra­phi­sche Bilder von Indigenen an verschie­densten ameri­ka­ni­schen Orten über Jahr­hun­derte hinweg repro­du­ziert oder aufbricht und neu justiert, bleibt das Spiel aus nahen und distan­zierten, subjek­ti­vierten und objek­ti­vierten Blicken ein schier undurch­dring­bares Konflikt­feld. Und es wird noch kompli­zierter, wenn sich Eureka endgültig der mysti­schen, eksta­ti­schen Erfahrung zuwendet.

Vom Reservat in den Urwald

Die Prot­ago­nistin Sadie, eine Basket­ball­trai­nerin, in der zweiten Episode einge­führt, wird ihren Verstand entfes­seln. Ein Zauber­trank verwan­delt sie in einen Vogel, der sich auf die Reise in den Regenwald begibt, wo sich dort lebende Menschen Träume erzählen. Eine Ausbruchs­fan­tasie? Eine Utopie? Nur bedingt. Einklang mit der Natur? Noch so eine Illusion. Poli­ti­sche Konflikte schwelen medial vermit­telt im Hinter­grund, Gewalt wird geschehen. Wo in der einen Episode eine Messer­ste­cherei verhin­dert werden soll, wird sie an anderer Stelle brutal vollzogen. Fiebrige Unter­gangs­stim­mung liegt hin und wieder in der Luft. Still­stand erfährt eine weitere Dimension. Im plät­schernden Wasser schwimmt derweil eine Pepsi-Dose: Spuren der indus­tri­ellen Konsum­welt in der Natur.

Lisandro Alonso beweist Klasse in der beiläu­figen Instal­la­tion solcher Zeichen, in der Größe der Reso­nanz­räume und gedank­li­chen Schwin­gungen, die solche Bilder eröffnen und anstoßen, auch wenn sie kaum erhel­lende Erklärungen innerhalb des Films erfahren. Sich diesen Eindrü­cken und Szenen kritisch zu nähern, steht vor einer Schwie­rig­keit, weil sie so subtil mit ausge­legten Quer­ver­weisen arbeiten oder besser: sie überhaupt zu suchen beginnen. Alles in Eureka strebt ins Offene und Unein­deu­tige. Selbst seine zentralen Fragen müssen zunächst einmal aus all den Erkun­dungen, Gegenü­ber­stel­lungen und Orts­be­ge­hungen heraus­ge­schält werden.

Wo Sadie mit ihrer Verwand­lung unum­kehrbar einen neuen Bewusst­seins- und Körper­zu­stand erlangt, verharrt der Film in der Schwebe, in einer Zone, die die Wahr­neh­mung für allerlei mögliche einströ­mende Asso­zia­tionen und Eindrücke öffnet, denen sich dieses lustvoll ab- und umher­schwei­fende Expe­ri­ment hingibt.

Von der Verwand­lung zur Entfes­se­lung

Als »liminal« beschrieb der Ethnologe Victor Turner jene Schwel­len­phasen in Ritualen, in denen Menschen, sind sie von der gewohnten Ordnung erst einmal losgelöst, weder dem einen noch dem anderen Zustand, sondern einem unein­deu­tigen Dazwi­schen angehören. Lisandro Alonsos Film begibt sich auf eine solche Schwelle, indem er die Wahr­neh­mung von Zeit ausstellt, indem er mit der Länge von Einstel­lungen spielt, sie zerdehnt, ihr Vergehen oder erlebtes Gefrieren erfahren lässt.

Indem er deren Übergänge unserer Alltags­logik entkop­pelt, sich die Kamera vermeint­lich immer und überall hinbe­geben kann, in mythische Räume eindringt, Vergan­gen­heit und Gegenwart inein­an­der­fließen lässt, Ereig­nisse ihrer simplen Erklär­bar­keit und Kausa­lität entzieht. Wenn hier von Zeit­lo­sig­keit die Rede sein soll, muss zunächst geklärt werden, was Zeit überhaupt bedeutet, auch in einem filmi­schen Sinne. Eureka ist ein mühsamer, zäher, aber ebenso berau­schender, magisch flir­render Film, der produk­tives Kopf­zer­bre­chen bereitet, weil er den Prozess der Sinn­stif­tung und Auslegung, des Zusam­men­set­zens der Einzel­teile so offensiv in seiner ganzen Unab­schließ­bar­keit trans­pa­rent macht.

Neue Geschichte(n)

Am ästhe­ti­schen Eigenwert und Eigensinn können derweil kaum Zweifel bestehen, so verfüh­re­risch, wie Eureka die Bewegung der vorü­ber­zie­henden Land­straße in dahin­fließendes Gewässer, die Dunkel­heit der Nacht in das Tages­licht, das expres­sive elek­tri­sche Licht in das der Sonne, Fiktives in Eindrücke des Doku­men­ta­ri­schen überführt und umgekehrt, Mythi­sches, Märchen­haftes und desil­lu­sio­nie­rend Realis­ti­sches in wech­selnden Bild­for­maten und Erzähl­modi vernetzt.

So nach­denk­lich, unsicher, surreal diese Erkun­dungen indigener Lebens­rea­li­täten in Nord- und Süda­me­rika nach dem Gemein­samen forschen: in Erfah­rungen der Gewalt, der Kämpfe und Unter­drü­ckung, der reli­giösen Praktiken und Suche nach Sinn und Träumen, dem Verhältnis zur (mensch­li­chen) Natur – so konfron­tativ kolli­dieren sie mit ihrer Entste­hung aus den zerlegten Formeln und Techniken filmi­scher Kunst. So puzzle­artig sich ihr Gewebe auf der Leinwand zusam­men­setzt, so wenig Einigkeit und Einheit will und muss selbiges ergeben, so wenig bean­sprucht es Allge­mein­gül­tig­keit oder Homo­ge­nität.

Wenn der ganz und gar wunder­same Eureka eines über Geschichts­schrei­bung und künst­le­ri­sche Reprä­sen­ta­tion margi­na­li­sierter Perspek­tiven und Welten lehrt, dann ist es das geschärfte Bewusst­sein für die Leer­stellen in den Über­gangs­zonen und Passagen zwischen dem schon Geschrie­benen und dem noch zu Schrei­benden, die Unauf­lös­bar­keit ihrer Diskre­panzen, Fremdheit und Entfer­nungen, die nach neuen erzäh­le­ri­schen, non-linearen Formen des filmi­schen Nach­den­kens und Beob­ach­tens verlangen. Lisandro Alonso präsen­tiert eine Ahnung und Annähe­rung, wie ein solches neues, offen fabu­lie­rendes, neugierig umher­rei­sendes und träu­mendes Kino aussehen könnte. Der Vogel in der letzten Einstel­lung schaut nur kurz vorbei. Er muss weiter­ziehen.

Wandern durch Amerika, Reisen durch das Kino

Das zweieinhalbstündige Monumentalwerk Eureka erzählt von der großen Hoffnungslosigkeit, einem Verlorensein in der Welt – und der darin verborgenen unauslöschlichen Schönheit

Der Argen­ti­nier Lisandro Alonso hat einen neuen Film gedreht. Im Grunde wurden es sogar drei, die er nun in Eureka zu einem ellip­ti­schen Bilder­reigen zusam­men­setzt.
Sich dabei auf die Handlung zu fokus­sieren wirkt wie ein nahezu unmög­li­ches Unter­fangen, der Aufbau des Films arbeitet regel­recht dagegen, ein striktes Narrativ erkennbar zu machen.

Doch von Anfang an: Eureka beginnt als Western in Schwarz­weiß, der einen abge­half­terten Viggo Mortensen auf der Suche nach seiner Tochter zeigt. Das ist traumhaft gefilmt und gespielt, wirkt dabei anek­do­tisch und formel­haft. Diese Vertraut­heit hat Methode, schnell wird klar, dass es sich um einen Film im Film handelt, der zum zweiten Teil des in drei Säulen geteilten Werks führt.

Der Western wird auf einem Fernseher deutlich, die Kamera zoomt von ihm weg und wir verlassen Morten­sens Helden­reise, finden uns im Haupt­stück von Eureka wieder, das die Poli­zei­be­amte Alaina zeigt, die in South Dakotas nächt­li­chen Straßen patrouil­liert. Ihre Tochter gibt Basket­ball­stunden, eine der wenigen Beschäf­ti­gungen, die bleiben in diesem toten Land­strich, der von erschla­gender Hoff­nungs­lo­sig­keit geprägt ist. Die Haupt­dar­steller sind Drogen­süch­tige und Trinker, die Kulisse besteht aus Nich­torten.
Alles wirkt arti­fi­ziell, die verkom­menen Häuser der Bewohner, die wie Baracken anmuten, die nahezu über­mensch­li­chen Casinos, die zum wirt­schaft­li­chen Frei­zeit­zen­trum dieses Orts wurden, Gefäng­nisse, Sport­hallen; es sind Räume der Öffent­lich­keit, die nichts Privates mehr erlauben, den mentalen Zustand der Anwohner nicht nur wider­spie­geln, sondern bereits durch ihr Dasein deter­mi­nieren.

Ein leichtes Leben bleibt hier ebenso aus wie ein aufre­gendes, der Alltag eine ewig vor sich hinlau­fende, lethar­gi­sche Agonie. Wie im einge­blen­deten Western wird es zum Todes­kampf kommen, Alaina die Nacht nicht überleben. Anders als in Morten­sens Abenteuer gibt es aber keine groß ange­legten Shootouts, keine Ästhe­ti­sie­rung des Schre­ckens im Sinne von raschen Bewe­gungen, schnell gezogenen Colts oder sonstigen schon längst heroi­sierten Abläufen des Westerns. Die Kamera ist statisch, beob­achtet schlicht, was passiert – und das ist nicht viel.

Eine ruhige, regel­recht phäno­me­no­lo­gi­sche Betrach­tung Amerikas ist die Folge, die Neon­lichter und das Blau-Rot der Poli­zei­lampen durch­zieht diesen Mittel­teil, selten erschien die USA so hilflos, so absolut leer und trostlos.

Es ist nur passend, dass Alainas Tochter – Sadie – vom Tod ihrer Mutter über einen Poli­zei­funk erfährt. Die Beam­ten­nummer der Mutter wird immer wieder aufge­rufen, es folgt keine Antwort.

Keine Menschen sterben mehr in diesen kalten USA, nur Nummern verschwinden aus den unend­li­chen Infor­ma­ti­ons­strömen, ein Faktor, eine Stelle, eine Funktion, die dieses im Sterben begrif­fene System noch am Laufen hält, fällt aus und verschwindet für immer. Im Schnee, in der Nacht, wahr­schein­lich aber in irgend­einem Hinter­zimmer eines Casinos.

Nach diesem langen Mittel­teil – wohl das beste, das sich dieses Jahr im Kino sehen lässt – wechselt der Film erneut sein Narrativ und sein Tempo. Hier wird es psyche­de­lisch, Sadie tritt nun eine drogen­in­du­zierte Reise an, die sie nach Süda­me­rika in den Dschungel verschlägt. Dort lebt sie mit Einge­bo­renen, hört ihnen zu, wie sie von ihren Träumen berichten.

Regisseur Alonso nimmt dies als Aufhänger, um eine neue – nun die dritte – Haupt­figur einzu­führen, der wir fortan durch den Dschungel folgen, an Gold­su­chern vorbei.

Auch dieser finale Teil ist schier atem­be­rau­bend schön foto­gra­fiert, erneut bleibt eine Handlung außen vor, wird höchstens skizziert. Das stört nicht weiter, eine Drama­turgie würde diesen Film nur entzau­bern, ihm Gewicht nehmen. Zuge­ge­be­ner­maßen wird es hier recht anstren­gend, das Tempo des Films steht zu diesem Zeitpunkt bereits völlig still, ergeht sich in seiner Lang­sam­keit. Dennoch verändert sich durch das neue Narrativ die gesamte Auslegung des Films.

Ob dieser letzte Kunst­griff nötig gewesen wäre, ob er wirklich eine neue Art des Erzählens offenbart, ist streitbar. Es passt dennoch, ist derart gut insze­niert und (erneut) foto­gra­fiert, dass man ihn keines­wegs missen möchte. Zudem verändert er die Erfahrung des Mittel­teils, verstärkt dessen Wirkung noch mal immens.

Es sind also drei Geschichten über das Scheitern geworden; Scheitern an der Welt, an der Gesell­schaft, am Kapital. Auswege zeigt Alonso keine auf, selbst die psyche­de­li­sche Verwand­lung kann nichts verändern, die, die es könnten, werden nicht erhört.